Dass Du Wagner kaum kennst, war klar ...
Quod non est negatum, demonstrare non est necesse.
Ich habe mich übrigens dazu entschlossen, nach der Beendigung des ersten Bandes der Insel-Ausgabe, erstmal eine Sue-Pause einzulegen.
Wenn du mit ungelösten Rätseln, offenen Spannungsbögen und im Sande verlaufenden Handlungssträngen leben kannst ... Um 1840 schob man bekanntlich das Sterben auf, um zu erfahren, wie es weiterging. :breitgrins:
Glückwunsch an die, die es geschafft haben! Eure Fazits (korrekter Plural?) habe ich mit Interesse gelesen. Auch ich bin nach längerer Pause und anderer Lektüre jetzt fertig.
@ Lost: Ja, das Kapitel Vorbereitung ( XIV, 7) , im Original treffender und sarkastischer La Toilette betitelt - man wird fein gemacht für die Hinrichtung - , ist auch für mich eines der besten Kapitel, wenn nicht das beste des ganzen Romans: Eine wirklich beklemmende Schilderung, mit der Sue die Ungeheuerlichkeit der Todesstrafe veranschaulicht. Interessant, dass er in dieser Szene erstmalig(?) einer handelnden Person in den Mund legt, was er sonst in langatmigen theoretischen Abhandlungen auswalzt: Die Witwe Martial lehnt geistlichen Beistand und Reue ab mit den Worten: Seit dreißig Jahren lebe ich im Verbrechen und um diese dreißig Jahre zu bereuen, gibt man mir drei Tage - und dann den Tod. Habe ich denn die Zeit dazu...?
Das Ende ist wirklich schrecklich! So ein Courts-Mahler- Geschreibsel muss ich wirklich nicht haben! Und dann Rudolf, der gnädigste Herr, der über allem schwebt. Und als Sahnehäubchen obendrauf wird nun Marienblume doch noch zur Märtyrerin ihres Lebens. Oh Mann ...!
So empfinde ich das auch. Der mit Epilog betitelte letzte Teil ist eine unsägliche Schnulze! Plötzlich und ohne Not verfällt Sue auf die Idee, das ganze in Briefroman-Form fortzusetzen. Dabei bleibt er seiner Unsitte der endlosen Wiedergabe in wörtlicher Rede treu. Im (fingierten) Brief mutet das noch absurder an. Sue scheint seine Leser in diesem letzten Teil nach den Streifzügen durch die düstere Großstadtwelt mit einer feudalen und klerikalen Heile-Welt- Schmonzette belohnen zu wollen.
Kurios, was da als deutsch transportiert wird: Abgesehen von den seltsamen, vielleicht für französische Ohren deutsch klingenden Namen (Sainte Hermengilde, den Namen des Klosters, konnte ich nur als Vorort von Montreal ergoogeln) - gibt es literarische Anspielungen auf Schiller, seinen Don Carlos, bei Hofe spielt Franz Liszt auf und lässt Herzen schmelzen ... Der Abstecher in den Brief-Roman für die Episode in Deutschland kommt mir wie eine Anlehnung oder Hommage an Goethes Werther vor. Auch der für Sue untypisch lakonische Schlusssatz scheint darauf hinzudeuten.
Eine Frage, die sich mir bei der Lektüre immer wieder aufdrängte, war: Warum scheitert Sue hier auf der ganzen Linie ...
Scheitert?
Scheitern setzt ein Ziel voraus, das man sich steckt und dann eben nicht erreicht. Sues Ziele waren: Missstände anzuprangern, seine Botschaft an den Mann zu bringen , den Leser zu unterhalten, zu fesseln und bei der Stange zu halten, den Bedürfnissen seiner Leser nach Illusion, Sensation, Kompensation, gekrönten Häuptern, Gerechtigkeit now usw. zu entsprechen ... Und er hat diese Ziele erreicht - mit fulminanten Erfolg!
Was Sue sympathisch macht: Er sieht dieses künsterlische Scheitern nicht nur, er spricht es sogar aus:
Wenn dieses Werk, das wir gern und ohne Bedenken in künstlerischer Hinsicht als ein schlechtes Buch gelten lassen können, das wir aber in moralischer Hinsicht durchaus für ein gutes Buch betrachten, wenn dieses Werk in seiner kurzlebigen Laufbahn den von uns beschriebenen und gewünschten Anklang findet, so würden wir uns geehrt fühlen. [VIII, 12]
Diese selbstreferentielle Äußerung, die jetzt übrigens zum fünften Mal in diesem thread zitiert wird, nehme ich - anders als du - nicht für bare Münze. Genau wie die Geheimnisse kein kurzlebiges Werk sind, handelt es sich hier imho nicht - wie es den Anschein hat - um einen künstlerischen Offenbarungseid, sondern um einen mehr oder weniger raffinierten Bescheidenheitstopos, der Widerspruch im Leser hervorrufen soll. Ja, es ist fishing for compliments. Denn ich glaube Sue nicht, dass es ihm nur um die Moral geht. Ebenso wenig, dass ihm der künstlerische Ehrgeiz abgeht. Sue, der vom Abenteuerroman herkommt, will auch als Erzähler reüssieren und das gelingt ihm ja auch. Er weiß, wegen der sozialpädagogischen Sermone reißen ihm die Leser die Fortsetzungen nicht aus der Hand!
Das einzige Geheimnis, das nach Beendigung des Romans nicht gelüftet ist, ist das seines Erfolgs - bis heute.