Beiträge von Lost

    Muss jetzt zwischendurch etwas anderes lesen bevor ich die zweite Hälfte angehe.


    Seit einigen Tagen lese ich zunächst ein Kapitel aus Kafka: Der Prozess, um mich dann aufgeheitert Sues Endzeitdrama zu widmen.
    Es sind nur noch ca. 200 Seiten :smile:


    Wie früh zu vermuten war, bindet Sue seine ganzen Handlungsfäden zu einem einzigen Knoten zusammen und hackt dann mit stumpfen Schwert und gewaltigen Hieben darauf herum. Dies Methode erregt ja schon lange Bewunderung. :breitgrins:

    Also ich finde schon, dass Sue Karl May in die Tasche steckt ...


    Muss man auch hier Medaillen vergeben?


    Ich finde nicht.


    Die Unterschiede zwischen den Geschichten, die beide konstruiert haben sind zu vielfältig, die Gemeinsamkeiten stecken im Formalen. May führt uns in Traumwelten, Sue zeigt uns sein Bild der Realität. May führt uns in eine Welt, in der Gewalt und Edelmut noch nicht geschieden sind, Sue zeigt uns, wie Recht und Gerechtigkeit unerschiedlich funktioniert, wenn überhaupt. May erlaubt uns allen den Traum vom menschlichen Heldentum, bei Sue muss man schon Aristokrat sein.
    Was höheres Gewicht hat, hängt von Ansprüchen und den Wünschen von uns Leser, von jedem slebst ab.


    Vor ein paar Jahren hatte ich mich nochmals an Winnetou II, in meiner Kindheit das Lieblingsbuch, versucht, ich habe nach ein paar Seiten abgebrochen; zuviel Wissen über die Fakten, das Leben und die Leseerfahrung machten mir es unmöglich den Zauber, der von May geschaffenen Welt, zu erleben. Bei Dickens, Balzac und Sue gibt es keine Traumwelt, keinen Zauber, sie lassen jedoch den Raum für Reflexionen zu unserer Geschichte. Sue ist der brutalste, der humorloseste und der platteste Schreiber in diesem Umfeld, aber es gibt ja noch Paris. :zwinker:

    Oh mein Gott .... :rollen: Und ich bin erst ungefähr dort, wo auch Maja ist:



    Karl May, der ja noch unsäglicher und unwahrscheinlicher konstruiert, und dessen Figuren psychologisch auch absolut unrealistisch und oft von bigotter Frömmigkeit sind, schafft es doch, mich zu fesseln und an die Geschichte zu binden. Sue hingegen liefert vielleicht sogar realistischere Figuren - und dennoch werde ich mit dem Ganzen nicht warm. :schnarch:


    Halte Durch! Der Affe und die goldne Fliege im Teil 13 werden dir schon einheizen :breitgrins:


    Ich bekomme langsam eine Lesedepression, aber es sind nur noch ca. 15%, und dann gehe ich in eine Rehabibliothek :zwinker:

    Die Bezeichnung "Übersetzung" für Kaisers Version scheint einen ganz einfachen Hintergrund zu haben. Wenn mein Gesprächstpartner, der bei einer Lesung anwesend war, gut zugehört hat, dann bezog sich Kaiser auf die gebrächlichen "Übersetzungsübungen aus dem Mittelhochdeutschen", die in den ersten Germanistiksemestern angeboten werden. Ich selbst habe keine Ahnung, ob das so ist. Eine besondere Schwierigkeit für den "Übersetzer waren die Entscheidungen, welche Wörter man aus dem MHD übernimmt und welche nicht. Wie die Diskussion hier zeigt, kannn man da unterschiedlicher Meinung, ohne gleich ein Stutzer und Lackaffe zu sein. :zwinker:


    "Lackaffe" hätte ich eigentlich mit der Einführung des Automobils in Zusammenhang gebracht.

    Was immerhin impliziert, dass es eine innere Logik gibt :breitgrins:


    CK



    Es mag naiv sein, aber ich verneige mich vor diesem Schriftsteller, der seine ausufernde Menagerie so gut zusammenhält, ohne die Möglichkeit zu haben seine Zettelkästen in Ruhe zu sortieren. Sein Steuerberater hatte es bestimmt leicht mit ihm. :zwinker:


    Ausnahmen!?:


    Sandhofer wies schon auf Murph hin. Diesen Hatschi Alef Omar, oder Dr. Watson, oder Sam Hawkins, wenn ich mich nicht irre, vernachlässigt er leider, so wie er David zwar dramatisch einführt, dann aber nur seine Wunder ganz nebenbei vollbringen lässt.
    Xenophanes fiel Hinkebein auf. Diese Figur erinnert mich an ein ausgegrenztes, verwahrlostes Mädchen (Name vergessen) im Roman "Die vierzig Tage des Musa Dagh" von Franz Werfel. Dieses arme Ding hat mir bei der Lektüre schwer zugesetzt, und an dem Vergleich mit Sues Schilderung von Hinkebein lässt sich der Unterschied zwischen literarischer Kunst und Handwerk gut erkennen.


    Was ich befürchtet habe ist eingetreten. Die Phrenologie muss auch dazu herhalten Verbrecher von Bankdirektoren zu unterscheiden :zwinker: (Bevor ich zurechtgewiesen werde, der Vergleich ist auf einen Spruch von Brecht bezogen)

    « Au lieu de se jeter violemment sur sa proie, et de ne songer, comme ses pareilles, qu’à anéantir une vie et une fortune de plus, Cecily, attachant sur ses victimes son regard magnétique, commençait par les attirer peu à peu dans le tourbillon embrasé qui semblai émaner d’elle ; puis, les voyant alors pantelantes, éperdues, souffrant les tortures d’un désir inassouvi, elle se plaisait, par un raffinement de coquetterie féroce, à prolonger leur délire ardent ; puis, en revenant à son premier instinct, elle les dévorait dans ses 4embrasements homicides. » [VII, 13]


    Das ist im Französischen auch ein ganzer Satz mit 2 x Semikolon, sowie ein ganzer Paragraph, und, ja, er ist ‚indigeste‘ (total unverdaulich).


    Danke für deine Mühe. :winken:


    Es ist ganz nett einen Roman zu lesen, der ohne Chiffren auskommt, aber nach nun fast 1500 Seiten merke ich, dass ich etwas müde werde und den Text mehr und mehr abarbeite. Die Geschichte nimmt ab und zu Fahrt auf, Sue bleibt aber auch oft in belehrenden Betrachtungen hängen. Für das Publikum im Paris seiner Zeit war es bestimmt eine Menge politischer Diskussionsstoff, aus der Gegenwart heraus wirken Sues Konzepte jedoch abgedroschen, und ich muss mir viel Mühe geben, um der inneren Logik zu folgen.

    Den Messerstecher habe ich, im Gegensatz zu anderen Teilnehmern an der Leserunde, nie als ein Werkzeug Rudolfs gesehen. Cecily allerdings, macht Sue zu einem reinen "Gebrauchsgegenstand", wenn auch in der aufregenden Rolle der femme fatale. Mir erscheint überhaupt, dass Sue bei den Frauen seine Charakterstudien in der extremsten Form betreibt.

    "Statt sich gewaltsam auf ihre Beute zu stürzen und, wie sonst die Frauen ihrer Art, nur daran zu denken, möglichst rasch ein Leben und ein Vermögen zu zerrütten und zu vernichten, begann Cecily damit, daß sie ihren magnetischen Blick auf ihre Opfer richtete und sie dann allmählich in den glühenden Wirbel zog, der von ihr auszuströmen schien, und erst wenn sie sah, daß sie sich wanden und unter den Qualen einer unerfüllten Begierde stöhnten, gefiel sie sich darin, ihren glühenden Wahn durch die raffiniertesten Betörungskünste bis zum Äußersten zu treiben, bevor sie zu ihrem ursprünglichen Instinkt zurückkehrte und sie in ihren mörderischen Umarmungen verschlang." [XI,10]


    Jeder soll wissen, worauf er sich einlässt wenn er weiterliest. :winken:


    Ist das in der Originalsprache auf so ein langer Satz?


    Bin bei I.18 (Die Strafe). Sue ist also ein Verfechter der Selbstjustiz. So lang und breit, wie Rudolf die Strafe auswalzt, und dabei ist er frei von Rachegefühlen. :vogelzeigen: In meinen Augen ist Selbstjustiz eine Form von Rache.


    Bestimmt wäre es interessant zu wissen, wie damals die Gerichte entschieden hätte, wenn der Schulmeister Rudolph verklagt hätte. Wenigstens in Eheangelegenheiten war, so weit ich weiß, Selbstjustiz noch geduldet. Da wirst du auch noch etwas davon lesen.

    Gestern habe ich mit dem zweiten Band der Insel- Ausgabe angefangen. Damit es nicht wieder so schnell geht, werde ich ihn parallel mit einem anderen Buch lesen. Die Figuren sind weiter entweder mit der Kettensäge geschnitzt oder aus Zuckerguss geformt.
    Die letzten Seiten habe ich auch kurz überflogen. Wette verloren :grmpf:

    "Wenn dieses Werk, das wir gern und ohne Bedenken in künstlerischer Hinsicht als ein schlechtes Buch gelten lassen können, das wir aber in moralischer Hinsicht durchaus für ein gutes Buch betrachten, wenn dieses Werk in seiner kurzlebigen Laufbahn den von uns beschriebenen und gewünschten Ausklang findet, so würden wir uns sehr geehrt fühlen."


    Sue im 12. Kapitel des 7. Teils.

    Ja. Sue ist 19. Jahrhundert. Auf uns wirkt vieles von damals zynisch und/oder riecht nach Doppelmoral. Ich möchte nicht wissen, was das 23. Jahrhundert über uns sagen wird ...


    Als Mensch des 20. Jahrhunderts muss ich nicht so lange warten bis der Steinhagel über mich kommt :sauer:





    Danke für deine Erläuterungen.


    Wenn ich es richtig verstehe, lautet deine Argumentation verkürzt:


    Rassismus ist Voraussetzung für Kolonialismus, Sue unterstützt den Kolonialismus, somit ist er Rassist.


    Da ich nicht wieder in meiner Streitlust ein Nebenthema aufmachen will (mittlerweile habe ich auch erfahren, wie schnell man in ein Duell verwickelt wird ;-) ), möchte ich nur sagen, dass aus meiner Sicht deine erste Voraussetzung nicht stimmt und zurück auf den Romaninhalt kommen. Einer rassistischen Einstellung Sues widerspricht seine Schilderung von David, dem schwarzen Arzt, deutlich.
    Auch ich nehme an, dass Sue ein Vertreter der kolonialen Mission Frankreichs war. In seinem Roman kommt das aber bis jetzt, da ich den ersten Band gelesen habe, nur in dem kurzen Aspekt von der "Abschiebung" unseres Messerstechers vor. Wundern würde es mich übrigens auch nicht, wenn T. im zweiten Band wieder auf die europäische Bühne zurückkehrt.


    Bei Sue scheint mir die Aufgabe am Atlas als Wehrbauer zu leben, eher als Verteidigung des rechten Glaubens gedacht, als ein Kampf gegen eine niedere Rasse.
    Auch die Prüfungen, die Sue dem Verbrecher stellt sind m. E. kein Spiel, sondern ich könnte mir denken eine Dramatisierung katholischer Riten zur Läuterung. Gläubigkeit spielt im Hintergrund und in Sues Vorstellungen von einer gerechten Gesellschaft eine große Rolle. Gut und Böse stehen im Vordergrund, nicht Recht und Unrecht.


    Wenn ich mich richtig entsinne, hat sich T. ein Mal als die Bulldogge Rudolfs bezeichnet, etwas, was Marx in "Die heilige Familie" dann zu einem "hündischen Charakter" umstilisiert,


    "Dieser hündischen Äußerung, welche den ganzem kritischen Lebenslauf Chourineurs in ein Epigramm zusammenfaßt,..." [ Marx, Engels, D.h.F. Kap VIII ]



    und das halte ich eher für zutreffend, als die Einordnung T. als Spielzeug Rudolfs.

    Fazit: Das ganze ist eigentlich unsäglicher Mist! Sue entlarvt sich hier als Zyniker, Doppelmoralist, Rassist.


    Lieber Gontscharow, das müsstest du schon erläutert. Ich sehe nirgendwo entsprechende Positionen Sues. Im Roman deutet er an verschiedenen Stellen Zusammenhänge zwischen Physiognomie und Charakter an, das war aber damals in der Wissenschaft verbreitet und wir können es ihm nicht persönlich vorwerfen. Mir erscheint es eher so, dass er eigenen philanthropische Neigungen auf Rudolph projiziert. Sue sehe ich mehr als naiven Menschenfreund, denn als Zyniker. Je weiter er in seiner Geschichte kommt, um so mehr entwickelt und erörtert er praktische Ratschläge für eine "gerechte Gesellschaft" Es gibt Passagen, in denen er quasi den Lehrstücken Brechts vorgreift und seine Vorstellungen durch seine Figuren vorspielen lässt.


    Oder sie findet sich am Ende als Rudolfs Gattin wieder.




    Was macht dich so sicher? Spätestens ab Ende des ersten Teils ahnt der Leser, was es mit Marie und Rudolf auf sich hat, etwas später wird es explizit gesagt. Aber unsere beiden Protagonisten sind ahnungslos! Jedenfalls bis VIII,9 - soweit bin ich jetzt - und Marie scheint in Rudolf verliebt....
    Ein kleiner Inzest ist also noch drin. :entsetzt:


    Ich vermute aber eher, dass sandhofers Version sich durchsetzen wird. Das passt besser zur Bigotterie des Romans.
    [/quote]



    Ich bin etwas weiter als ihr, aber lange nicht sicher. Unser Rudolf tut so was aber nicht, selbst wenn er nicht weiß was er tut. Da sollte das Unbewusste siegen. Außerdem ist Sue ein bedingungsloser Moralist :winken:


    go on folk


    Die nächsten Tage bin ich im off, d.h. in England.