Beiträge von Lost


    Ich habe allerdings keine sozialistische Kampfschrift à la Engels "Die Lage der arbeitenden Klasse in England" erwartet, dazu ist Dickens die Personenbeschreibung fast immer wichtiger als die Zustandsbeschreibung, so nehme ich es jedenfalls in den von mir bisher gelesenen Romanen wahr. Dickens empört sich schon sehr gegen die menschen- und umweltverachtende Art, in der die ausschließlich gewinnorientierte Industrialisierung vorangetrieben wird, aber der Mensch oder Menschentyp als Verursacher ist ihm - so scheint es mir - immer wichtiger als die Darstellung der Verhältnisse.


    Das ist richtig und ich denke, dass er sich auch hier nicht von seinem Konzept abbringen lässt. Im Vergleich zu Zola, der ja überwiegend den Einfluss der Umwelt auf die Personen zeigt und das eher exemplarisch, beschäftigt sich Dickens mit den Beziehungen der Personen untereinander. Auch wenn er seine Figuren mitunter sehr ausreizt, z.T. ist das für mich auch zuviel, so bei der Frau von Blackpool. Für mich ist dieser Vergleich sehr interessant.


    Von dem konservativen Dickens hatte ich auch keinen dokumentarischen Bericht erwartet und auch keinen blanken Realismus (wir wollen doch auch nicht, dass unseren Freund Sir Thomas der Schlag trifft, wenn sich der Fabulierer Dickens als Vorläufer von Zola zeigen würde). Gehofft hatte ich allerdings, dass die spezifischen Beziehungen seiner Figuren, den neuen Charakter der Industriegesellschaft ausdrücken. Nun gab es den Utilitarismus schon vor dem ersten Maschinenwebstuhl und der ersten Wattschen Dampfmaschine. Selbst die Fabrikarbeit bleibt außen vor, wo er sonst in seinen Romanen so detailiert schildert, wenn es um Schule und Erziehung und um die Unterwelt geht. So bleibt es auch in "Harte Zeiten" bei dem, was sich mit wenigen Ausnahmen, durch die ganze Literaturgeschichte zieht: die einzige geschilderte, wertschöpfende Arbeit machen die Frauen.

    Von mir ein Willkommen.


    Ich freue mich über jeden Wilden, der sich uns anschließt um durch die heiligen und zivilisierten Hallen der klassischen Werke zu stöbern. Es wäre schön, wenn wir uns demnächst vielleicht bei einer Leserunde begegnen würden.


    Bis dann


    Wolfgang


    Noch zu den Feenpalästen: Ich denke, auch noch in den 50er Jahren des vorletzten Jahrhunderts war es noch nicht völlig gewöhnlich, riesige, gasbeleuchtete Gebäude in der Dunkelheit zu sehen. Zwar gab es Gaslampen seit dem Ende des 18. Jahrhunderts, die Londoner hatten seit 1811 eine Gas-Straßenbeleuchtung, aber diese großen hell leuchtenden Hallen, die sich gleichzeitig noch entrückend in die Nebel ihrer Abgase hüllten, müssen für die zeitgenössischen Bevölkerung schon besonders gewirkt haben.
    Außerdem holt Dickens hier wieder einen Kontrast raus zu dem Inneren dieser Zauberpaläste.


    Das halte ich für wichtige Hinweise. Gegenwärtig erleben wir Mitteleuropäer nur Dunkelheit, wenn wir in ferne Länder, in die Wüste und aufs Meer reisen. Damals muss Licht in der Nacht, in dieser Fülle tatsächlich etwas Besonderes gewesen sein.


    Den Roman habe ich zu Ende gelesen. Für mich ist er nicht der interessanteste Dickens, er wirkt in seiner Konstruktion vertraut, und Dickens scheut sich ins Detail dort zu gehen, wo sich das Neue einer Industriestadt zeigt. So ist er, wie ein vertrautes Schauspiel in neuer Kulisse.

    [quote='sandhofer','http://klassikerforum.de/forum/index.php?thread/&postID=53826#post53826']
    Karton N° 2 ist im übrigen jetzt entfernt. Der Schuber ... nun ja ... zu dünn und zu gross. Da ist links und rechts noch jede Menge Luft drin. Das einzig Positive ist wirklich das Bild. Wirklich gute Schuber habe ich bis jetzt nur bei der Folio Society gesehen; die einzigen, die ich dran lasse. Mal kucken, was ich mit dem hier mache. :winken:


    [quote]


    Gratulation. Die Folie schaffst du auch noch :breitgrins:


    Zu dünn ist der Schuber, aber sind nicht enge Schuber eher unangenehm? Bis sich da ein Buch herausquälen lässt...


    Gut gelöst ist es für die Beneke-Tagebücher, ein aufgefütterter Schuber.

    Eine schöne Vorstellung ... :breitgrins:
    Ich hatte sofort eine Stimme mit dem bekannten Akzent im Ohr "Mich interessiert nicht, ob der Schuber grün oder blau ist, der Roman darin taugt nichts!" Oder so ähnlich ...


    Ja, ich habe mich auch schon über mich gewundert. Über irgendwelche Kartons habe ich mich wohl noch nie ausgetauscht. :breitgrins:


    Gruß, Gina


    Nur keine Rechtfertigung. BigBen hatte hier auch schon Mal sein Schuberproblem erörtern lassen.


    So so, da hat sich also Arno Schmidt von Dickens inspirieren lassen. Hat Schmidt vielleicht auch Dickens ein Essay oder eine Radiosendung gewidmet?


    Mit kommen manche Stellen, besonders wenn es um Bounderbys Hausdame geht so vor, als hätte sich Dickens bei Wodehouse bedient. Das Problem mit der Kausalität mal außen vor.

    Ihr merkt mal wieder, mehr und mehr mausere ich mich zu einem Dickens-Fan, allerdings vor allem des späteren Dickens. So einen haben wir bei uns leider nicht.Und da verzeihe ich ihm gerne seine sentimentalen Anfälle, an der unsere Literatur ja auch durchaus reich ist, und die wir z.B. bei Jean Paul immer großzügig überlesen.


    Es ist auch bewunderswert, wie Dickens in diesem Roman bisher eben auch ohne diese Verkitschung auskommt. Aus Cilchens /Cecilias Abschied von der Kunstreitertruppe hätte der frühe Dickens wahrscheinlich eine dicke Weinschaumcreme gemacht, dem späten genügen ein paar Pinselstriche, die die ganze Hoffnungslosigkeit der Lage der Kleinen deutlich machen:


    Genau finsbury. Im Vergleich zu Sue und dem,was wir heute in deutschen TV-Serien vorgesetzt bekommen, ist Dickens recht nüchtern, und was er an HerzSchmerz aufs Papier bringt, gehört zum 19.Jahrhundert wie das Korsett und die Porzelanpfeife und das Riechsalz. Eine anständige literarische Dame dieser Zeit hat ja mindestens einmal pro Woche in Ohnmacht zu fallen.

    Auch im zweiten Buch ist nichts von der Dickens'schen Fröhlichkeit zu spüren. Jedoch finde ich eine der Figuren, nämlich die Hausdame im Hause Bounderby in einem nahezu freundlichen Ton satirisch charakterisiert. Die Geschichte entwickelt sich zu einem Schicksalsroman. Die Industrialisierung ist mehr Hintergrund und wird nicht thematisiert. Irritierend ist für mich, wie Dickens ausweicht, wenn er Konflikte die über den persönlichen Bereich hinausgehen, anspricht (bisher wenigstens). So ist noch nicht erklärt warum sich die Weber in den Fabriken zusammenschließen und welche konkreten Ziele mit der Agitation verbunden sind, und denen sich Stephen Blackpool nicht anschließt. Er wird wohl zur tagischen Gestalt, der zwischen den Mühlsteinen von Herrschaft und Beherrschten zerrieben wird (und natürlich steckt ein Weib dahinter, u.a.).
    Dickens setzt hier wohl auf eine individuelle moralische Integrität und weniger auf die Bedeutung von Machtkämpfen zwischen den Klassen. Seine Position, was die Natur der Menschen betrifft, zeigt Dickens an den Kindern von Gradgrind. Trotz der streng utilitaristischen Erziehung und Bildung sind ihre "natürlichen" Anlagen stärker, wenn auch sie auch nicht die gleichen sind.


    Die Qualitäten der verschiedenen Übersetzungen interessieren mich nicht so sehr. Dickens schreibt Meineserachtens recht originelle Metaphern und sonst einen recht klaren einfachen Stil, für die sprachliche Feinheiten nicht so sehr von Bedeutung sind. Also nehme ich dazu auch keine Stellung und interessiere mich weiter zuerst für die Geschichte. Seine Figuren sind allerdings so klar umrissen, dass sie schnell durchschaubar und ihre Handlungsweisen und Rollen vorhersehbar werden.

    Im ersten Buch ist das Wesen der Industrialisierung eher aus Nebenbemerkungen ersichtlich. Da ist von den Fabriken als unbeleuchtete und beleuchte Kathedralen die Rede und es gibt ja auch diesen unwirtlichen Handlungsort Coketown.
    Mach einen kurzen Sprung in das erste Kapitel des zweiten Buchs, hier geht Dickens die Folgen der Industrialisierung in seine Zeit frontal an.

    Die Übersetzerin in meiner Reclam-Ausgabe ist Ulrike Jung-Grell, und sie hat auch Anmerkungen und ein Nachwort geschrieben.
    Dem Sprecher der Gaukler Mr. Sleary legt die Übersetzerin einen deutschen Slang über, der zu Glück das Lesen nicht merklich hemmt. Mir sagt das nicht viel, ein guter Vorleser könnte daraus aber den Figurencharkter deutlich betonen, nehme ich an.
    Im Nachwort wird betont, dass "Schwere Zeiten" eine Ausnahmestellung in Dickens Werk hat, weil hier seine Art der humorvollen Schilderung fehlt und tatsächlich finde ich in den ersten Kapitel einen bitteren Sarkasmus, in dem eine Portion Wut auf diese Kultur der reinen Nützlichkeit zu spüren ist. Was hätte wohl Dickens zu der Architektur des Bauhauses oder zu IKEA-Möbeln gesagt und was dazu, dass man auch mit klarer Linienführung Unnützes und trotzdem Fantasieloses erzeugen kann? Moderne Zeiten: Fakten, Fakten, Fakten und Dickens stellt diesem Credo die natürlichen Bedürfnisse der Kinder entgegen entgegen, und so möge uns auch etwas von den Resten unserer kindlichen Fantasiewelt durch den Roman führen.