Charles Dickens: Harte/Schwere Zeiten

  • Ich komme zu I, 10.


    Ein bißchen vermisse ich schon die Thematisierung der Industrialisierung. Dickens geht es bisher mehr um das Gemüt als um die Einflüsse von außen. Meines Erachtens hätten sich Bounderby und Co auch ohne die technischen Fortschritte so entwickeln können. Vielleicht ändert sich ja mit dem Auftauchen von Blackpool etwas.



    Das Kapitel I,5 "Der Grundton" bietet dazu einige sehr interessante Details. Im zweiten Absatz werden ganz viele Merkmale dieser Umwälzung verdichtet: Umweltverschmutzung von Luft und Wasser, Massenarchitektur der Arbeitersiedlungen und die ökonomische Stadtplanung, die Einzwängung in ein unerbittliches Zeitraster, das den Aufenthalt im Privaten durch die gleichgeschalteten Arbeitszeiten der Fabriken reglementiert, die Uniformität der Menschen in ihrer ärmlichen Arbeitskleidung, ihrem ungesunden und abgehärmten Aussehen und die allgemeine Zerstörung von Individualität in Lebensführung und Lebensablauf, das alles hat Dickens ganz genial in die Bilder dieses einen Absatzes gefasst.


    Dieser Absatz reicht mir nicht aus, um den Einfluss auf die Gesellschaft zu beschreiben. Es ist mir zu allgemein gehalten.


    Nochmals zu Mr. Sleary: Komischerweise habe ich seinen Sprachfehler nach den ersten paar Wörtern glatt überlesen und somit hätten sich die Übersetzer für mich diese Mühe gar nicht machen müssen :zwinker:


    Interessant, Giesbert, dein Fund bei Arno Schmidt. Den Vergleich von Dickens mit den Feenpalästen gefällt mir ausnehmend gut.


  • Hat er, aber da geht es vor allem um "Bleak House". Hard Times taucht auch sonst im Werk nur sehr selten auf


    "Dickens" ist in den Radio Essays zu finden:
    Nachrichten von Büchern und Menschen 1
    12Cds


    Und in dem Band 2 "Zur Angelsächsischen Literatur" im Haffmans Verlag.
    Dort wird Dickens allgemein behandelt, beginnend damit, daß Charles Dickens am Rande eines Schlagafalls befindet und die Akteure rollen sein Leben nun auf.

    In der Jugend ist die Hoffnung ein Regenbogen und in den grauen Jahren nur ein Nebenregenbogen des ersten. (Jean Paul F. Richter)



  • Da stellt sich die Frage, welche Absichten hinter diesem Roman stehen. Leider bin ich auch kein Dickens Experte, doch die Biographie von Hans-Dieter Gelfert ist auf dem Weg zu mir. Mal sehen, ob sie etwas Licht ins Leben und in den Absichten Dickens bringt.


    Ich habe das Gefühl, daß Dickens in dem Roman experimentiert im Rahmen seiner Möglichkeit.


    Den Begriff der Feenpaläste für die Fabriken, die nur für die Vorbeifahrenden im Zug so poetisch vorkommen, doch für die Arbeiter ganz andere Bedeutung hat, gefällt mir auch sehr gut.


    Vielleicht sollte man noch auf die geheimnisvolle alte Frau im Kapitel 12 hinweisen. Ich bin gespannt, was es mit ihr auf sich hat.


    Ich habe Buch 1 "Die Saat" beendet.
    Und " Die Ernte" kann eingefahren werden.


    So dürfen wir gespannt sein, was die Figuren ernten; Louisa in ihrer Ehe, Tom in seinem Job in der Bank, wie werden sich Mr Gradgrinds Erziehungsmethoden auswirken? Was macht Blackpools insgeheimer Wunsch seine Frau loszuwerden.... Dickens hat seine Figurem spannend platziert.



    Edit:
    Feenpaläste kommen auch im David Copperfield vor, eher in angenehmen Sinne, soweit ich mich erinnere. Da der David Copperfield Dickens Lieblingsroman war, schlägt er vielleicht (unbewusst) einen Bogen zwischen beiden Romane. Oder es war nur ein Lieblingsausdruck von Dickens oder Zufall; ein Gedanke nebenbei.


    Gruß,
    Maria

    In der Jugend ist die Hoffnung ein Regenbogen und in den grauen Jahren nur ein Nebenregenbogen des ersten. (Jean Paul F. Richter)

    Einmal editiert, zuletzt von JMaria ()

  • Vielleicht sollte man noch auf die geheimnisvolle alte Frau im Kapitel 12 hinweisen. Ich bin gespannt, was es mit ihr auf sich hat.


    Ich habe nicht gespickt Maria, aber seit dem ersten Auftauchen dieser Frau wette ich: es ist die Mutter von Bounderby.

  • Ich habe nicht gespickt Maria, aber seit dem ersten Auftauchen dieser Frau wette ich: es ist die Mutter von Bounderby.



    Diesen Verdacht hege ich auch. Das wird bestimmt spaßig/tragisch!

    In der Jugend ist die Hoffnung ein Regenbogen und in den grauen Jahren nur ein Nebenregenbogen des ersten. (Jean Paul F. Richter)

  • Ich komme kaum weiter. Gestern bin ich über I,11 eingeschlafen, obwohl es da bezüglich der Thematisierung der Industriellen Revolution gerade interessant wird. Steffi, ich glaube auch nicht, dass der von mir erwähnte Abschnitt der einzige im Buch bleibt.
    Aber ich lese den Dickens nicht einmal wegen der industriellen Bezüge, das war nur der äußere Anlass, mir diesen Roman vorzunehmen, sondern besonders weil mir seine Personencharakterisierung und Ironie so gut gefallen.


    In Kapitel 8 ist wieder so eine herrliche Verdrehung von Vernunft. Cilchen sitzt in der Schule auf dem letzten Platz - unter anderem deshalb, weil sie so ungeheuerlich dumm war, zu meinen, die Antwort auf den wichtigsten Grundsatz der Volkswirtschaft sei "Was du nicht willst, dass man dir tu, das füg auch keinem anderen zu." Da ist doch ganz wunderbar gegeneinandergesetzt das allein gewinnorientierte Streben vieler Industrieller und Kaufleute nicht nur jener Zeit und die Menschlichkeit oder auch praktische oder nachhaltige Vernunft, die dabei auf der Strecke bleibt.


    Dickens ist aber ganz deutlich kein Revolutionär. Es ist eine sehr bürgerliche, christlich geprägte Entrüstung, die er dem rein gewinnorientierten Denken und Lenken entgegenbringt: Das kommt auch im 11. Kapitel gut zum Ausdruck.

    Ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns. (Kafka)

  • Noch zu den Feenpalästen: Ich denke, auch noch in den 50er Jahren des vorletzten Jahrhunderts war es noch nicht völlig gewöhnlich, riesige, gasbeleuchtete Gebäude in der Dunkelheit zu sehen. Zwar gab es Gaslampen seit dem Ende des 18. Jahrhunderts, die Londoner hatten seit 1811 eine Gas-Straßenbeleuchtung, aber diese großen hell leuchtenden Hallen, die sich gleichzeitig noch entrückend in die Nebel ihrer Abgase hüllten, müssen für die zeitgenössischen Bevölkerung schon besonders gewirkt haben.
    Außerdem holt Dickens hier wieder einen Kontrast raus zu dem Inneren dieser Zauberpaläste.

    Ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns. (Kafka)


  • Noch zu den Feenpalästen: Ich denke, auch noch in den 50er Jahren des vorletzten Jahrhunderts war es noch nicht völlig gewöhnlich, riesige, gasbeleuchtete Gebäude in der Dunkelheit zu sehen. Zwar gab es Gaslampen seit dem Ende des 18. Jahrhunderts, die Londoner hatten seit 1811 eine Gas-Straßenbeleuchtung, aber diese großen hell leuchtenden Hallen, die sich gleichzeitig noch entrückend in die Nebel ihrer Abgase hüllten, müssen für die zeitgenössischen Bevölkerung schon besonders gewirkt haben.
    Außerdem holt Dickens hier wieder einen Kontrast raus zu dem Inneren dieser Zauberpaläste.


    Das halte ich für wichtige Hinweise. Gegenwärtig erleben wir Mitteleuropäer nur Dunkelheit, wenn wir in ferne Länder, in die Wüste und aufs Meer reisen. Damals muss Licht in der Nacht, in dieser Fülle tatsächlich etwas Besonderes gewesen sein.


    Den Roman habe ich zu Ende gelesen. Für mich ist er nicht der interessanteste Dickens, er wirkt in seiner Konstruktion vertraut, und Dickens scheut sich ins Detail dort zu gehen, wo sich das Neue einer Industriestadt zeigt. So ist er, wie ein vertrautes Schauspiel in neuer Kulisse.

  • Hallo Finsbury,


    ich mache eine kleine Pause bis du mit dem 1. Buch durch bist und lese nebenbei noch in der Dickens Biographie von Hans- Dieter Gelfert.


    Darin wir im Vorwort auch die Biographie von John Forster positiv erwähnt, wir hatten kürzlich den Link zur Gutenberg, weil Dickens oft selbst zu Wort kommt, da Forster aus mehr als 1000 Briefen von Dickens zitiert. Da kann man sich also auch noch richtig reinknien.


    Ich habe festgestellt, daß ich mein Bild über Dickens korrigieren muß und daß weit mehr in ihm steckt.


    Gruß,
    Maria

    In der Jugend ist die Hoffnung ein Regenbogen und in den grauen Jahren nur ein Nebenregenbogen des ersten. (Jean Paul F. Richter)

  • Hallo zusammen,


    bin nun auch mit dem ersten Buch fertig und stecke in II,2, wo die Karikatur eines gewissenlosen, hedonistischen Edelmannes, James Harthouse (sic! sprechender Name) der anscheinend völlig erstarrten Luise Bounderby begegnet.


    @ Lost:
    Glückwunsch! Du bist schnell durchgekommen. Deine Werteinschätzung teile ich bisher insofern, als Dickens in diesem Roman über die Karikatur in seiner Personenschilderung kaum hinauskommt.


    Ich habe allerdings keine sozialistische Kampfschrift à la Engels "Die Lage der arbeitenden Klasse in England" erwartet, dazu ist Dickens die Personenbeschreibung fast immer wichtiger als die Zustandsbeschreibung, so nehme ich es jedenfalls in den von mir bisher gelesenen Romanen wahr. Dickens empört sich schon sehr gegen die menschen- und umweltverachtende Art, in der die ausschließlich gewinnorientierte Industrialisierung vorangetrieben wird, aber der Mensch oder Menschentyp als Verursacher ist ihm - so scheint es mir - immer wichtiger als die Darstellung der Verhältnisse.


    Dennoch sind gerade die Schilderungen von Umgebung und Milieu wichtig und oft sehr treffend, weil er z.B. versteht, vieles in großen Metaphern zu verdichten, vgl. "Feenpaläste" (sehr schön auch deren Beschreibung im Hochsommer in II,1: "Die Atmosphäre solcher Feenpaläste glich dem Hauche des Samum, und ihre Bewohner schleppten sich schlaff und schwer in der Wüste herum."


    Eine weitere Metapher, die bisher das ganze Buch durchzieht, ist die vom "tollen Elefanten" für die Dampfmaschinen mit ihrem schwerfälligen Hebelwerk: „Die abgemessene Bewegung ihrer [der Elefanten] Schatten war der Ersatz, den Coketown für die Schatten rauschender Wälder aufzuweisen hatte, während es für das sommerliche Insektengesumm das ganze Jahr hindurch, vom Morgengrauen des Montags an bis zum Abenddunkel des Sonnabends, das Rattern von Stangen und Stäben darbieten konnte.“ Ebd.


    @ JMaria,
    nett von dir, dass du innehältst, bis ich weiterkomme. Ich bin leider oft auch am Wochenende nicht
    im Verfügungsbesitz über meine Zeit, deshalb geht es dann ziemlich schleppend voran. So werde ich heute wahrscheinlich auch mit dem Lesen kaum weiterkommen.
    Du hast dich bezüglich Dickens schlauer gemacht als ich. Vor einem Jahr las ich die romo-Dickens-Biografie von Johann N. Schmidt, die ganz informativ ist, und – wie im Konzept der Reihe vorgesehen – auch viele Selbstzeugnisse bietet.


    Ich weiß nicht, warum Dickens nicht so dein Ding ist – dafür kann man manchmal gar keine richtige Gründe angeben, mir geht es z.B. mit vielen französischen Schriftstellern so , wie Flaubert und Maupassant –aber man kann die Chemie zwischen Leser und Autor auch nicht erzwingen. Aber es freut mich, dass du ihn jetzt etwas interessanter findest.


    Ich schätze Dickens – wie öfter erwähnt – wegen seiner Ironie und der Farbigkeit seiner Schilderungen, ja auch wegen seiner humanitären Empörung gegen Missstände seiner Zeit, aber auch gegenGeisteshaltungen, die wir - und vor allem Menschen in Armut und Abhängigkeit - heute leider immer noch erfahren müssen. Diese Art von Schriftsteller fehlt mir hier in Mitteleuropa im 19. Jahrhundert, ein Georg Weerth hätte es vielleicht werden können, aber er hatte nicht die Leidenschaft und das schriftstellerische Durchsetzungsvermögen, das Dickens, der ja auch ein sehr guter Vermarkter seiner Werke war, auszeichnete, und wohl auch nicht die Qualität.


    Wenn ich jedoch die Weihnachtserzählungen als erstes gelesen hätte, hätte ich wahrscheinlich keinen Dickens mehr angefasst.

    Ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns. (Kafka)

  • Aber ich lese den Dickens nicht einmal wegen der industriellen Bezüge, das war nur der äußere Anlass, mir diesen Roman vorzunehmen, sondern besonders weil mir seine Personencharakterisierung und Ironie so gut gefallen.


    Das ist richtig und ich denke, dass er sich auch hier nicht von seinem Konzept abbringen lässt. Im Vergleich zu Zola, der ja überwiegend den Einfluss der Umwelt auf die Personen zeigt und das eher exemplarisch, beschäftigt sich Dickens mit den Beziehungen der Personen untereinander. Auch wenn er seine Figuren mitunter sehr ausreizt, z.T. ist das für mich auch zuviel, so bei der Frau von Blackpool. Für mich ist dieser Vergleich sehr interessant.


    Ich komme auch zum 2. Buch. Bezüglich der geheimnisvollen Alten bin ich ganz eurer Meinung ...


  • Ich habe allerdings keine sozialistische Kampfschrift à la Engels "Die Lage der arbeitenden Klasse in England" erwartet, dazu ist Dickens die Personenbeschreibung fast immer wichtiger als die Zustandsbeschreibung, so nehme ich es jedenfalls in den von mir bisher gelesenen Romanen wahr. Dickens empört sich schon sehr gegen die menschen- und umweltverachtende Art, in der die ausschließlich gewinnorientierte Industrialisierung vorangetrieben wird, aber der Mensch oder Menschentyp als Verursacher ist ihm - so scheint es mir - immer wichtiger als die Darstellung der Verhältnisse.


    Das ist richtig und ich denke, dass er sich auch hier nicht von seinem Konzept abbringen lässt. Im Vergleich zu Zola, der ja überwiegend den Einfluss der Umwelt auf die Personen zeigt und das eher exemplarisch, beschäftigt sich Dickens mit den Beziehungen der Personen untereinander. Auch wenn er seine Figuren mitunter sehr ausreizt, z.T. ist das für mich auch zuviel, so bei der Frau von Blackpool. Für mich ist dieser Vergleich sehr interessant.


    Von dem konservativen Dickens hatte ich auch keinen dokumentarischen Bericht erwartet und auch keinen blanken Realismus (wir wollen doch auch nicht, dass unseren Freund Sir Thomas der Schlag trifft, wenn sich der Fabulierer Dickens als Vorläufer von Zola zeigen würde). Gehofft hatte ich allerdings, dass die spezifischen Beziehungen seiner Figuren, den neuen Charakter der Industriegesellschaft ausdrücken. Nun gab es den Utilitarismus schon vor dem ersten Maschinenwebstuhl und der ersten Wattschen Dampfmaschine. Selbst die Fabrikarbeit bleibt außen vor, wo er sonst in seinen Romanen so detailiert schildert, wenn es um Schule und Erziehung und um die Unterwelt geht. So bleibt es auch in "Harte Zeiten" bei dem, was sich mit wenigen Ausnahmen, durch die ganze Literaturgeschichte zieht: die einzige geschilderte, wertschöpfende Arbeit machen die Frauen.

  • Interessanterweise erwähnt Hans-Dieter Gelfert in seiner Biographie, daß amerikanische Kritiker Dickens Werk nicht mehr länger im viktorianischen Kontext sehen, sondern eher in der Nähe Kafkas.
    Ich bin gespannt, ob das noch näher erklärt wird.


    lässt man sich dann aber in die Romane hineinziehen, wird man in ihnen eine in Bilder übersetzte Weltsicht finden, die eher an Kafka als an die bürgerliche Welt des 19. Jahrhunderts erinnert. Diese vom viktorianischen Gewand verdeckte Modernität des Dichters harrt in Deutschland noch immer der Entdeckung. - S. 10 "Charles Dickens der Unnachahmliche "



    Die Figuren, eingebettet im englischen (Recht-)System oder Gesellschaftssystem, wie auch immer man das auch nennen mag, finde ich sogar sehr gut in "Harte Zeiten" gezeichnet, einzig daß Dickens voraussetzt, daß der Leser bereits das System kennt, könnte ich kritisieren. Vieles wird einem erst klar, wenn man mehr über das Armenrecht und das Gesetzsystem nachliest. Das hat mich schon in Bleak House verwirrt. Zwar weiß ich im allgemeinen, daß Dickens sozialkritisch das Gesetzsystem darin anprangert, aber er setzt auch Vorkenntnisse dazu voraus. Er erklärt wenig, wirft versteckte Hinweise hinein oder karikatiert sie.


    Ich bin in II, 4


    Gruß,
    Maria

    In der Jugend ist die Hoffnung ein Regenbogen und in den grauen Jahren nur ein Nebenregenbogen des ersten. (Jean Paul F. Richter)


  • Wenn ich das Buch über Proust fertig gelesen habe, werde ich mich auch der Dickens-Biografie zuwenden. Was du hier schreibst, macht mich auch neugierig (aber auch skeptisch). Was die Kenntnisse betriff, die sinnvoll sind um einem Roman folgen zu können, so muss man berücksichtigen, dass es letztlich "zeitgenössische" Schriften sind, die wir lesen und für die der Schriftsteller schon Ansprüche an die zeitgenössischen Leser stellen kann. Kaum etwas ist langweiliger, als wenn man in einem Roman erklärt bekommt, was man weiß. Ein gut durchdachter Anmerkungsapparat für "alte Werke" ist da für uns schon hilfreich, wobei häufig leider nur auf literarische oder philologische Aspekte eingegangen wird.


    Ich bin übrigens sehr gespannt, wie die kommentierte Version von "Mein Kampf" aussehen wird.

  • Dank einer schlafarmen Nacht habe ich es bis in II,7 geschafft.


    In II, 4 erkennen wir wieder einmal deutlich, dass auch Dickens ein bürgerlicher Literat war. Slackbridge, den man als Gewerkschaftsvertreter sehen könnte, ist ein Demagoge gegen Streikbrecher, der gleichzeitig den Arbeitern das schwer verdiente Gewerkschaftsgeld abzieht und ihre grundsätzliche Ehrlichkeit und Empathie vernichten will. In II, 5 spricht Blackpool sich gegenüber Bounderby für ein patriarchalisch-sorgsames Verhältnis der besitzenden Klassen gegenüber den Arbeitern aus: Dies entspricht wohl auch Dickens' Intention.


    Hier wird wieder ein Element deutlich, das mich bei Dickens manchmal stört: Er setzt Armut des öfteren mit sozialer Tugendhaftigkeit gleich, und all die engelhaften, insbesondere armen Frauen, wie hier z.B. auch Rahel und wohl auch Cilchen tragen den Leser an ihren Schürzenbändern Richtung Weihnachtserzählungen.


    Was ich übrigens nicht verstanden habe, ist, warum Stephen Blackpool den Streik bricht. In Kapitel I, 13 sagt er, weil ihn der Anblick der sorgenden Rahel von der Tötung seiner Frau abgehalten hat:


    "Nimmermehr werde ich meinen Blick oder meine Gedanken auf etwas richten, das mir ein Ärgernis ist, außer dass du, die du um soviel besser bist als ich, daneben stehen sollst."


    Auf dieses Versprechen bezieht er sich in II,4 bis 6. Aber inwiefern er den Streik als ein Ärgernis betrachtet, erschließt sich mir nicht ganz, denn in II,5 verteidigt er ja die Maßnahmen der Arbeiter als notwendig gegenüber der Gefühllosigkeit der Besitzenden.


    Lus Bruder zieht Blackpool in eine finstere Geschichte: Es steht zu vermuten, dass er ihn zum Sündenbock für einen geplanten Bankeinbruch machen will.



    Interessanterweise erwähnt Hans-Dieter Gelfert in seiner Biographie, daß amerikanische Kritiker Dickens Werk nicht mehr länger im viktorianischen Kontext sehen, sondern eher in der Nähe Kafkas.
    Ich bin gespannt, ob das noch näher erklärt wird.


    lässt man sich dann aber in die Romane hineinziehen, wird man in ihnen eine in Bilder übersetzte Weltsicht finden, die eher an Kafka als an die bürgerliche Welt des 19. Jahrhunderts erinnert. Diese vom viktorianischen Gewand verdeckte Modernität des Dichters harrt in Deutschland noch immer der Entdeckung. - S. 10 "Charles Dickens der Unnachahmliche "


    Ich kann in der Tat Ähnlichkeiten gerade zwischen "Bleakhouse" und "Der Prozess" wahrnehmen: In beiden wird die Ohnmacht vor der Bürokratie und das Gefressenwerden des Einzelnen von undurchschaubaren juristischen Zusammenhängen stark thematisiert und auch in Zentralmetaphern gehüllt. Was bei Kafka der "Türhüter" ist bei Dickens der Londoner Nebel, der kein Durchdringen ermöglicht.
    Nur wird bei Dickens alles geerdet, an Missverhältnissen festgemacht, während Kafkas Figuren letzten Endes vor der Sinnlosigkeit des Universums stehen.

    Ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns. (Kafka)

  • Bin jetzt mit dem zweiten Buch fertig und befinde mich in III, 1. Hier sind die typischen Dickenschen Verwicklungen am Werk, nichts sonderlich Interessantes. Meine Vermutung zu us Bruder bewahrheitet sich. Lu selbst "rettet" sich in letzter Minute selbst.

    Ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns. (Kafka)

  • Ich bin jetzt lt Kindle bei rund 60% (Kapitel II/7) - und ich werde zunehmend ungehaltener. Das ist mir alles zu grobschlächtig, da wird ein dünner Einfall unerträglich breit getreten. Ich werde mich wohl noch durchkämpfen (ich möchte nicht das dritte Buch in Folge abbrechen ;-)), aber große Hoffnungen auf Besserung mache ich mir da nicht.

  • hallo zusammen,



    Nochmals zurück zu Blackpool, er möchte weder streiken, noch sich mit dem Gegner zusammen tun ( Bounderby), Blackpool möchte daß seiner Klasse mit Freundlichkeit, Geduld und Trost begegnet wird, sonst bleibt es beim 'Kuddelmuddel'. Ich glaube, dieses Wörtchen Kuddelmuddel gibt Dickens Seelenzustand wider, der auch kein Ausweg aus diesen sozialen Misständen weiß, denn vermutlich war ihm auch das Streiken fremd, denn die Figur des Agitators Slackbridge überzeugt auch nicht. Dennoch packt er das Thema an, vielleicht etwas zögerlich, aber dennoch finde ich die Figur Blackpool für Dickens Verhältnisse bemerkenswert.


    die letzten 3 Kapitel im 2. Buch wo Louisa auf der allegorischer Treppe sich in die Tiefe hinab und der Schande sich zu bewegt, lt. Mrs Sparsit, und zugleich eilt Mrs. Sparsit rührig im Landhaus der Bounderbys treppauf und treppab, das fand ich sehr gekonnt von Dickens beschrieben. Manchmal vielleicht zu gewollt auf eine Pointe hingetrieben, aber es erreicht mich als Leser, z.b. über Louisa:


    "Wie konntest du mir das Leben geben und mir all die unschätzbaren Dinge nehmen, die es aus dem Zustand bewußten Todes erheben? Wo sind die Zierden meiner Seele? Wo sind die Empfindungen meines Herzens?.....



    Und dann am Ende des 2. Buches:


    " Ich weiß nur, daß mich deine Philosophie und deine Lehren nicht retten werden. Dahin hast du mich gebracht, Vater. Rette mich durch andere Mittel!"


    Ich komme zum 3. Buch " Aufspeicherung"


    Gruß,
    Maria

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