Hallo,
Es wird mal wieder Zeit für eine kleine Provokation... :zwinker:
Ich habe die Bücher V und VI gelesen. Sie enthalten die Schilderung von Satans Aufstand gegen Gott, und zwar in Raphaels Schilderung im Gespräch mit Adam und Eva.
Ich hatte schon gesagt, dass mir die Schilderung des Himmels sehr "weltlich" vorkommt. Dieser Eindruck hat sich verstärkt, und zwar so sehr, dass ich es nicht mehr nachvollziehen kann.
Man stelle sich vor: Krieg im Himmel! Und zwar ein echter, mit Schwertern, Pfeil und Bogen, Streitwagen, ja selbst Kanonen werden aufgefahren und abgefeuert. Drei Tage wütet die Schlacht, und schliesslich werden die Verlierer gnadenlos zermalmt - bzw. von einer Art gigantischem Bulldozer erst plattgemacht und dann in die Tiefe gedonnert.
Mir erschien das Besondere am Christentum immer sein radikaler Pazifismus zu sein - "Selig sind die Friedfertigen", "Liebe auch deine Feinde", "Wenn Dich jemand schlägt, halte auch die andere Backe hin" (ich zitiere aus dem Gedächtnis, korrigiert mich, wenn ich falsch zitiere). Von diesem Christus ist Miltons Christus ja das genaue Gegenteil. Kein Friedensbringer, sondern eine Art Warlord, ein Kämpfer für die Ehre seines Vaters...
Kommt Euch diese Verquickung von religiöser Selbstgerechtigkeit und militärischer Überlegenheit nicht irgendwie bekannt vor? Gibt es in der aktuellen weltpolitischen Landschaft keinen Kämpfer für die Ehre seines Vaters...? Der das Reich des Bösen am liebsten mit Panzern niederwalzen würde, und das zum Teil auch tut? (Wenn Milton im 20. Jahrhundert gelebt hätte, wäre Christus' Streitwagen wohl ein Panzer gewesen.)
Diese Gedankenverbindung ist so abwegig nicht. Man bedenke: Milton war Dissenter, d.h. einer jener Extrem-Protestanten, die sich jenseits der anglikanischen Hochkirche in Sekten organisierten und glaubten, den ganz besonderen Draht zu Gott zu haben. Viele Dissenter sind durch "Erweckungserlebnisse" und eine das ganze Leben bestimmende, tief empfundene Religiosität aufgefallen. Als Nebeneffekt der Unabhängigkeit von kirchlichen Vorgaben ergibt sich die schon erwähnte Selbstgerechtigkeit - man hat ja "das Licht gesehen"... Viele der Dissenter sind nach Amerika ausgewandert und haben für die noch heute fühlbare besondere Religiosität bestimmter Schichten der amerikanischen Bevölkerung gesorgt. Ab und zu sollen sogar Präsidenten davon erfasst werden... mehr sage ich nicht...
Ende der Provokation.
Natürlich hat Milton lange geschwankt, ob er ein Epos über einen Stoff der englischen Geschichte oder über ein biblisches Thema schreiben würde. Und Schlachtenschilderungen gehörten bei allen seinen Vorbildern einfach dazu. Insofern mag es für ihn natürlich gewesen sein, die geistliche Überlegenheit Gottes im Gewand militärischer Überlegenheit darzustellen. Es mag auch sein, dass Milton einfach nur dem Geist seiner Zeit Ausdruck verleiht. Andererseits haben wir im 21. Jahrhundert das Recht, seinen Text aus unseren Erfahrungen heraus zu interpretieren. Und da stößt mir diese ganze Episode doch sehr sauer auf. Ist Euch das nicht so gegangen?
Herzlichen Gruß, Harald