Alexander Lernet-Holenia

  • Bezogen auf seine Lebensdaten ist Lernet-Holenia eigentlich noch kein Klassiker (1897 - 1976), aber aufgrund seiner Themen und seines Stile möchte ich ihn gern dazurechnen. Im Regal muss er neben Leo Perutz stehen. Ich mache diesen Faden hier auf, weil ich einen Dünndruckband mit vier Romanen von Lernet-Holenia gefunden habe, die ich alle vier in diesem Jahr lesen möchte. (Im letzten Jahr hatte ich "Ein Traum in Rot" gelesen, was mir sehr gefallen hat.)


    Der erste Roman heißt "Die Auferstehung des Maltravers". Der Gleichklang mit der Auferstehung des Lazarus ist natürlich beabsichtigt.


    Der Held Graf Maltravers befindet sich auf dem Landgut seines Bruders als Gast, niemand seiner Verwandten kann ihn leiden, und als er sterbenskrank wird (er ist etwas über 60, wenn ich es richtig behalten habe), schauen ihm alle nicht ungern beim Sterben zu. Maltravers bittet noch einen Bekannten, den "Chevalier de la Baume le Bouteillier d'Outremer" (!), an sein Sterbebett zu eilen. Denn dieser Chevalier stammt von einem Geschlecht ab, das an den Kreuzzügen teilgenommen hat, und allen Abkömmlingen dieses Geschlechts eilt der Ruf voraus, durch Handauflegen heilen zu können.


    Der Chevalier, der mit Vornamen "Anne" heißt, von Maltravers aber beharrlich "Anna" angeredet wird (so heiße ich auch!), legt wunschgemäß die Hand auf, aber Maltravers stirbt trotzdem. Er wird in der Familiengruft beigesetzt. Traurig ist niemand. Einen Tag danach befreit er sich aus dem Sarg, völlig gesund.



    Den weiteren Werdegang Maltravers' lasse ich hier weg. Es geht um Nahtoderfahrung und Moralgesetze - und so ganz einverstanden ist übrigens Maltravers mit seiner Auferstehung gar nicht ... Das Beste an dem Roman ist die unglaublich elegante, geradezu singende Prosa, dazu ein skurriler Humor, der seinesgleichen sucht - ein Lesegenuss der besonderen Art. Kurz nach seiner Auferstehung sucht Maltravers jenen Chevalier auf, um ihm zu danken, weil er immer noch glaubt, durch dieses Handauflegen wiedererstanden zu sein. Dieses Gespräch ist einfach zum Schieflachen. Die gehobene philosophische Ebene des Dialogs wird auf jeder Seite ironisch gebrochen durch Maltravers' Anrede "mein lieber Anna!", was den Chevalier jedesmal in Wut versetzt. Ein herrliches Buch! Und es enthält noch drei weitere Romane, auf die ich mich jetzt schon freue.

  • Carl Zuckmayer erwähnt Lernet- Holenia in seiner Autobiografie mehrfach und zitiert auch ein sehr berührendes Gedicht von ihm. Leider bin ich unterwegs, kann daher die Stelle nicht suchen, hole ich aber zu Hause nach.

    Ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns. (Kafka)

  • Lernet-Holenias Novelle "Der Baron Bagge" wird von Michael Maar in seinem Buch "Die Schlange im Wolfspelz - Das Geheimnis großer Lteratur" als Meisterwerk gerühmt. Ich habe das Buch als Ebook in einer Ausgabe des Fischer Verlags, mit einem Nachwort von Hilde Spiel, gelesen. Es ist recht kurz. Man kann an zwei Abenden damit fertig werden.


    Es gibt einen Ich-Erzähler, der aber weitgehend gesichtslos bleibt. Die Novelle besteht fast ganz aus einem Bericht des Barons Bagge an die Adresse dieses Ich-Erzählers. Es geht um ein Kriegserlebnis im Jahr 1915 bei einem Aufklärungsfeldzug in Ungarn. Der junge, recht aufbrausende Befehlshaber kommandiert die ganze Schwadron, etwa hundertzwanzig Reiter, in eine lebensgefährliche Situation hinein. Baron Bagge, von Grund auf ein maßvoller Bedenkenträger, hat die größten Bedenken, aber es gibt kaum Verluste. Trotzdem wird der weitere Verlauf von diesem Moment an immer merkwürdiger. Das Wetter ist ungewöhnlich, vom Feind ist keine Spur mehr zu sehen; man reitet in ein Städtchen, in dem die Bevölkerung begeistert feiert, Bagge verliebt sich in eine junge Frau, die seine (also Bagges) Mutter gekannt hat ... Das Thema ist schon ziemlich früh klar, eigentlich schon auf Seite 6. Es ist eines von Lernet-Holenias Lieblingsthemen: die Nahtoderfahrung.

    Das Buch braucht die äußere Spannung nicht, um lesenswert zu sein. Wie Michael Maar betont,, ist Lernet-Holenia ein unglaublich guter Beobachter von Licht- und Wetterphänomenen. Speziell in dieser Novelle glaube man, in einem Gemälde von Turner gefangen zu sein: "Als die Schwadron sich sammelte, waren die Pferde und Reiter auf einer Seite sofort ganz verschneit. Das Tageslicht, weißlichblau und als käme es von überall und nirgends zugleich, ergoss sich über uns wie eine milchige Masse." Solche bildhaften Schilderungen gibt es viele, die alle in die Handlung eingebunden sind und eine alptraumhafte Atmosphäre aufbauen. Ich bin seit Jahren Gruselgeschichtenleserin und nicht mehr leicht zu beeindrucken - aber bei dieser Geschichte hat es mich sehr gegruselt, obwohl es wie gesagt kaum noch einen Überraschungseffekt gibt. Leseempfehlung!

  • Bezogen auf seine Lebensdaten ist Lernet-Holenia eigentlich noch kein Klassiker (1897 - 1976), aber aufgrund seiner Themen und seines Stile möchte ich ihn gern dazurechnen. Im Regal muss er neben Leo Perutz stehen. Ich mache diesen Faden hier auf, weil ich einen Dünndruckband mit vier Romanen von Lernet-Holenia gefunden habe, die ich alle vier in diesem Jahr lesen möchte. (Im letzten Jahr hatte ich "Ein Traum in Rot" gelesen, was mir sehr gefallen hat.)


    Hallo Zefira,

    ist das der?

    https://d-nb.info/840695608


    Ich könnte schwach werden. Lernet-Holenia wie auch Perutz kommen mir seit zig Jahren immer wieder zwischen -

    hab von beiden, soweit erinnerlich, noch nie was gelesen.

    Ich vergesse das meiste, was ich gelesen habe, so wie das, was ich gegessen habe; ich weiß aber soviel, beides trägt nichtsdestoweniger zu Erhaltung meines Geistes und meines Leibes bei. (G. C. Lichtenberg)

  • Richtig, das ist das Buch, das ich habe.


    Leider bin ich damit immer noch nicht durch, weil ich zwischenzeitlich einige Ebooks von Lernet-Holenia geschenkt bekommen habe. Nach "Der Baron Bagge" habe ich "Der Mann im Hut" gelesen. Auch das eine Novelle aus dem Genre der Phantastik, wesentlich leichter im Ton als der Bagge und stellenweise sehr komisch. Der Binnenerzähler - auch hier gibt es nämlich eine ziemlich bedeutungslose Rahmenerzählung - ist ein junger Mann, der umständehalber einige Zeit in Ungarn zubringt ohne Geld und ohne andere Möglichkeiten der Zerstreuung als Spazierfahrten. Dabei lässt er sich von einem geheimnisvollen Deutschen begleiten, den er zufällig kennen gelernt hat und der behauptet, auf der Suche nach dem Grab des Hunnenkönigs Attila zu sein.


    Perutz ist, nebenbei bemerkt, auch sehr empfehlenswert. Von Lernet-Holenia habe ich den Eindruck - so sehr mir seine Bücher gefallen -, dass er eigentlich nur ein zentrales Thema hat. Perutz ist sowohl stilistisch als auch thematisch, wie man auf Neudeutsch sagt, breiter aufgestellt.