Émile Zola: Paris

  • „Paris“ ist der letzte Teil von Zolas Städtetrilogie.

    Hauptperson der ganzen Trilogie ist Pierre Froment, ein von Glaubenszweifeln geplagter Priester. Im ersten Teil „Lourdes“ macht er mit einer Pilgergruppe, zu der auch Pierres gelähmte Freundin gehört, eine Wallfahrt. Bereits hier lässt Zola durchklingen, dass die Unmöglichkeit, das schwerbehinderte Mädchen zu heiraten, Pierre ins Priesteramt getrieben hat.

    Im zweiten Teil geht Pierre auf eine Reise nach Rom – diesen Band kenne ich noch nicht.


    In „Paris“ nun waltet er als Priester und sucht seine Zweifel mit barmherzigen Werken zu beschwichtigen. Schon im ersten Fünftel des dicken Buchs war ich gefesselt von Zolas Meisterschaft, Spannung zu erzeugen. Pierre möchte einen alten und kranken Arbeiter in einem Asyl für Arbeitsinvaliden unterbringen. Um die Aufnahme zu erreichen, rennt er von Pontius zu Pilatus, bringt sein Anliegen bei verschiedenen großbürgerlichen Damen der Wohltätigkeitskommission vor. Der Leser wird Zeuge von unvorstellbarem Elend und verschwenderischem Luxus in dichter Folge. Dabei begegnet Pierre immer wieder einem Arbeiter, der ihn zu verfolgen scheint und einen merkwürdigen runden Gegenstand unter der Jacke trägt – wahrscheinlich ein Frühstücksbrot, denkt sich Pierre. Wer genau liest, weiß lange vorher, was kommt, während Pierre ahnungslos umherläuft - eine frühe Form des literarischen Suspense-Effekts: Am Ende des ersten Kapitels steht ein Attentat durch jenen Arbeiter.


    Nun wird die Erzählung zusehends disparat. Einmal geht es um Pierres private Entwicklung, die Hinwendung zu seinem älteren Bruder Guillaume, dem er lange Zeit entfremdet war, seine Liebe zu der jungen Marie, ihre Verlobung etc. Daneben referiert Zola die Verhandlung und Hinrichtung des Attentäters, eine unschöne Affäre korrupter Politiker (zu der der Panama-Skandal das Vorbild gegeben hat), die Rolle der Presse, die Doppelmoral großbürgerlicher Familien. Obwohl es noch ein paar erzählerische Kabinettstückchen gibt, wird die Spannung und Stringenz des ersten Kapitels nicht mehr erreicht.

    „Paris“ ist 1898 erschienen. Zola überrascht hin und wieder mit fortschrittlichen Gedankengängen, wenn z.B. die kesse Marie Pierre darlegt, wie das Fahrrad zur Emanzipation der Frau beitrage. Ein sehr hübsches Kapitel übrigens: Marie trägt beim Radfahren Kniehosen, was damals wohl eine unerhörte Frivolität war, aber Pierre nimmt das kaum zur Kenntnis, weil er selbst an diesem Tag erstmals Hosen statt Soutane trägt.


    Im letzten Drittel nimmt der Roman eine Wendung, die ich als ausgesprochen peinlich empfinde. Der als Sympathiefigur eingeführte Bruder Guillaume offenbart Pierre seinen Lebensplan, eine Bombe von nie dagewesener Schlagkraft zu entwickeln, um sie Frankreich „zu schenken“ – damit Frankreich, "sobald es erst über die Völker herrschte, eines Tages auf der Welt den Sieg der Wahrheit und Gerechtigkeit durchsetzen könnte.“ Die Aufrüstung aller Mächte koste so viel Geld und Kraft, dass es unumgänglich sei, eine Superwaffe zu etablieren, eine „furchtbare, mit einem Schlag Armeen vernichtende und Städte hinwegfegende Maschine“, die „den Krieg unmöglich machen und die Völker zur allgemeinen Abrüstung zwingen würde.“

    Das muss man sich auf der Zunge zergehen lassen. Es kommt nicht zu diesem „Geschenk“ – aber es kommt noch weit schlimmer! Beim Lesen der Schlusskapitel ist wohl jeder heutige Leser ziemlich fassungslos.


    „Paris“ ist im großen und ganzen unterhaltsam zu lesen, trotz Zolas unverhohlenem Chauvinismus. Man kann das Buch gut ohne Kenntnis der Vorläufer lesen, aber ich werde mir irgendwann noch „Rom“ zu Gemüte führen.

  • Das klingt ja wirklich sehr interessant, aber auch verstörend. Vielen Dank für diese differenzierte Besprechung. Ich hatte gar nicht mehr auf dem Regal, dass Zola auch diese Städtetrilogie geschrieben hat. War immer nur auf den Romanzyklus fixiert. Oder gehört die Trilogie auch dazu.

    Ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns. (Kafka)

  • Die Trilogie hat mit dem Rougon-Macquart-Zyklus nichts zu tun. Die Familie Froment taucht, wenn ich mich richtig erinnere, in Zolas letztem Zyklus der "Evangelien" noch einmal auf. Zola plante die Romane "Arbeit", "Fruchtbarkeit", "Wahrheit" und "Gerechtigkeit". Letzteren hat er aber nicht mehr geschrieben oder nicht vollenden können. In jedem der drei erschienenen Romane spielt ein junger Froment die Hauptrolle. Es konnte sein, dass es Söhne von Pierre Froment sind, da müsste ich aber erst nachsehen, ehe ich was Falsches behaupte.

    Ich war mir unsicher, ob und wie weitgehend ich die tatsächlich verstörenden Schlusskapitel von "Paris" beschreiben soll. Falls jemand Näheres wissen möchte, kann ich gern noch genauer werden.

    Edit, habe eben kurz nachgesehen. "Paris" endet mit der Geburt von Pierres und Maries erstem Sohn Jean. Im Evangelien-Zyklus steht in jedem der vier Bände (drei erschienene und ein geplanter) ein Sohn des Paars im Mittelpunkt, die alle vier nach den Evangelisten benannt sind: Jean, Lucas, Mathieu und Marcus.