Da es zur Leserunde leider nicht gekommen ist, möchte ich das Buch hier gern vorstellen, in der Hoffnung, dass sich vielleicht noch jemand dazu meldet.
Ich habe es soeben zum zweiten Mal gelesen und es gefällt mir immer besser; mit Sicherheit werde ich es mir mindestens noch ein drittes Mal vornehmen. (Beim Lesen des zweiten Bandes, für den ich nur drei Tage gebraucht habe, hatte ich diesmal immer wieder minutenlang ein Gefühl von Klarheit und Durchsichtigkeit, als hätte ich eine Detox-Kur für die Seele gemacht.)
„Ein Mann will nach unten“, so lautet die Beschreibung des Titelhelden bei Mobile Read Wiki.
Bis es aber soweit kommt, wird uns in aller Ausführlichkeit Christian Wahnschaffe als verwöhntes Bürschchen mit schier unerschöpflichem Portemonnaie vorgestellt: Für den Fabrikantensohn aus gutem Hause ist das Leben eine Abfolge von Vergnügungsreisen und Festivitäten. Er ist umgeben von reichen Freunden und Verwandten, erfolgreichen Künstlern und eleganten Nichtstuern. Wassermann schildert eingehend das gute Aussehen und das Charisma seines Helden, der eine heftige Abneigung gegen alles Armselige, Hässliche und Verletzte hat. An seiner Seite geht als väterlicher Freund der bornierte Feudalist Crammon, dem etwa beim Anblick demonstrierender Arbeiter nur einfällt, dass er gern die Folter wieder eingeführt sähe.
Bei Googlebooks steht, dass Wassermann die „soziale Schere“ in der Gesellschaft vor 1914 als Thema vorgesehen habe. Das trifft weitgehend zu für den ersten Band des Romans. Die gesellschaftliche Oberschicht, in der sich Christian bewegt, hat zum „wahren Leben“ der Zeit keine Verbindung. Christian empfindet das zunehmend als Mangel. Er sucht, anfangs in ziemlich unbeholfener und naiver Weise, die Bekanntschaft mit Menschen der Unterschicht. Es kommt zu mehreren grotesken Vorfällen: So besucht er eine verelendete Arbeiterfamilie, geht vor den Leuten auf die Knie und leert sein Portemonnaie aus – über 4000 Mark lässt er da, eine spontane Handlung, die mich in ihrer Folgerichtigkeit an Dostojewski erinnert hat (Crammon regt sich am nächsten Tag entsetzlich auf, weil die Arbeiterfrau von dem Geld unter anderem eine Kuckucksuhr gekauft habe – dieses Detail ist nun wiederum echt Wassermann!). Nach und nach schneidet Christian die Verbindungen zu seinen Freunden ab, nimmt an ihren Vergnügungen nicht mehr teil, verkauft Stück für Stück seine geerbten Liegenschaften, Schmuck, Antiquitäten und was er sonst besitzt; ein Zerwürfnis mit seiner Familie ist die Folge. Sogar eine - eigentlich - sehr schöne Liebesgeschichte mit einer Tänzerin, die ich als Leserin wohltuend und passgenau fand, beunruhigt ihn nur, weil sie in einer Welt spielt, die er als künstlich und lebensfremd empfindet.
Beim ersten Lesen dachte ich (natürlich), es ginge Christian darum, Gutes zu tun, weil er bedenkenlos Geld verschenkt. Im zweiten Band schreibt er an seinen Vater, der ihm Vorhaltungen macht, der Vater möge Christians Erbteil doch dazu verwenden, Kranken- und Waisenhäuser oder Invalidenheime zu unterstützen, "es gibt so viele Notleidende, und man kann ihr Elend lindern - ich bin dazu nicht imstande, es ist mir sogar ein unangenehmer Gedanke". Ein Heiliger will er also nicht werden. Kurz danach begegnet er der jungen Ruth, einer Siebzehnjährigen, die genau jene Eigenschaften zu haben scheint, die er an sich selbst vermisst und durch seine selbst herbeigeführte Armut auszubilden sucht: eine vorbehaltlose Annäherung an andere Menschen, wie folgende Szene beschreibt.
"Eines Abends kam sie von einer Ausspeisehalle, wo sie zweimal wöchentlich eine halbe Stunde Hilfsdienst leistete, und erzählte Christian von den Menschen, die sie dort zu sehen gewohnt war, den Vernichteten der Großstadt. Sie ahmte Gesten nach, ahmte Mienen nach, gab Bruchstücke erlauschter Gespräche wieder, malte die Gier, den Ekel, die Verachtung, die Scham; es war unerhört beobachtet. Christian begleitete sie das nächste Mal. Er sah wenig, fast nichts. Er sah Leute in defekten Kleidern, die eine karg bemessene Mahlzeit freudlos hinunterschlangen, Brotrinden in die Suppen tunkten und verstohlen den letzten leergegessenen Löffel noch einmal ableckten; hagere Gesichter, trübe Augen, Stirnen, wie mit der hydraulischen Presse eingedrückt, und über dem Ganzen nüchterne Ruhe wie über stillstehenden Maschinen. Er war gequält, als hätte man ihm einen Brief in einer unbekannten Sprache gegeben, und er fing an zu begreifen, daß er nicht sehen und fühlen konnte."