Christoph Martin Wieland: Musarion

  • Es ist schon der 23. und ich wäre ab heute Abend lesebereit.


    Grundlage meiner Lektüre ist die elektronische Ausgabe der Werke im Hanserverlag, 1964 ff. Er beginnt mit einem längeren Vorwort an den "Herrn Kreissteuereinnehmer Weisse" und umfasst 50 Seiten.

    Ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns. (Kafka)

    Einmal editiert, zuletzt von sandhofer ()

  • Sodele, ich habe aus finsburys Beitrag gleich das Startposting der Leserunde gemacht. Ich werde nach der Werkausgabe letzter Hand lesen (Göschen, 1794ff), Band 9, im Reprint der Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur, Nördlingen: Greno, ²1984. Kein Vorwort, etwas über 100 Seiten 8°. :winken:

    Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen? - Karl Kraus

  • Ich hab heute angefangen, auch den Göschen-Reprint (morgen werde ich mir Musarion mal auf den Kindle kopieren, mal sehen, wie es sich darauf liest).


    Wie immer bin ich von der hohen Musikalität von Wielands Sprache hingerissen 8-). Und von seiner ironischen Humanität erst recht.

  • Wie immer bin ich von der hohen Musikalität von Wielands Sprache hingerissen 8-). Und von seiner ironischen Humanität erst recht.


    Ja, Wieland liest sich auch im Musarion äusserst süffig. Kein schwerer Bordeaux, eher Provence oder Langue d'Oc ... ;)

    Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen? - Karl Kraus

  • Zunächst habe ich über das Vorwort geschmunzelt. Aber was zur Hölle hat ein Kreissteuereinnehmer mit der Auflagenerhöhung der Musarion zu tun? Hat W. diese weitere Auflage der Amtsperson zur Vermeidung einer Anzeige wegen Steuerhinterziehung gewidmet? Wäre damit ja hochaktuell, mal abgesehen davon, dass er keine Angst vor Datenankauf haben musste ... .
    Schön auch der Bezug auf Breitinger, bei dem Wieland in Zürich lebte und züchtig empfindelte, bevor er nach Rückkehr in die Heimat eine etwas hedonistischere Lebensweise annahm.


    Und nun die Musarion selbst! Erfreulicherweise hat meine Ausgabe, die tatsächlich wohl der DigiBib entstammte ([size=7pt]ich hab sie bei Ebook für knappe 2 Euronen erworben [/size]:grmpf:), Anmerkungen, wenn auch mit merklicher Patina. Soweit ist es trotz stetigen Bemühens mit meiner klassischen Bildung nämlich nicht, dass ich jede Anspielung verstehe.
    Wir folgen also Phanias auf seinem abendlichen Spaziergang voller entsagungsvoller Gedanken, in so schönen Versen geschrieben, dass ich sie fast gezwungenermaßen vor mich hermurmele, jedenfalls so lange ich allein bin.
    Ein recht langweiliges Kerlchen, ich freue mich schon auf Musarions Auftritt, muss aber leider jetzt zu einer Abendveranstaltung weg.

    Ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns. (Kafka)


  • Aber was zur Hölle hat ein Kreissteuereinnehmer mit der Auflagenerhöhung der Musarion zu tun?


    Ja, zum Vorwort hätte ich mir ein paar Erläuterungen gewünscht, das wimmelt ja nur so vor Anspielungen auf die Rezeption der Musarion & dem Literaturbetrieb der Zeit.


    Anmerkungen, wenn auch mit merklicher Patina.


    Kein Wunder, die Anmerkungen stammen von Wieland ;-), die gehören zum Werk.


  • In der Ausgabe letzter Hand sind alle "ph" der griechischen Namen und Begriffe mit "f" wiedergegeben: Fanias, Filosof ... :breitgrins:


    Ja, das ist mir auch sofort aufgefallen.


    BTW - irgendwo im Göschen-Reprint gibt es eine Anmerkung Wielands zum benutzten Font, der ja, für seine Zeit eher ungewöhnlich, eine Antiqua und keine Fraktur ist. Er begründet das damit, dass eine Fraktur einfach nicht zu seiner eleganten Sprache passe. Oder so ähnlich. Wenn irgendjemand mal über diese Anmerkung stolpert, wäre ich für einen Hinweis dankber. Ich bin seinerzeit darauf gestoßen, als ich große Teile aus dem Reprint gelesen habe. Aber natürlich habe ich mir das damals nicht notiert.

  • BTW - irgendwo im Göschen-Reprint gibt es eine Anmerkung Wielands zum benutzten Font, der ja, für seine Zeit eher ungewöhnlich, eine Antiqua und keine Fraktur ist. Er begründet das damit, dass eine Fraktur einfach nicht zu seiner eleganten Sprache passe. Oder so ähnlich. Wenn irgendjemand mal über diese Anmerkung stolpert, wäre ich für einen Hinweis dankber. Ich bin seinerzeit darauf gestoßen, als ich große Teile aus dem Reprint gelesen habe.


    Habe letzteres auch im Sinn. Bin aber noch - nirgends. :winken:


    Zum Font jedenfalls ist mir nichts aufgefallen. Und es wäre mir sicher.

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  • Im Madrigalvers, ein jambischer Vers, der über keine feste Anzahl von Hebungen verfügt ( bei Wieland ist er meist vier-oder fünfhebig) und kein festes Reimschema aufweist. Der Madrigalvers ist variabler als andere Versformen und eignet sich deshalb gut für Verserzählungen. :winken:

  • Im Madrigalvers, ein jambischer Vers, der über keine feste Anzahl von Hebungen verfügt ( bei Wieland ist er meist vier-oder fünfhebig) und kein festes Reimschema aufweist. Der Madrigalvers ist variabler als andere Versformen und eignet sich deshalb gut für Verserzählungen. :winken:


    Hier irrt doch tatsächlich das Kindler-Ll: Es bezeichnet die Versform als Alexandriner, durchmischt mit Blanck- und Kurzversen. Ich habe jetzt ca. sechs Verse durchgezählt, kam aber immer nur auf fünf, statt auf die sechs vorgeschriebenen Hebungen.
    Der elegisch hingestreckte Phanias sinnt immer noch nach, aber jetzt naht wohl endlich Musarion. Ich komme im Moment einfach nicht weiter: Hocharbeitszeit!

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  • Hocharbeitszeit!


    Ach soo... Les ich doch zuerst glatt: "Hochzeitarbeit"!
    [hr]


    Mittlerweile das erste Buch gelesen. Flirttechnik des 18. Jahrhunderts im Gewand der Antike. Im Grunde genommen belanglos, aber witzig. Oder habe ich, von Wielands Sprache eingelullt, etwas übersehen?

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  • Im Grunde genommen belanglos, aber witzig. Oder habe ich, von Wielands Sprache eingelullt, etwas übersehen?


    ich denke doch. Unter der eleganten, witzigen Oberfläche treten gewissermaßen zwei Lebensentwürfe gegen einander an. So auf die Schnelle: die lebensfeindliche Entsagung, die sich weise denkt und doch nur schwer neurotisch ist gegen die weltweise, dem Leben zugewandte Klugheit, die nicht Gefahr läuft, in selbstzerstörerischer Leidenschaft (gleich welcher Art) unterzugehen. Stoiker gegen die Philosophie der Grazien, gewissermaßen.


    Schon im Vorwort macht Wieland klar, dass es ihm mit "Musarion" ziemlich ernst ist:


    Zitat

    Denn weil ich nun einmal im Bekennen bin, so gestehe ich Ihnen auch, daß dasjenige, was man sonst von allen Schriftstellern sagt, »daß sie sich selbst, sogar wider ihren Willen, in ihren Werken abbilden«, in diesem Gedichte eine meiner Absichten war. Ich wollte, daß eine getreue Abbildung der Gestalt meines Geistes (die von einigen, teils aus Blödigkeit ihres eignen, teils aus zufälligen Ursachen, vielleicht auch aus Vorsatz und Absichten, mißkannt worden ist) vorhanden sein sollte; und ich bemühete mich, Musarion zu einem so vollkommenen Ausdruck desselben zu machen, als es neben meinen übrigen Absichten nur immer möglich war. Ihre Philosophie ist diejenige, nach welcher ich lebe; ihre Denkart, ihre Grundsätze, ihr Geschmack, ihre Laune sind die meinigen. Das milde Licht, worin sie die menschlichen Dinge ansieht; dieses Gleichgewicht zwischen Enthusiasmus und Kaltsinnigkeit, worein sie ihr Gemüt gesetzt zu haben scheint; dieser leichte Scherz, wodurch sie das Überspannte, Unschickliche, Schimärische, (die Schlacken, womit Vorurteil, Leidenschaft, Schwärmerei und Betrug, beinahe alle sittlichen Begriffe der Erdbewohner zu allen Zeiten, mehr oder weniger verfälscht haben,) auf eine so sanfte Art, daß sie gewissen harten Köpfen unmerklich ist, vom wahren abzuscheiden weiß; diese sokratische Ironie, welche mehr das allzustrenge Licht einer die Eigen liebe kränkenden oder schwachen Augen unerträglichen Wahrheit zu mildern, als andern die Schärfe ihres Witzes zu fühlen zu geben sucht; diese Nachsicht gegen die Unvollkommenheiten der menschlichen Natur – welche, (lassen Sie es uns ohne Scheu gestehen, mein Freund,) mit allen ihren Mängeln doch immer das liebenswürdigste Ding ist, das wir kennen. – Alle diese Züge, wodurch Musarion einigen modernen Sophisten und Hierophanten, Leuten, welche den Grazien nie geopfert haben, zu ihrem Vorteile so unähnlich wird – diese Züge – ja mein liebster Freund, sind die Lineamenten meines eignen Geistes und Herzens, und ich wage es, um so dreister es zu sagen, da sich unter unsern Zeitgenossen, und in der Tat unter den Menschen aller Zeiten, keine geringe Anzahl befindet, denen ein moralisches Gesichte, das dem ihrigen so wenig gleicht, notwendig häßlich vorkommen muß. Von Herzen gern sei ihnen das Recht zugestanden, davon zu urteilen, wie sie können: genug für mich, wenn Musarion und ihr Verfasser allen denen lieb ist, und es immer bleiben wird, welche in diesen Zügen ihre eignen erkennen. Weiter wird mein stolzester Wunsch niemals gehen; und so wünsche ich, wie Sie sehen, nichts als was ich gewiß bin, zu erhalten, oder Helvetius und die Erfahrung müssen Unrecht haben.


  • Ich habe jetzt ca. sechs Verse durchgezählt, kam aber immer nur auf fünf, statt auf die sechs vorgeschriebenen Hebungen.


    Schaun wir mal:


    In einem Hain, der einer Wildnis glich (5)
    Und nah am Meer ein kleines Gut begrenzte, (6)
    Ging Phanias mit seinem Gram und sich (5)
    Allein umher; der Abendwind durchstrich (5)
    Sein fliegend Haar, das keine Ros umkränzte; (6)
    Verdrossenheit und Trübsinn malte sich (5)
    In Blick und Gang und Stellung sichtbarlich; (5)
    Und was ihm noch zum Timon fehlt', ergänzte (6)
    Ein Mantel, so entfasert, abgefärbt (5)
    Und ausgenützt, daß es Verdacht erweckte, (6)
    Er hätte den, der einst den Krates deckte, (6)
    Vom Aldermann der Cyniker geerbt. (5)


    Gedankenvoll, mit halb geschloßnen Blicken, (6)
    Den Kopf gesenkt, die Hände auf den Rücken, (6)
    Ging er daher. Verwandelt wie er war, (5)
    Mit langem Bart und ungeschmücktem Haar, (5)
    Mit finstrer Stirn, in Cynischem Gewand (5)
    Wer hätt in ihm den Phanias erkannt, (5)
    Der kürzlich noch von Grazien und Scherzen (5 / 6)
    Umflattert war, den Sieger aller Herzen. (6)
    Der an Geschmack und Aufwand keinem wich, (5)
    Und zu Athen, wo auch Sokraten zechten, (6)
    Beim muntern Fest, in durchgescherzten Nächten, (5 / 6)
    Dem Komus bald, und bald dem Amor glich? (5)


    Also schon ein paar sechshebige Verse, wobei die sechste Hebung zwar oft vergleichsweise schwach, aber IMHO auf jeden Fall vorhanden ist.


    Nan kann natürilch "begrentzte", "umkräntzte", "Blicken", "Rücken" etc mit nur einer Hebung lesen, aber dann fehlt zumindest für mein Ohr ein wenig Halt im Vers. Nicht das man sie meistersingerlich besonders betonen muss, aber so ein leichtes Antippen sollte es für mich schon sein.


    Eindeutig fünfhebig wären die für mich nur, wenn das letzte e fehlen würde, etwa:


    In einem Hain, der einer Wildnis glich (5)
    Und nah am Meer ein kleines Gut begrenzt’, (5)
    Ging Phanias mit seinem Gram und sich (5)
    Allein umher; der Abendwind durchstrich (5)
    Sein fliegend Haar, das keine Ros umkränzt’; (5)


    Aber das ist bei weitem nicht so elegant, sondern eher eintönig.


    Später gibt es auch völlig eindeutige Sechsheber:


    Die Wollust – schön, er fühlt's! – doch nicht mehr schön für ihn –[/]


    Alexandriner sehe ich da trotzdem nicht, da fehlt mir die typische Zäsur in der Mitte:


    [i]Du siehst, wohin du siehst, / nur Eitelkeit auf Erden.
    Was dieser heute baut, / reißt jener morgen ein,
    Wo itzund Städte stehn, / wird eine Wiese sein,
    Auf der ein Schäferskind / wird spielen mit den Herden.


    "Erden" und "Herden" werden hier natürlich zu "Erden" und "Herdn" verschliffen.


    So wie bei


    Gold zieht magnetischer, als Schönheit, Witz und Jugend:
    […]
    So flieht der Näscher Schwarm, und Lais spricht von Tugend.


    "Jugend" und "Tugend" zu "Jugnd" und "Tugnd" werden.


  • Zunächst habe ich über das Vorwort geschmunzelt. Aber was zur Hölle hat ein Kreissteuereinnehmer mit der Auflagenerhöhung der Musarion zu tun?


    Ich habe mein Reclam-Heftchen der Musarion wiedergefunden. In den Anmerkungen heißt es:


    Zitat

    Weisse, der seinerzeit berühmte Singspieldichter, Dramatier und Lyriker Christian Felix Weisse (1726-1804) hatte wenige Monate vorher das "Musarion"-Manuskript Wielands neuem Verleger in Leipzig dringend empfohlen. Aus diesem Grunde kann Wieland in seiner Widmung an Weisse auch von "unsrer Musarion" sprechen.


    Die Wikipedia belehrt uns dann:


    Zitat

    1761 wurde Weiße Kreissteuereinnehmer in Leipzig und erbte 1790 das Rittergut Stötteritz bei Leipzig. Möglich wurde dies u.a. durch das Mäzenatentum des Grafen Schulenburg.


    http://de.wikipedia.org/wiki/Christian_Felix_Weiße


    Den Anmerkungen entnehme ich auch, dass Phanias ein aus "Eresos auf Lesbos stammender Schüler des Aristoteles und Geschichtsschreiber" und Bathyl (Bathyllos) ein "Jüngling, dessen Schönheit von Anakreon besungen wurde" war.

  • Schaun wir mal:


    In einem Hain, der einer Wildnis glich (5)
    Und nah am Meer ein kleines Gut begrenzte, (6)
    ....


    Und so zähle ich:


    In einem Hain, der einer Wildnis glich(5)
    x ´x x ´x x ´x x ´x x ´x
    Und nah am Meer ein kleines Gut begrenzte(5)
    x ´x x ´x x ´x x ´x x ´x x
    Ging Phanias mit seinem Gram und sich (5)
    Allein umher; der Abendwind durchstrich (5)
    Sein fliegend Haar, das keine Ros umkränzte; (5)
    Verdrossenheit und Trübsinn malte sich (4)
    x ´x x ´x x ´x x ´x x x
    In Blick und Gang und Stellung sichtbarlich; (4)
    x ´x x ´x x ´x x ´x x x
    Und was ihm noch zum Timon fehlt', ergänzte (5)
    Ein Mantel, so entfasert, abgefärbt (5)
    Und ausgenützt, daß es Verdacht erweckte, (5)
    Er hätte den, der einst den Krates deckte, (5)
    Vom Aldermann der Cyniker geerbt. (4)
    ......
    So geht es weiter. Also meist 5 Hebungen, manchmal 4 (dann sind Daktylen oder Trochäen unter die Jamben gemischt - aber will/kann/soll man das -[i]lich
    in sichtbarlich betonen?) Der letzte Vers: Vom Aldermann… hat eigentlich sogar nur 3 Hebungen!

    Zitat von Giesbert Damaschke<br>« am: Gestern um 22:43 »

    Eindeutig fünfhebig wären die für mich nur, wenn das letzte e fehlen würde..


    Warum das denn, das sind weibliche/klingende(weil unbetonte) Kadenzen. Und nicht die sechste Hebung…


    Zitat von Giesbert Damaschke<br>« am: Gestern um 22:43 »

    Nan kann natürilch "begrentzte", "umkräntzte", "Blicken", "Rücken" etc mit nur einer Hebung lesen, aber dann fehlt zumindest für mein Ohr ein wenig Halt im Vers. Nicht das man sie..


    Man kann nicht nur, man muss! Wie willst du in „ begrenzte“ zwei Hebungen unterbringen? Und wie in den Zweisilbern Blicken etc.? Zweisilbige Wörter haben im Deutschen nie zwei Hebungen.


    Zitat von Giesbert Damaschke« am: Gestern um 22:43 »

    Später gibt es auch völlig eindeutige Sechsheber:
    Die Wollust – schön, er fühlt's! – doch nicht mehr schön für ihn –[/]


    Der Vers hat tatsächlich 6 Hebungen und sogar die typische Zäsur des Alexandriners. Wie gesagt, das Madrigal ist tolerant - warum sollte es nicht auch den einen oder anderen Alexandriner verkraften? :zwinker: