Theodor Fontane: Frau Jenny Treibel

  • Stine, Effi Briest, Frau Jenny Treibel. Selbst wenn Fontane nur den Namen der Protagonistinnen als Romantitel wählt, lässt er es an Abwechslung nicht fehlen. Einmal nur den Vornamen, ein anderes Mal Vor- und Nachnamen, hier jetzt zusätzlich noch die Anrede. Zufall? Bei Fontane sicher nicht. Ich denke er will damit was zu Recht rücken, was sonst leicht untergehen könnte. Jenny Treibel wird ja im Roman ständig als Kommerzienrätin angesprochen, obwohl sie tatsächlich diesen Titel nie erhalten hat. Aber in dieser Zeit definierten sich die Frauen über den Beruf oder den Titel ihres Ehemannes. Fontane erinnert mit dem Romantitel daran, dass Jenny Treibel unabhängig von der Anrede keine Kommerzienrätin ist, sondern die Frau Jenny Treibel aus der Adlerstraße bleibt.


    Anders als bei anderen Romantitel von Fontane haben wir hier auch noch einen Untertitel:
    Frau Jenny Treibel oder „Wo sich Herz zum Herzen find’t
    Diese Zeile aus Schillers „Lied von der Glocke“
    „Drum prüfe, wer sich ewig bindet,
    Ob sich das Herz zum Herzen findet!“
    haben wir als Schüler immer abgewandelt:
    „Drum prüfe, wer sich ewig bindet,
    ob sich nicht noch was Besseres findet!“
    Weil es in dem Roman ja auch um mögliche Heirat zwischen Arm und Reich geht, wird für Fontane noch eine andere parodistische Version dieser Zeile zum Untertitel beigetragen haben:
    „Drum prüfe, wer sich ewig bindet,
    ob sich das nötige Geld auch findet!“


    Der Romananfang dann wie gewohnt bei Fontane. Wir erfahren etwas über die Zeit: einer der letzten Maitage, und die genaue Geografie des Geschehens: Wir befinden uns in Berlin-Mitte: Spittelmarkt, Kur- und Adlerstraße. Auf der nächsten Seite wird noch die Spreegasse erwähnt. Da ich mich momentan etwas mit Wilhelm Raabe beschäftige, kann ich zur Spreegasse das folgende berichten.


    Raabe hat während seines Studiums in Berlin 1854/1855 in der Spreegasse Nr. 11 gewohnt und dieser in seinem Roman „Die Chronik der Sperlingsgasse“ ein literarisches Denkmal gesetzt. 1931 anlässlich des 100. Geburtstages des Dichters wurde dann die Spreegasse tatsächlich in Sperlingsgasse umbenannt.



    Ansonsten: Frau Jenny Treibel fährt mit einer Kutsche (Marke: Landauer) in der Adlerstraße bei Professor Schmidt vor um dessen Tochter Corinna zu einem Dinner einzuladen, das die Treibels zu Ehren eines Geschäftspartners ihres Sohnes Otto, Mr. Nelson aus Liverpool am nächsten Tag geben.

  • Hallo,



    Aber in dieser Zeit definierten sich die Frauen über den Beruf oder den Titel ihres Ehemannes.


    Nicht nur in dieser Zeit. Zur Frau meines Arztes wird auch immer "Frau Doktor" gesagt obwohl sie keinen Doktor hat, wahrscheinlich die Uni immer nur von außen sah.
    Manche Traditionen bleiben eben bestehen.


    Ich habe bisher die ersten drei Kapitel gelesen und bereits im ersten war mir die liebe Kommerzienrätin unsympathisch. Im Grunde kann ich gar nicht so genau sagen warum, aber dieses ständige Meckern und alles besser wissen hat mich echt verrückt gemacht.


    Mittlerweile bin ich beim Diner angelangt und habe schon eine Menge Leute kennen gelernt, die dort auftauchen, unter anderem die beiden Damen Ziegenhals und Boomst. Wo hat Fontane immer nur die Namen seiner Figuren her?


    Bisher kann ich über die Geschichte noch nicht viel sagen, außer dass sie bisher nur dahinplätschert und da ich den Inhalt nicht kenne, habe ich auch keine Ahnung wohin die Reise geht.


    Katrin

  • Hallo,
    ich bin auch im 3. Kapitel angelangt. Die Frau Kommerzienrätin wirkt auf mich sehr herablassend. Das wurde mir am ersten Kapitel deutlich, in dem sie Corinna einladt.


    Leider habe ich eine Ausgabe ohne Anmerkungen erwischt. So verstehe ich manche Äußerungen nur halb.
    Hat jemand eine Ausgabe mit Anmerkungen?


    Erika
    :blume:

    Wer Klugheit erwirbt, liebt das Leben und der Verständige findet Gutes.
    <br />Sprüche Salomo 19,8


  • Die Frau Kommerzienrätin wirkt auf mich sehr herablassend. Das wurde mir am ersten Kapitel deutlich, in dem sie Corinna einladt.


    Ja stimmt, das ist mir auch aufgefallen.


    Ich lese leider auch ohne Kommentarteil, habe mir aber heute in der Buchhandlung aus dem Reclam Verlag "Erläuterungen und Dokumente" zu Jenny Treibel bestellt und kann dann gegebenenfalls Interessantes hier mitteilen. Oder wenn dir etwas nicht klar ist, einfach fragen.


    Gruß
    montaigne


  • und kann dann gegebenenfalls Interessantes hier mitteilen.


    Hier folgt Teil 1:


    Erläuterungen 1. Kapitel:
    Landauer: eine nach der pfälzischen Stadt Landau benannte viersitzige Kutsche, deren Verdeck in zwei Hälften auseinandergeschlagen werden konnte.
    so gut wie von der Kolonie: gemeint ist die „französische Kolonie“, ein Teil der Berliner Bevölkerung, der von den im 17. Jahrhundert eingewanderten Franzosen (wegen ihres kalvinistischen Glaubens aus Frankreich vertriebene Hugenotten) abstammten. Auch Fontane gehörte zur Kolonie
    Lorgnon: Brille ohne Bügel, die an einem Stiel vor die Augen gehalten wird.
    Hövell: Berliner Schokoladenfabrik
    Kranzler: Vornehmstes Berliner Café der Fontane Zeit
    Mr. Booth: Der amerikanische Schauspieler Edwin Thomas Booth brillierte vor allem als Shakespeare-Darsteller


    Erläuterungen 2. Kapitel:
    Berliner Blau: auf der folgenden Wikipedia-Seite zu diesem chemischen Farbstoff wird im letzten Absatz zur Geschichte auch Fontanes Roman erwähnt:
    http://de.wikipedia.org/wiki/Berliner_Blau
    siebziger Krieg, die Milliarden: nach dem deutsch-franz. Krieg 1870/71 musste Frankreich 5 Mrd. Francs Entschädigung an Deutschland bezahlen.
    Gründeranschauungen: In den Gründejahren (1871-73) führte die Kriegsentschädigung von Frankreich, zu einer übertriebenen Spekulation und zur Gründung zahlreicher Unternehmen, von denen ein Großteil 1873 nach einem Kurssturz zusammenbrach.
    gutta cavat lapidem: lat.: der Tropfen höhlt den Stein
    früher Moldau und Walachei: die selbständigen Fürstentümer Moldau und Walachei wurden 1861 zum Fürstentum Rumänien vereinigt.
    Fernambuk- und Campecheholz: wertvolle Hölzer aus Süd- bzw. Mittelamerika


    Erläuterungen 3. Kapitel:
    Burgemeister Tschech: Tschech verübte am 26.7.1844 in Berlin ein Attentat auf Friedrich Wilhelm IV und wurde am 14.12.1844 in Spandau durch das Beil hingerichtet.
    Herwegh: Georg Herwegh (1817-1875, deutsche Dichter, dessen politische Lyrik im vorrevolutionären Deuschland von starker Wirkung war. Der junge Fontane war Mitglied eines Herwegh-Club in Leipzig.
    l’appétit vient en mangeant: „Der Appetit kommt beim Essen“, geflügeltes Wort aus dem Roman „Gargantua und Pantagruel“ von Rabelais.
    Vielliebchen: gesellschaftlicher Spaß, bei dem zwei sich eine Frucht teilen.


    Erläuterungen 4. Kapitel:
    Medisance: franz.: Lästerrede, Klatsch
    Lady Milford: Fürstengeliebte in Schillers „Kabale und Liebe“
    Meine Ruh ist hin: Lied Gretchen aus Goethes Faust
    Loewe: Carl Loewe (1796 – 1869), Komponist
    ex ungue leonem: lat.: an der Klaue (erkennt man) den Löwen


    Erläuterungen 5. Kapitel:
    Parochialkirchturm: Kirche nahe der Spree mit berühmtem Turm (Singuhrturm)
    die berühmte Stelle von dem Kanadier: Anspielung auf das Gedicht „Der Wilde“ von Seume
    Gilka: Kümmellikör

  • Danke für die Erläuterungen, montaigne.


    Das meiste habe ich einfach so hingenommen, nur beim Vielliebchen habe ich überlegt was das sein soll. Ich muss unbedingt meine Erläuterungen, die ich mir schon lange gekauft habe, herauskramen.


    Katrin


  • Vielliebchen: gesellschaftlicher Spaß, bei dem zwei sich eine Frucht teilen.



    Das meiste habe ich einfach so hingenommen, nur beim Vielliebchen habe ich überlegt was das sein soll.


    Ja, das Vielliebchen ist ein Brauch, der etwa um 1820 beim Essen aufkam. Wurde beim Dessert unter den Mandeln (oder Haselnüssen) eine Doppelmandel in einer Schale gefunden wurde diese je zur Hälfte von einem Mann und einer Frau gegessen und dabei gewettet. Derjenige, der am nächsten Morgen zuerst den anderen mit dem Satz "Guten Morgen, Vielliebchen" begrüßte, hatte gewonnen und erhielt von dem anderen ein kleines Geschenk, ev. auch einen Kuss.


    Am Ende des dritten Kapitel in Fontanes Roman „Frau Jenny Treibel“ wird das Spiel wie folgt erwähnt:
    „Nelson vergaß über dieser Vorstellung beinahe all' seinen Groll und bot Corinna, während er eine Knackmandel von einem der Tafelaufsätze nahm, eben ein Vielliebchen an, als die Commerzienrätin den Stuhl schob und dadurch das Zeichen zur Aufhebung der Tafel gab.“


    Aber auch in Fontanes Roman „Der Stechlin“ isst die Stiftsdame Frau von Schmargendorf ein Vielliebchen aus zwei zusammengewachsenen Pflaumen, die sie in einem Kohlblatt aufbewahrt hat, zusammen mit Hauptmann von Czako. Erwähnt wird das im 8. und 9. Kapitel:
    8. Kapitel
    Als sechs Uhr heran war, erschien Fritz und führte die Pferde vor. Czako wies darauf hin. Bevor er aber noch an die Domina herantreten und ihr einige Dankesworte sagen konnte, kam die Schmargendorf, die kurz vorher ihren Platz verlassen, mit dem großen Kohlblatt zurück, auf dem die beiden zusammengewachsenen Pflaumen lagen. »Sie wollten mir entgehen, Herr von Czako. Das hilft Ihnen aber nichts. Ich will mein Vielliebchen gewinnen. Und Sie sollen sehen, ich siege.«
    9. Kapitel
    Sie zeigte das auch, war steif und schweigsam und belebte sich erst wieder, als die Schmargendorf mit einem Male glückstrahlend versicherte: jetzt wisse sie's; sie habe noch eine Photographie, die wolle sie gleich an Herrn von Czako schicken, und wenn er dann morgen mittag von Cremmen her in Berlin einträfe, dann werd' er Brief und Bild schon vorfinden und auf der Rückseite des Bildes ein »Guten Morgen, Vielliebchen«.


    Und auch im 9. Kapitel von „Irrungen, Wirrungen“ erwähnt Fontane das Vielliebchen:
    »Du sollst gewonnen haben, Lene. Wir essen heute noch ein Vielliebchen, und dann geht alles in einem. Nicht wahr, Frau Dörr?«


    Aber auch andere deutsche Realisten scheinen das Spiel zu kennen:


    Wilhelm Raabe: Gutmanns Reisen 11. Kapitel
    „Man war bei den Krachmandeln angekommen und Alois schlug eben Klotilden vor, ein Vielliebchen mit ihm zu essen, als die Worte Großdeutsch und Kleindeutsch wie Blitze über die Tafel fuhren und erhöhter Gesprächsdonner ihnen nachrollte.“


    Gustav Freytag: Soll und Haben
    «Eine gute Akquisition», rief die gnädige Frau erfreut, denn der Leutnant war, was man einen geistreichen Offizier nennt, er machte niedliche Verse in Familienalbums und zu verlorenen Vielliebchen, war unübertrefflich im Arrangement von mimischen Darstellungen und stand in dem Ruf, irgendeinmal in ein Taschenbuch eine Novelle geschrieben zu haben. «Herr von Zernitz ist ein liebenswürdiger Gesellschafter.»



    Kennt eigentlich heute noch jemand diesen oder ähnliche Scherze? Ich jedenfalls werde mir mal gelegentlich eine Tüte Krachmandeln besorgen.

  • Es geht weiter mit Teil 2 der Erläuterungen:


    Erläuterungen 6. Kapitel:
    Die sieben Waisen Griechenlands: scherzhafte Anspielung auf die sieben Weisen Griechenlands, eine Gruppe bedeutender Männer des 7. Jh. v. Chr. die vor allem durch ihre Maximen bekannt sind, so z.B. „Erkenne dich selbst“
    in der „Griechischen“: bei der „Griechischen Gesellschaft“ einem anderen Abendtreff
    Bild zu Sais: „Das verschleiere Bild zu Sais“ ist ein Gedicht Schillers über die dem Menschen verborgene Wahrheit
    Mr. Punch: der Kasper des englischen Puppenspiels und Titelfigur des englischen, satirischen Wochenblatts „Punch“.
    hic Rhodus, hic salta: hier ist Rhodos, hier springe, lat. Form eines griechischen geflügelten Wortes aus einer Äsop-Fabel, in der ein Großmaul prahlt, dass er einst in Rhodos einen gewaltigen Sprung getan hat.


    Erläuterungen 7. Kapitel:
    comprendre c’est pardonner: Verstehen heißt Verzeihen, geht auf einen Satz aus dem Roman „Corinne ou l’Italie“ der Madame de Stael zurück: tout comprendre c’est tout pardonner
    Semilassos Weltfahrten: Von einer seiner Reisen, die er unter dem Pseudonym Semilasso in mehreren Romanen schilderte brachte Fürst Hermann Pückler-Muskau eine schwarzhäutige Frau mit.

    Erläuterungen 8. Kapitel:
    unter König Christian gegraft worden: Christian IV. von Dänemark (1577-1648) hatte 1615 die bürgerliche Christine Munk geheiratet und zur Gräfin erhoben
    Syndikatsfamilie: vornehme Kaufmannsfamilie, deren Mitglieder ein städtisches Amt bekleideten.
    bei den Gardedragonern: Berlin war nach 1870 Garnison zahlreicher Regimenter, von denen die beiden Garde-Dragoner-Regimenter „Königin Victoria von England“ und „Kaiserin Alexandra von Russland“ als traditionsreiche Elite-Regimenter galten.
    Pferdebahnwagen: Die Pferdebahn, ein von Pferden gezogenes Schienenfahrzeug , wurde 1865 in Berlin eingeführt und war der Vorläufer der elektrischen Straßenbahn, die schon 1881 in Lichterfelde bei Berlin in Betrieb genommen wurde.