Nov. 2011 Joseph Conrad - Lord Jim

  • Hallo zusammen,
    hallo finsbury,


    morgen beginnt die Leserunde "Lord Jim". Möchte sich uns noch jemand anschließen?


    Das Buch wurde 1900 im Blackwood's Magazine zum ersten Mal publiziert. Eine moralische, aber auch eine Abenteuer-Geschichte. Wir dürfen gespannt sein.


    Hier gehts zur Materialiensammlung:
    http://www.klassikerforum.de/index.php/topic,4470.0.html


    Gruß,
    Maria

    In der Jugend ist die Hoffnung ein Regenbogen und in den grauen Jahren nur ein Nebenregenbogen des ersten. (Jean Paul F. Richter)

  • Hallo finsbury,


    stress dich nicht, ein Tag hin oder her, macht ja nichts. Ich beginne entweder morgen abend oder am Dienstag.


    Gruß,
    Maria

    In der Jugend ist die Hoffnung ein Regenbogen und in den grauen Jahren nur ein Nebenregenbogen des ersten. (Jean Paul F. Richter)

  • Halllo Maria,


    habe anfangen können. Sofort dieser Conrad-Salzwasser-Sog!


    Aber was ich nicht verstehe: In meiner Ausgabe (S. Fischer TB von 1998) sagt Conrad in seinem Vorwort zu einer 17 Jahre später erscheinenden Auflage, dass die Leser Probleme mit der Erzählperspektive gehabt hätten: alles aus der Sicht des hinlänglich bekannten Kapitän Marlow, der dies alles erzählt. Ich habe nun aber die ersten vier Erzählabschnitte gelesen, und die sind aus der Sicht eines anonymen Er-Erzählers geschrieben. Hmmm ....
    Ansonsten: Schon Jims erste Erlebnisse auf dem Schulschiff deuten darauf hin, dass er Schwierigkeiten haben wird, seine Träume von Ruhm und Ehre angesichts seiner Reaktionen auf Gefährdungen aufrecht erhalten zu können.


    finsbury

  • Hallo finsbury,




    Aber was ich nicht verstehe: In meiner Ausgabe (S. Fiscger TB von 1998) sagt Conrad in seinem Vorwort zu einer 17 Jahre später erscheinenden Auflage, dass die Leser Probleme mit der Erzählperspektive gehabt hätten: alles aus der Sicht des hinlänglich bekannten Kapitän Marlow, der dies alles erzählt. Ich habe nun aber die ersten vier Erzähleabschnitte gelesen, und die sind aus der Sicht eines anonymen Er-Erzählers ge-schrieben. Hmmm ....



    bisher lässt sich noch nichts auf Marlow schließen. Allerdings heißt es, dass man in Erlebter Rede nicht immer weiß, wer erzählt. Theoretisch müsste sich das Rätsel noch lösen. Das finde ich bereits sehr geheimnisvoll.



    ich war auch sofort in einem Sog ( Conrad-Salzwasser-Sog - genau ! )
    in den ersten 3 Kapiteln, die ich nun gelesen habe, erfährt man bereits alles notwendige über Jim. Er ist ca. 180 cm groß, stammt aus einem Pfarrhaus, als Wasserkommis trägt er weiß (träumerische Unschuld?), war makellos sauber, seinen Spitznamen "Lord" hat er von den malaiischen Eingeborenen bekommen. In diesem Zusammenhang (weiß) fand ich auch den Ausdruck "schwarzer Undank" im 1. Kapitel sehr auffallend.


    Zitat


    Ansonsten: Schon Jims erste Erlebnisse auf dem Schulschiff deuten darauf hin, dass er Schwierigkeiten haben wird, seine Träume von Ruhm und Ehre angesichts seiner Reaktionen auf Gefährdungen aufrecht erhalten zu können.



    das Träumen über Heldentum wiederholt sich auf der Patna.


    Zu solchen Zeiten waren seine Gedanken ganz bei herzhaften Taten: er liebte diese Träume und das Gelingen seiner eingebildeten Handlungen. Sie waren das Beste vom Leben, seine geheime Wahrheit, seine verborgene Wirklichkeit.



    mit der unbunten Farbe "Schwarz" hat es der Autor auffallend; weiteres Beispiel:

    Und das Schiff zog, schwarz und qualmend, unentwegt seine Bahn, ausgedörrt von den Flammen, mit denen ein erbarmungsloser Himmel es geißelte.



    In seinen Sätzen über das Meer kann man wirklich versinken.



    Gruß,
    Maria

    In der Jugend ist die Hoffnung ein Regenbogen und in den grauen Jahren nur ein Nebenregenbogen des ersten. (Jean Paul F. Richter)

    Einmal editiert, zuletzt von JMaria ()

  • Hallo Maria und alle,


    mein Problem mit Marlow hat sich nun geklärt:
    In Kap. IV, der Gerichtsverhandlung, tritt Marlow, zunächst noch ohne namentliche Bezeichnung, als Zuhörer auf und übernimmt dann ab Kap. V - zumindest zunächst - die Schilderung des Geschehens aus seiner Sicht.
    Mich stört nicht, was Conrad selbst im Vorwort rechtfertigt, dass eine Person nicht so lange am Stück sprechen würde. Diese Fiktion unterstellen viele Autoren in einer Rahmenhandlung. Dass der Roman allerdings in der personalen Erzählweise ohne Ich-Kommentator beginnt, finde ich doch etwas unlogisch.


    Ansonsten ist Conrads Verwendung von Farbsymbolik wirklich auffällig, Maria: weiß, schwarz und auch immer wieder blau werden miteinander kontrastiert, wobei schwarz für die Nemesis stehen könnte, weiß, wie du es gedeutet hast, und blau, die Farbe des Meeres, aber auch der Augen des einen - verständnisvollen - Gerichtsbeisitzers, könnte Klarheit, ja sogar Aufgehobenheit einerseits bedeuten, aber
    auch die Unendlichkeit der Natur. Blau wird häuifg nicht als Farbe benannt, aber Conrad spricht oft vom Leuchten des Himmels oder der spiegelnden Meeresfläche ( besonders in Kap.3).


    Nun muss ich leider los, hab noch einen Abendtermin.


    finsbury

  • Hallo finsbury,


    bin nun bei der Stelle, wo sich Marlow gerne den Geschichtenerzähler gibt und wenn es nur darum geht "die Zeit nach Tisch zu vertreiben".


    Sie rekeln sich in deinen guten Stühlen und denken bei sich selbst: 'Zum Teufel mit allen Anstrengungen. Lassen wir diesen Marlow reden!'


    ähnlich wie in "Jugend" und "Herz der Finsternis"; nur dass Marlow in diesem Buch zuerst nicht namentlich auftritt, wie du bereits erwähnt hast.


    Mir fiel außerdem der Begriff "faule Stelle" im Anfang 5. Kapitel auf, das ähnelt dem Begriff aus dem 2. Kapitel ... "den faulen Fleck, das Bemühen, sich ohne Anstrengung und Gefahr durchs Leben hindurchzuwinden."


    Ich habe mit dem 5. Kapitel begonnen, werde aber heute abend nicht sehr weit kommen, frage mich aber bereits, was mit den 800 Pilgern passiert ist.


    Gruß,
    Maria

    In der Jugend ist die Hoffnung ein Regenbogen und in den grauen Jahren nur ein Nebenregenbogen des ersten. (Jean Paul F. Richter)

  • Hallo finsbury,


    ich möchte kurz aus einem Vorwort zitieren, das ich in "Der Spiegel der See" fand und sehr gut hierher passt, wegen J.Cs große Liebe zur See:


    (...)Damit habe ich hier wohl genug über diese meine Abschiedsworte, über das letzte Aufflammen meiner großen Leidenschaft für die See gesagt. Ich nenne sie groß, denn für mich war sie es. Andere mögen sie eine törichte Verblendung nennen. Solche Worte werden bei jeder Liebesbeziehung gebraucht. Aber was auch immer es sein mag, die Tatsache bleibt bestehen, dass es etwas viel zu Großes war, um es in Worten zu fassen.... (...) J. C.


    er hat es versucht und wir können es genußvoll annehmen.


    Edit:
    Kennst du den deutschen Marinemaler Hans Peter Jürgens? Seine malerischen Impressionen zu Textauszügen von J.C. sind sehenswert.


    http://www.amazon.de/Spiegel-S…TF8&qid=1320841563&sr=8-1


    http://www.flensburg.de/imperi…/priwall_home_500x370.jpg
    http://www.entdecken-sie-ihre-raeume-neu.de/home3.htm





    Gruß
    Maria

    In der Jugend ist die Hoffnung ein Regenbogen und in den grauen Jahren nur ein Nebenregenbogen des ersten. (Jean Paul F. Richter)

    Einmal editiert, zuletzt von JMaria ()

  • nochmals hallo,


    finsbury,
    jetzt ergibt für mich auch eine Aussage aus dem 1. Kapitel mehr Sinn; dort wird von einem Fluchtverhalten Jims beschrieben.


    Sein Inkognito, das so löcherig war wie ein Sieb, sollte keine Persönlichkeit, sondern eine Tatsache verbergen. Wenn die Tatsache durch das Inkognito hindurchschimmerte, verließ er schleunigst den Seehafen, und ging nch einem andern - gewöhnlich weiter nach Osten.


    Ich liebe es an einem Buch, wenn so nach und nach Andeutungen aus vorherigen Kapiteln ans Licht kommen und sich erklären.


    Gruß,
    Maria

    In der Jugend ist die Hoffnung ein Regenbogen und in den grauen Jahren nur ein Nebenregenbogen des ersten. (Jean Paul F. Richter)

  • Hallo Maria,



    jetzt ergibt für mich auch eine Aussage aus dem 1. Kapitel mehr Sinn; dort wird von einem Fluchtverhalten Jims beschrieben.


    Sein Inkognito, das so löcherig war wie ein Sieb, sollte keine Persönlichkeit, sondern eine Tatsache verbergen. Wenn die Tatsache durch das Inkognito hindurchschimmerte, verließ er schleunigst den Seehafen, und ging nch einem andern - gewöhnlich weiter nach Osten.


    Ich liebe es an einem Buch, wenn so nach und nach Andeutungen aus vorherigen Kapiteln ans Licht kommen und sich erklären.


    Na, dann hast du an diesem Roman bestimmt deine Freude! Mir macht es nichts aus, wenn ich schon von Anfang an weiß, worauf alles hinausläuft. Bei Literaturlexikon-geweihter Literatur lese ich auch vor der Lektüre immer erst den einschlägigen Artikel, werde mich aber ab jetzt zurückhalten, dir etwas zu verraten.
    (Bei Krimis schlage ich übrigens auch meist vor dem 2. Drittel nach, wer der Mörder ist, danach macht mir die Lektüe mehr Spaß! :redface:)


    Dennoch, wahrscheinlich bist du ja schon darüber hinaus: Das V. Kapitel besteht - neben den moralphilosophischen Exkursen - ja fast nur aus Andeutungen. Man erfährt, dass der Kapitän, die beiden Ingenieure und der erste Offizier Jim gestrandet oder aufgefunden worden sind und dass sie in irgendwas sehr Ehrenrühriges verwickelt sind, was das aber ist, bleibt nebulös. Auch das VI. Kapitel beginnt so und führt wieder so eine herrlich ironisch gezeichnete Nebenfigur ein, Brierly, der als erster gestehen würde,


    dass es seiner Meinung nach auch nicht ein zweites Mal solch einen Kapitän gab.


    Auch ist interessant, wie abgestuft Conrad die vier Offiziere vom Schiff darstellt, in Bezug darauf, wie sie ihre Schuld verarbeiten. Der Kapitän, der schließlich wie auf jedem Schiff die Hauptverantwortung trägt, wird innerlich und äußerlich als Schwein dargestellt (übrigens interessant, dass er Deutscher ist; Ich weiß nicht, welches Verhältnis COnrad sonst zu den Deutschen hat, ist vielleicht nur Zufall). Er jedenfalls wird, nachdem er genügend in seiner Erbärmlichkeit vorgeführt wurde, einfach erzählerisch abserviert, indem er flieht und sich den Folgen des Prozesses entzieht. Fast ebenso sieht es mit dem 2. Ingenieur aus, der in einem der Vorkapitel schon sehr unsympathisch dargestellt wurde.
    Der 1. Ingenieur jedoch, ein alter Säufer, erhält mehr Aufmerksamkeit und auch Zuwendung durch Marlow, der ihn extra aufsucht und entsetzt flieht, als er erkennt, dass das Schuldgefühl den alten Offizier nun anscheinend restlos um den Verstand gebracht hat.


    Ich komme nur sehr langsam voran und hoffe ab Samstag wieder mehr Zeit zum Lesen zu finden.


    finsbury

  • Hallo finsbury,


    du brauchst dich nicht zurückzuhalten. Bei Klassikern ist es für mich wichtiger, wie der Autor mich durch sein Werk führt. Also keine Angst vor Spoilern :-)




    Dennoch, wahrscheinlich bist du ja schon darüber hinaus: Das V. Kapitel besteht - neben den moralphilosophischen Exkursen - ja fast nur aus Andeutungen. Man erfährt, dass der Kapitän, die beiden Ingenieure und der erste Offizier Jim gestrandet oder aufgefunden worden sind und dass sie in irgendwas sehr Ehrenrühriges verwickelt sind, was das aber ist, bleibt nebulös. Auch das VI. Kapitel beginnt so und führt wieder so eine herrlich ironisch gezeichnete Nebenfigur ein, Brierly, der als erster gestehen würde,


    dass es seiner Meinung nach auch nicht ein zweites Mal solch einen Kapitän gab.



    Brierly als Kontrast zu Jim.


    Die Geschichte mäandert um Nebenfiguren und um Geheimnissen, bewundernswert, dass der Autor alle Fäden immer wieder zusammenbringt. Jeder von den Figuren birgt ein Geheimnis, um den Wesenskern des Lebens. Doch auch Marlow kann nicht alle Geheimnisse aufdecken.


    Ich komme zum 9. Kapitel.


    Gruß,
    Maria

    In der Jugend ist die Hoffnung ein Regenbogen und in den grauen Jahren nur ein Nebenregenbogen des ersten. (Jean Paul F. Richter)

  • Hallo finsbury,


    heute bin ich nicht zum Lesen gekommen. Ich wollte dich kurz noch fragen, ob du auch findest, dass Jim nur schwer zu fassen ist. Selbst Marlow sagt, dass der Bursche aussehe wie ein neuer Sovereign, aber es war ein teuflischer Zusatz in seinem Metall. Dennoch ist Marlow gerne bereit ihn zu trösten, ich glaube er ist von dessen Aussehen beeindruckt. Sein Charakter bleibt doch sehr verschwommen.


    Gruß
    Maria

    In der Jugend ist die Hoffnung ein Regenbogen und in den grauen Jahren nur ein Nebenregenbogen des ersten. (Jean Paul F. Richter)

  • Hallo Maria,


    konnte erst in der Nacht zu heute weiterlesen und stecke nun im VIII. Kapitel, bin also weniger weit als du.


    Brierly als Kontrast zu Jim.


    Ich glaube, dass Brierly eher eine Parallele zu Jim darstellen soll. Anscheinend hat er ja auch irgendwie Schuld auf sich geladen, an die er durch Jims Prozess erinnert wird und begeht dann Selbstmord ohne jede Erklärung, also auch ohne ein Schuldeingeständnis, genau so, wie auch Jim nicht fähig ist, sich seine Schuld einzugestehen, sondern immer noch davon träumt, ein heldenhaftes Leben zu führen.
    Die Situation auf dem Dampfer ist tatsächlich schwierig. Wie würde ein mutiger und heldenhafter Mensch damit umgehen? In aller Schnelle, Frauen, Kinder, junge Leute zuerst in die Boote und mit den anderen versuchen, das Schott zu verstärken?
    Dem Leser wird einerseits durch Jims Erzählung vermittelt, dass das Sinken eine Frage von Sekunden gewesen sei, andererseits wird die Zeit durch die moralischen Exkurse so gedehnt, dass ich mich unwillkürlich fragte, ob man nicht doch locker Zeit zum Abfieren der Rettungsboote gehabt hätte. So können einen Erzählzeit und erzählte Zeit in die Irre führen.



    Ich wollte dich kurz noch fragen, ob du auch findest, dass Jim nur schwer zu fassen ist. Selbst Marlow sagt, dass der Bursche aussehe wie ein neuer Sovereign, aber es war ein teuflischer Zusatz in seinem Metall. Dennoch ist Marlow gerne bereit ihn zu trösten, ich glaube er ist von dessen Aussehen beeindruckt. Sein Charakter bleibt doch sehr verschwommen.


    Ja, das geht mir auch so. Vor allem dieser Charakterzug, dass er immer noch davon träumt, ein Held zu sein, obwohl er doch nun gerade so kläglich gescheitert ist, ist für mich schwierig zu verstehen. Dass er seine eigene moralische Schuld verdrängt, kann ich psychologisch nachvollziehen, aber dieses gleichzeitige Bewusstsein, eigentlich ein mit allen Wassern gewaschenener Held sein zu können, hmm.


    finsbury


  • Ja, das geht mir auch so. Vor allem dieser Charakterzug, dass er immer noch davon träumt, ein Held zu sein, obwohl er doch nun gerade so kläglich gescheitert ist, ist für mich schwierig zu verstehen. Dass er seine eigene moralische Schuld verdrängt, kann ich psychologisch nachvollziehen, aber dieses gleichzeitige Bewusstsein, eigentlich ein mit allen Wassern gewaschenener Held sein zu können, hmm.


    finsbury


    Hallo finsbury,


    genauso empfinde ich es auch. Vertanen Situationen nachzutrauern, kann man ja verstehen, aber die Verdrängung der Schuld irritiert mich ebenso. Es macht aber auch weiter neugierig auf die Entwicklung der Geschichte.



    Zitat

    Dem Leser wird einerseits durch Jims Erzählung vermittelt, dass das Sinken eine Frage von Sekunden gewesen sei, andererseits wird die Zeit durch die moralischen Exkurse so gedehnt, dass ich mich unwillkürlich fragte, ob man nicht doch locker Zeit zum Abfieren der Rettungsboote gehabt hätte. So können einen Erzählzeit und erzählte Zeit in die Irre führen.



    gut, dass du das erwähnst. Ich habe mich schon etwas in die Irre führen lassen, stell ich gerade fest. Vielleicht aber auch ein gewollter Kniff des Autors (?)



    Zitat

    Ich glaube, dass Brierly eher eine Parallele zu Jim darstellen soll. Anscheinend hat er ja auch irgendwie Schuld auf sich geladen, an die er durch Jims Prozess erinnert wird und begeht dann Selbstmord ohne jede Erklärung, also auch ohne ein Schuldeingeständnis...



    eine gute Erklärung. Das war mir bis jetzt unklar.


    Gruß,
    Maria

    In der Jugend ist die Hoffnung ein Regenbogen und in den grauen Jahren nur ein Nebenregenbogen des ersten. (Jean Paul F. Richter)


  • Die Situation auf dem Dampfer ist tatsächlich schwierig. Wie würde ein mutiger und heldenhafter Mensch damit umgehen? In aller Schnelle, Frauen, Kinder, junge Leute zuerst in die Boote und mit den anderen versuchen, das Schott zu verstärken?
    Dem Leser wird einerseits durch Jims Erzählung vermittelt, dass das Sinken eine Frage von Sekunden gewesen sei, andererseits wird die Zeit durch die moralischen Exkurse so gedehnt, dass ich mich unwillkürlich fragte, ob man nicht doch locker Zeit zum Abfieren der Rettungsboote gehabt hätte. So können einen Erzählzeit und erzählte Zeit in die Irre führen.


    Mag sein, die Lage ist schwierig.
    Nur ist das, insbesondere für Landeier :zwinker: ja gar nicht so klar.
    Frage ist: wie wäre eine andere Mannschaft damit umgegangen?


    Ich hab, als ich noch jung war, eine Unmenge Seefahrer-, Entdecker-, Piratenliteratur verschlungen.
    Und erinnere mich ganz genau:


    das Schimpflichste überhaupt ist, wenn die Mannschaft vor den Passagieren das Schiff verlässt.
    Und der Kapitän hat es als letzter zu verlassen.


    Und deshalb hat Jim versagt, und zwar schon zum zweiten Male, nach der Situation auf dem Schulschiff im ersten Kapitel.


    Davon abgesehen: abwarten ... :zwinker:

    Ich vergesse das meiste, was ich gelesen habe, so wie das, was ich gegessen habe; ich weiß aber soviel, beides trägt nichtsdestoweniger zu Erhaltung meines Geistes und meines Leibes bei. (G. C. Lichtenberg)

  • Hallo Maria,


    komme nur wenig zum Lesen, weil ich viele Termine habe und dann spätabends so müde bin, dass ich immer eine Seite lese, einnicke, wíeder eine Seite und so weiter.
    So habe ich es bis jetzt erst in die Mitte des X. Kapitels geschafft und genieße jetzt aber doch sehr diese unglaublichen Naturbeschreibungen, z.B. die Morgendämmerung im Boot.


    Im Original:
    while the sea, calmed, slept at last; while the clouds passed above his head; while the sky from an immensity lustreless and black, diminished to a sombre and lustrous vault, scintillated with a greater brilliance, faded to the east, paled at the zenith; while the dark shapes blotting the low stars astern got outlines, relief became shoulders, heads, faces, features,—


    Verwirrt hingegen haben mich Jims Sprung und die Begleitumstände: Die drei rufen vom Boot aus nach George, dem Heizer. Denn das kann nicht der Maschinist, der dritte "Offizier" sein, denn der ist ja kurz zuvor einem Schlag oder Infarkt erlegen. Der Heizer hingegen stolpert, rafft sich scheinbar auf und dann springt - Jim! Ich kann es mir nur so erklären, dass die Rufe auf Jim suggestiv gewirkt haben, wie man einen Sog verspürt, wenn man am Bahngleis steht und ein Zug einfährt.


    Was auch wunderbar geschildert ist, ist die Atmosphäre auf der Veranda, während Jim seine Geschichte erzählt: Zunächst die Begleitgeräusche und Lichter von den anderen Gästen und Bediensteten, dann immer leiser, immer weniger künstliches Licht und um so abstruser wird die Geschichte, werden Jims Handlungsweisen ... .


    finsbury


  • Aber was ich nicht verstehe: In meiner Ausgabe (S. Fischer TB von 1998) sagt Conrad in seinem Vorwort zu einer 17 Jahre später erscheinenden Auflage, dass die Leser Probleme mit der Erzählperspektive gehabt hätten: alles aus der Sicht des hinlänglich bekannten Kapitän Marlow, der dies alles erzählt. Ich habe nun aber die ersten vier Erzählabschnitte gelesen, und die sind aus der Sicht eines anonymen Er-Erzählers geschrieben. Hmmm ....


    Im Vorwort schreibt JC ja, ursprünglich sei nur die Patna-Episode dagewesen.
    Und wenn er den Rest des Romans, den weitaus größeren Teil also, darum herum, bzw. darangebaut hat, würde sich die wechselnde Perspektive erklären.
    Es sei denn - das wäre auch Fiktion ...
    Aus dem, was ich bisher gelesen habe, geht ja auch hervor, dass JC für diese wechselnden Erzähler und Perspektiven eine Vorliebe hatte.
    Und auch im Marlow-Teil, dem längsten, wird ständig vor- und rückgeblendet.
    Es wird NIE linear erzählt.


    Gruß, Leibgeber

    Ich vergesse das meiste, was ich gelesen habe, so wie das, was ich gegessen habe; ich weiß aber soviel, beides trägt nichtsdestoweniger zu Erhaltung meines Geistes und meines Leibes bei. (G. C. Lichtenberg)

  • Hallo Leibgeber,



    Ganz so sehr der nautischen Literatur wie du war ich zwar nicht ergeben, aber so erinnere ich auch. Was mich an dieser Passage, auf die ich in der von dir zitierten Stelle einging, nur so irritiert, ist eben, dass durch die Zeitdehnung der Eindruck vermittelt wird, dass man - abgesehen davon, dass die verantwortlichen Offiziere bis zuletzt die Verantwortung tragen - doch etwas hätte tun können, und Jim schneidet ja auch, bevor er springt und sich entzieht, in der Tat die die Rettungsboote haltenden Seile durch: Bei sechs übrig gebliebenen Booten ist das immerhin auch eine zeitaufwändige Handlung.
    Aber du deutest ja schon an: Uns werden wohl noch die einen oder anderen Lichter aufgehen ...


    finsbury


  • Ganz so sehr der nautischen Literatur wie du war ich zwar nicht ergeben, aber so erinnere ich auch. Was mich an dieser Passage, auf die ich in der von dir zitierten Stelle einging, nur so irritiert, ist eben, dass durch die Zeitdehnung der Eindruck vermittelt wird, dass man - abgesehen davon, dass die verantwortlichen Offiziere bis zuletzt die Verantwortung tragen - doch etwas hätte tun können, und Jim schneidet ja auch, bevor er springt und sich entzieht, in der Tat die die Rettungsboote haltenden Seile durch: Bei sechs übrig gebliebenen Booten ist das immerhin auch eine zeitaufwändige Handlung.
    Aber du deutest ja schon an: Uns werden wohl noch die einen oder anderen Lichter aufgehen ...


    finsbury


    Stell dir mal vor, du wärest in der Lage ... :winken:


    es gibt objektive Zeit, gemessen durch welchen Chronometer auch immer.
    Und es gibt die subjektive Zeit.
    Und mir scheint, dass sich, was in objektiver Zeit eher schnell abspielt, für Jim unendlich dehnt.
    Sein Zeitgefühl in der Katastrophe ist ein ganz eigenes.
    In der doppelten Katastrophe, der des Schiffs, und der seines Lebens.


    Es ist ein Kunstgriff, jede Einzelheit präzise zu beschreiben, mit der typischen nicht-lineare Erzähltechnik.
    Und damit versucht JC, uns, die Leser, in "Jims Zeit" zu ziehen.


    Mir gab es ein Gefühl unendlicher Einsamkeit und Weite.
    Die Patna allein auf dem Wasser, gleißende Sonne, Ausgeliefertsein.


    Und JC will uns vielleicht auch das Gefühl vermitteln:
    ja, man hätte doch etwas tun können.

    Ich vergesse das meiste, was ich gelesen habe, so wie das, was ich gegessen habe; ich weiß aber soviel, beides trägt nichtsdestoweniger zu Erhaltung meines Geistes und meines Leibes bei. (G. C. Lichtenberg)