Was ist ein "Volksschriftsteller"?

  • Was für ein Zufall: Zwei "Volksschriftsteller" feiern 2012 ein Jubiläum. Am 7.2.1812 wurde Charles Dickens geboren; am 30.3.1912 starb Karl May.


    Ich habe den Begriff "Volksschriftsteller" in Gänsefüsse gesetzt, weil mir nicht so ganz wohl bei dieser Formulierung ist. Zwar waren (und sind) Dickens und May sehr populär, aber ich meine mich erinnern zu können, dass nach Gottfried August Bürger, dem großen Balladenpoeten des 18. Jahrhunderts, der Volkspoet über weit mehr Qualitäten verfügen muss als nur über eine hohe Auflage. Wenn ich mich recht entsinne, galten Homer und Shakespeare dem Herrn Bürger als ideale Dichter ihres jeweiligen Volkes. Heutzutage zählt man beide zur Weltliteratur - was nicht unbedingt ein Gegensatz zur "Volksliteratur" sein muss, denn auch Dickens und May haben beachtliche Spätwerke abgeliefert.


    Weiss jemand mehr über das Bürgersche Konzept der "Volkspoesie"?


    LG


    Tom

  • Nun, Bürgers Konzept - "der ideale Dichter seines Volkes" - ist offenbar stark romantisch angehaucht. ("Ideal", wenn ich mich recht erinnere, auch ein Begriff, den der Nobelpreis für Literatur im Munde führt - - - und was galt da im Laufe der Zeit nicht alles als "ideal"...) Ob Homer zu seiner Zeit ein "Volkspoet" war, wage ich nicht zu entscheiden; bei Shakespeare wage ich es zu bezweifeln. Mays Spätwerk wird - Arno Schmidt sei Danke - m.M.n. überschätzt. Doch, ich würde den Volksschriftsteller ganz banal auf die hohe Auflage reduzieren, ohne dabei etwas über die Qualität des Werks gesagt haben zu wollen. :winken:

    Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen? - Karl Kraus


  • bei Shakespeare wage ich es zu bezweifeln.


    Das überrascht mich jetzt etwas. Irgendwie hatte ich die Vorstellung, dass damals Jung & Alt und Arm & Reich in Shakespeares Vorstellungen gestürmt sind ...!?

    "Date a girl who reads. Date a girl who spends her money on books instead of clothes. She has problems with closet space because she has too many books. Date a girl who has a list of books she wants to read, who has had a library card since she was twelve."

  • lt. Pierer's Universal-Lexikon (1857):


    1) Schriftsteller, welche von dem ganzen Publicum eines Volks als trefflich u. schön anerkannt werden, also so v.w. klassischer Schriftsteller einer Nation od. Nationalschriftsteller; 2) Schriftsteller, welche Volksschriften verfassen od. verfaßt haben.

    In der Jugend ist die Hoffnung ein Regenbogen und in den grauen Jahren nur ein Nebenregenbogen des ersten. (Jean Paul F. Richter)


  • lt. Pierer's Universal-Lexikon (1857):


    1) Schriftsteller, welche von dem ganzen Publicum eines Volks als trefflich u. schön anerkannt werden, also so v.w. klassischer Schriftsteller einer Nation od. Nationalschriftsteller; 2) Schriftsteller, welche Volksschriften verfassen od. verfaßt haben.


    Um ehrlich zu sein, wage ich zu bezweifeln, ob selbst 1857 diese Definition "Volksschriftsteller = klassischer Schriftsteller einer Nation" vom Sprachgebrauch wirklich anerkannt worden ist. Im postmodernen Zeitalter ist sie wohl definitiv nicht mehr gültig ... :)

    Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen? - Karl Kraus

  • Soviel ich weiß ist ein "Volksschriftsteller" nicht nur jemand, der einfach populär war, sondern auch jemand, der bewusst für das Volk geschrieben hat. Gerade in der Zeit der Aufklärung war das zwecks der moralischen Bildung und Erziehung des Volkes ein bekanntes Konzept. So gesehen kann mMn auch jemand ein Volksschriftsteller sein, der nicht rasend populär war und heute sogar möglicherweise vergessen.

    ... this is nat language at any sinse of the world.

  • soweit ich mich erinnere, hat Reich-Ranicki Siegfried Lenz einen Volksschriftsteller genannt.
    S. L. meinte dazu kürzlich in einem Interview, dass man mit den Namen, die man im Laufe seines Lebens auf den Rücken geheftet bekomme, leben müsse.


    Gruß,
    Maria

    In der Jugend ist die Hoffnung ein Regenbogen und in den grauen Jahren nur ein Nebenregenbogen des ersten. (Jean Paul F. Richter)

  • Hier auch ein interessantes Interview mit Uwe Tellkamp zu dem Thema, wobei hier von Nationalschriftsteller gesprochen wird:
    http://www.welt.de/print/wams/…ar-ich-nicht-gefasst.html


    Ich würde einen Volksschriftsteller ähnlich definieren, wie in dem Interview der Nationalschriftsteller. Und zwar als einen Autor, der sich mit der Geschichte eines Volkes aktiv in seinen Werken auseinandersetzt und damit auch das Bild bzw. das kollektive Gedächtnis eines Volkes beeinflusst. Außerdem würde ich auch Schriftsteller, die sich nicht unbedingt mit der Geschichte eines Volkes , sondern mit der Kultur eines Volkes auseinandersetzen, und dadurch die Sichtweise des Volkes auf sich selbst beeinflussen, als Volksschriftsteller bezeichnen. Dieser Einfluss auf eine Gesellschaft geht auch einher mit einer gewissen Popularität.


    Jedenfalls würde ich Schriftsteller wie Karl May nicht unbedingt als Volksschriftsteller bezeichnen, eher solche wie Dostojewski.

  • Viel wichtiger doch als ein Volksschriftsteller ist ein Autor, der in Schulbüchern übernachtet und überlebt hat. Wenn ihr mal genau nachseht, welche Autoren in Schulbüchern auftauchen, dann sind das die, die auch noch in 1000 Jahren gelesen werden. Wenn man nicht Homer und so weiter immer wieder in Büchern für Schüler abgedruckt hätte, wüsste heute niemand mehr von ihm. So wird wohl auch ein "grandioser" Kurt Marti bis ins 40. Jahrhundert überdauern. Von anderen Autoren hingegen wird niemand mehr wissen.