Februar 2011: Franz Kafka: Erzählungen


  • Hallo Hubert,


    klar, die Ironie ist schon sehr deutlich, finde ich. Mir hat dieses Stelle besonders gut gefallen, besonders die "Reklame" , die sich auch , wie ich finde, auf die biblischen Wunder bezieht.


    Sehe ich auch so.
    Das mit deiner Mutter tut mir sehr leid, ich wünsche ihr/euch alles Gute!!

    "Date a girl who reads. Date a girl who spends her money on books instead of clothes. She has problems with closet space because she has too many books. Date a girl who has a list of books she wants to read, who has had a library card since she was twelve."

  • Hallo Steffi,
    hallo Bluebell,


    herzlichen Dank für eure Genesungswünsche für meine Mutter. Schön, dass ihr Kafkas ironische Betrachtungsweise dieser Bibelstellen genau so seht wie ich, ganz sicher war ich mir ja nicht. Noch eine Frage hat sich ergeben:


    Kafkas „Ein Hungerkünstler“ beginnt mit dem Satz „In den letzten Jahrzehnten ist das Interesse an Hungerkünstlern sehr zurückgegangen.“ und das entspricht auch den Tatsachen:
    Susanne Schmid schreibt auf Seite 11 ihrer „Theorie zum Diplomfilm“ (siehe Link im Materialordner), dass der Grund dafür auf die neuen medialen Möglichkeiten, die tatsächlich in der von Kafka beschriebenen Zeit ihren Anfang hatten, zurückzuführen ist. Das glaube ich nicht. Imo ist der Grund, dass die Menschen in dieser Zeit kurz nach dem 1. Weltkrieg, den Hunger selbst zu Genüge kennen lernten, und deshalb logischerweise an Hungerkünstlern kein Interesse hatten. Wie seht ihr das?


    Dass, die medialen Möglichkeiten, das Interesse an Hungerkünstlern nicht zurückgehen lässt, zeigt imo das Beispiel des amerikanischen Aktionskünstlers David Blane, der 2003 in London mit der Aktion „Above the Below“ die 40 Tage von Moses und Jesus um 10% übertraf und dafür gerade wegen den medialen Möglichkeiten von den TV-Sendern „Channel4“ und „SkyOne“ umgerechnet mehr als 1 Million Euro erhielt. Zur Aktion:
    http://davidblaine.com/video/2003-above-the-below-brief/



    LG


    Hubert

  • Ja, Hubert, das sehe ich genauso. Die Frage ist, auf was Kafka sich bezieht, das Hungern an sich oder die Kunst, die der Hungerkünstler daraus macht. An solchen Hunger-Events ist das Interesse sicher nach wie vor in unserer Gesellschaft vorhanden, damals bestimmt während bzw. nach dem Krieg nicht.

  • Hallo Steffi,
    hallo Bluebell!



    Die Frage ist, auf was Kafka sich bezieht, das Hungern an sich oder die Kunst, die der Hungerkünstler daraus macht.


    Genau Steffi, das wäre die entscheidende Frage, aber eigentlich hast Du in Deinem Beitrag vom 5. Mai schon die Antwort selbst gegeben:


    „Es fragt sich natürlich auch, was mit dem Hungern gemeint sein könnte. Hunger nach Anerkennung, Zuneigung und Verständnis? Hunger nach künstlerischem Schaffen, Hungern für die Kunst ? Oder Fasten aus religiösen Gründen, um durch den Verzicht zur inneren Reinheit zu kommen, d.h. durch künstlerisches Schaffen (=Hungern, da kein materieller Verdienst bezweckt ist) zur inneren Erlösung ? Fasten um Aufmerksamkeit zu erhalten, für die eigene Überzeugung oder Magersucht als Beweis der Überlegenheit des Geistes, als krankhafter Ehrgeiz ? Oder doch Selbstkasteiung als Provokation und Darstellung, was man alles leisten kann ?
    …..
    Kafka macht es mir
    (ich ändere: uns) nicht leicht, irgendwie scheint alles zu passen.“ (Steffi)


    Ja, liebe Steffi, alle Möglichkeiten die die Erzählung hergibt, hast Du aufgelistet und tatsächlich: alles ist möglich. Ich kann also nur noch durch Informationen außerhalb der Erzählung Deine Ausführungen ergänzen bzw. untermauern, auch im Hinblick darauf wie viel von Kafka selbst u.a. auch visionär in der Erzählung steckt:


    1. Unbedingt und als erstes lesen: Eine Besprechung von Martin Walser in „Die Zeit“ von Kafkas Briefen an seine Eltern, die ich gerade im Materialordner verlinkt habe. Diese Besprechung zeigt natürlich auch Walsers Meisterschaft der kurzen Form, gibt aber auch einen Einblick in Kafkas Schreibweise und hat , obwohl ich das nicht mehr für möglich hielt, mein Kafka-Bild noch mal verändert! (-> „Kafkas Stil und Sterben“). Erst von Walser habe ich erfahren, dass Kafka nicht nur an Lungen TB, sondern auch an Kehlkopf TB litt und deshalb selbst verhungerte!


    2. Kafkas Freund Robert Klopstock bestätigt dies 1922 (Kafkas Todesjahr) in seiner Beschreibung von Kafkas Tätigkeit bei der Zusammenstellung des Erzählbandes „Ein Hungerkünstler“:


    „Kafkas körperlicher Zustand zu dieser Zeit und die ganze Situation, dass er selbst im wahrsten Sinne des Wortes verhungerte, war wirklich gespenstisch. Als er die Korrektur beendete, was eine ungeheuere, nicht nur seelische Anstrengung, sondern eine Art erschütternder geistiger Wiederbegegnung für ihn sein musste, rollten ihm lange Tränen herunter.“


    3. Am 2.01.1911 schreibt Kafka in sein Tagebuch:


    „Als es meinem Organismus klar geworden war, dass das Schreiben die ergiebigste Richtung meines Wesens sei, drängte sich alles hin und ließ alle Fähigkeiten leer stehen, die sich auf die Freuden des Geschlechtes, des Essens, des Trinkens, des philosophischen Nachdenkens der Musik zu aller erst richteten. Ich magerte nach allen diesen Richtungen ab."


    4. Max Brod schreibt in einem Brief an Felice Bauer vom 22.11.1912:


    „Franz hat nach jahrelangem Probieren endlich die für ihn einzig bekömmliche Kost gefunden, die vegetarische. Jahrlang hat er an Magenkrankheiten gelitten, jetzt ist er so gesund und frisch wie nie, seit ich ihn kenne. Aber natürlich, da kommen die Eltern mit ihrer banalen Liebe und wollen ihn zum Fleisch und in die Krankheit zurückzwingen.“


    LG


    Hubert


  • Hallo André


    imo hat Maria einen Hinweis auf diese Ausstellung schon am 24. Mai gepostet.
    http://www.klassikerforum.de/index.php/topic,4382.0.html


    Normalerweise kann man so was sehr schnell über die Suchfunktion feststellen. In diesem Fall war das aber nicht nötig, da Marias Hinweis immer noch als letzter Beitrag unter „Hinweise ….“ steht und eigentlich nicht zu übersehen ist.


    Gruß


    Hubert

  • Hubert:
    Vielen Dank für den Artikel! Der hat mich sehr fasziniert und berührt.
    (Von den Informationen über Kafka einmal abgesehen, gefällt mir auch, was und wie Martin Walser schreibt - vielleicht sollte ich es doch wieder einmal mit ihm als Schriftsteller versuchen!? Das könnte wieder so ein Fall sein von trotzig verweigerter Schullektüre, zu der ich im Nachhinein doch einen Zugang finde. :zwinker: )


    André:
    Marbach ist leider außer meiner Reichweite, aber ich habe mir den Videobeitrag angesehen. Die Briefe haben ja einiges überstanden - Kafkas Aufforderung zur Vernichtung, den Holocaust-Tod der Adressatin ...!

    "Date a girl who reads. Date a girl who spends her money on books instead of clothes. She has problems with closet space because she has too many books. Date a girl who has a list of books she wants to read, who has had a library card since she was twelve."


  • Imo ist der Grund, dass die Menschen in dieser Zeit kurz nach dem 1. Weltkrieg, den Hunger selbst zu Genüge kennen lernten, und deshalb logischerweise an Hungerkünstlern kein Interesse hatten.


    Das glaube ich auch. Man muss sich ja nur die österreichischen (bzw. generell die deutschsprachigen?) Filme aus den 50ern und frühen 60ern ansehen: das ist typischerweise picksüße, vor Kitsch triefende Heimatromantik. Und trotzdem finde ich es daneben, wenn sich Leute aus meiner Generation oder jünger darüber auskotzen - niemand von uns hat das erlebt, was das Zielpublikum dieser Filme damals gerade hinter sich hatte, und wie arrogant muss man bitte sein, um es den Menschen zu verübeln, dass sie wenigstens am Bildschirm heile Welt und Idylle sehen wollten!? Aber jetzt wird's off topic.


    Deinen Link zu dem Artikel von Martin Walser habe ich vorhin im Materialordner gelesen und kommentiert, und jetzt sehe ich gerade erst deinen Kommentar hier:



    Diese Besprechung zeigt natürlich auch Walsers Meisterschaft der kurzen Form, gibt aber auch einen Einblick in Kafkas Schreibweise und hat , obwohl ich das nicht mehr für möglich hielt, mein Kafka-Bild noch mal verändert! (-> „Kafkas Stil und Sterben“). Erst von Walser habe ich erfahren, dass Kafka nicht nur an Lungen TB, sondern auch an Kehlkopf TB litt und deshalb selbst verhungerte!


    *unterschreib*

    "Date a girl who reads. Date a girl who spends her money on books instead of clothes. She has problems with closet space because she has too many books. Date a girl who has a list of books she wants to read, who has had a library card since she was twelve."



  • Hallo,
    ich muss gestehen, dass ich nur sehr oberflächlich nachgesucht habe, nämlich lediglich im Kafka Ordner wo ich nichts gefunden habe. Sorry!
    In Zukunft werde ich zuerst unter Hinweise schauen. :zwinker:


    Gruß André

    Miguel de Cervantes Saavedra:&nbsp; &nbsp; &nbsp; &nbsp; &nbsp; &nbsp; &nbsp; &nbsp; &nbsp; &nbsp; &nbsp; &nbsp; &nbsp; &quot;Don Quixote von la Mancha&quot;&nbsp; <br />- Tieck Übersetzung -

  • Im Kino ... ;)


    -->



    meiner Generation


    :redface: :elch:

    &quot;Date a girl who reads. Date a girl who spends her money on books instead of clothes. She has problems with closet space because she has too many books. Date a girl who has a list of books she wants to read, who has had a library card since she was twelve.&quot;

  • Hallo zusammen,


    etwas hatte ich noch bei meinem letzten Beitrag vergessen. Imo gibt es Ähnlichkeiten zwischen dem Schluss vom „Hungerkünstler“ und der „Verwandlung.“. Seht ihr das auch so, und wie ist das zu interpretieren?


    Bei der „Verwandlung“ heißt der letzte Satz, nachdem der verhungerte Gregor Samsa entsorgt war und die Restfamilie vom Familienausflug zurückkehrte: „ … als am Ziele ihrer Fahrt die Tochter als erste sich erhob und ihren jungen Körper dehnte.“


    Als der Hungerkünstler samt dem Stroh entsorgt ist, gibt man einen jungen Panther in den Käfig. „… dieser edle, mit allem Nötigen bis knapp zum Zerreißen ausgestattete Körper, …“.


  • Imo gibt es Ähnlichkeiten zwischen dem Schluss vom „Hungerkünstler“ und der „Verwandlung.“.


    Ist mir nicht bewusst aufgefallen, aber wo du es sagst ...



    Seht ihr das auch so, und wie ist das zu interpretieren?


    Ganz spontan gebrainstormt: Das Schwache, Unerwünschte, Krankhafte, Lästige verschwindet ("wird verschwunden") und das Kräftige, Schöne, Gesunde dehnt sich sofort in den freigewordenen Platz hinein.
    Möglich, dass Kafka (fälschlicherweise) ein ähnliches Schicksal für sich selbst vorausgeahnt hat!?

    &quot;Date a girl who reads. Date a girl who spends her money on books instead of clothes. She has problems with closet space because she has too many books. Date a girl who has a list of books she wants to read, who has had a library card since she was twelve.&quot;

  • Sehr interessant, die Parallelen mit dem Hungern !


    Interpretationsmäßig schließe ich mich Bluebell an: der junge, vor Lebenskraft strotzende Körper übernimmt.

  • Hallo Bluebell,
    hallo Steffi!



    Ganz spontan gebrainstormt: Das Schwache, Unerwünschte, Krankhafte, Lästige verschwindet ("wird verschwunden") und das Kräftige, Schöne, Gesunde dehnt sich sofort in den freigewordenen Platz hinein.
    Möglich, dass Kafka (fälschlicherweise) ein ähnliches Schicksal für sich selbst vorausgeahnt hat!?


    Ich habe lange nachgedacht, die Zeit hattest Du ja nicht, Bluebell, trotzdem - wenn ich meine Frage selbst beantwortet hätte, wäre die Antwort genau so, zum Teil sicher auch wortwörtlich so ausgefallen, also: Hut ab!


    LG


    Hubert


  • Wenn wir durch sind, könnten wir ja zum Spaß jeder eine persönliche Reihung posten und vergleichen, wer womit wie viel oder wie wenig anfangen konnte! :smile:


    Hallo zusammen,


    nachdem ich schon mindestens fünfmal ungestellt habe sieht meine Reihenfolge im Moment so aus:


    1. Ein Bericht für eine Akademie


    2. Das Urteil


    3. Ein Hungerkünstler


    4. Ein Landarzt


    5. Die Verwandlung

    6. In der Strafkolonie


    Kann aber gut sein, dass ich nochmals umwerfe.


    Überrascht hat mich wie unterschiedlich diese sechs Erzählungen sind. Ich hatte ja von diesen Erzählungen bisher nur „Die Verwandlung“ gelesen und „Ein Bericht für eine Akademie“ kannte ich vom Theater. Ansonsten habe ich mich bei Kafka eigentlich immer nur mit dem „Schloss“ und dem „Prozess“ beschäftigt, das allerdings intensiv. Aber jetzt denke ich, dass die Erzählungen wichtiger sind als diese Romanfragmente.


    Jedenfalls bin ich gespannt auf euer Ranking!


    Liebe Grüße


    Hubert

  • Also dann versuche ich mich auch mal an einer Reihenfolge:



    1. Die Verwandlung


    2. Das Urteil


    3. In der Strafkolonie


    4. Ein Landarzt


    5. Ein Hungerkünstler


    6. Ein Bericht für eine Akademie



    Das war jetzt eine ganz spontane Entscheidung. Die Verwandlung gefällt mir, weil sie so vielfältig ist und mir bei jedem Lesen viele neue Dinge auffallen, aber doch immer noch manches rästelhaft bleibt oder neue Rätsel entstehen. Beim Urteil gefiel mir die klare Aufteilung von Normalität, Wendepunkt, Irrsinn - auch wie die Abhängigkeit der beiden ausgearbeitet war und Schmerz dahinter. In der Strafkolonie war auch wieder dieser Irrsinn gepaart mit der Gewalt.
    Landarzt und Hungerkünstler haben mich nicht so angesprochen, da passierte nicht so viel bei mir. Am schlechtesten kommt der Bericht für eine Akademie weg, ich mochte schon immer keine Erzählungen, in denen Tiere als Menschen dargestellt werden; Fabeln ausgenommen.

  • Ich würde die Trennlinie zwischen "besser" und "schlechter gefallener" Hälfte auch so ziehen wie Steffi. Mit der konkreten Reihung tue ich mich schwer, aber ich versuch's mal:


    1. In der Strafkolonie


    Dann ziemlich gleichwertig:


    2. Das Urteil
    3. Die Verwandlung


    Und wiederum ziemlich gleichwertig:


    4. Ein Bericht für eine Akademie
    5. Ein Hungerkünstler
    6. Ein Landarzt


    Also eigentlich würde ich lieber einen ersten, zwei zweite und drei dritte Plätze vergeben, das käme meinen Eindrücken eher entgegen.

    &quot;Date a girl who reads. Date a girl who spends her money on books instead of clothes. She has problems with closet space because she has too many books. Date a girl who has a list of books she wants to read, who has had a library card since she was twelve.&quot;

  • Hallo Steffi,
    hallo Bluebell,


    dass die Bewertung von Kafkas Erzählungen unterschiedlich ausfallen würde hatte ich schon geahnt, aber manche Bewertungen sind ja gerade entgegengesetzt: So wird die „Strafkolonie“ von Bluebell auf Platz 1 und von mir auf Platz 6 gesetzt und den „Bericht ….“ sehe ich auf Platz 1, Steffi aber auf Platz 6, - umso erstaunlicher, dass wir alle Drei das „Urteil“ auf Platz 2 sehen.


    Ich habe mal ein zusammenfassendes Ranking erstellt und dabei pro 1. Platz sechs Punkte, pro 2. Platz fünf Punkte usw. vergeben. Das ergibt folgendes Gesamtbild:


    1. Das Urteil (15 Punkte)


    2. Die Verwandlung (12 Punkte)


    3. In der Strafkolonie (11 Punkte)


    4. Ein Bericht für eine Akademie (10 Punkte)


    5. Ein Hungerkünstler (8 Punkte)


    6. Ein Landarzt (7 Punkte)


    Fazit: Nicht jede Erzählung gefällt allen gleich gut, aber letztendlich hat Kafka für Jede/n etwas zu bieten!