Februar 2011: Franz Kafka: Erzählungen


  • Ob Kafka tatsächlich Lust an Gewalt/Folter hatte oder ob er solche Dinge aus Provokation schrieb ? Eine Art Inszenierung der Gewalt, die er vielleicht auch durch seinen Vater erfahren hat ? Ich bin mir da noch nicht ganz sicher.


    Hallo Steffi,


    sicher kann man sich bei solchen Fragen natürlich nie sein aber man darf die Fakten auch nicht außer acht lassen, nur weil diese einem nicht gefallen.


    Welchen Grund sollte es für Kafka geben, Milena in einem Brief zu provozieren? Und wenn es einen Grund gäbe, wäre die zitierte Briefstelle überhaupt geeignet Milena zu provozieren?


    Dass das Verhältnis zwischen Kafka und seinem Vater nicht das beste war, weiß ich, aber dass der Vater seinem Sohn gegenüber körperliche Gewalt angewendet hätte, ist mir nicht bekannt. Weißt Du da mehr?


    Gruß


    Hubert

  • Die zweite Erzählung heißt: „Das Urteil“.


    Hier findet man den Text als PDF-Datei:


    http://www.e-text.org/text/Kaf…nz%20-%20Das%20Urteil.PDF


    und hier weiterführende Links:


    1. Eine kurze Besprechung von „Das Urteil“, unserer nächsten Erzählung „Die Verwandlung“ und der schon gelesenen Erzählung „In der Strafkolonie“. Da Kafka diese drei Erzählungen zusammen veröffentlichen wollte, sollten wir, wen wir alle drei gelesen haben über mögliche Gemeinsamkeiten sprechen:
    http://www.franzkafka.de/franz…/erzaehlungen-1914/457390

    2. Hinweise auf rhetorische Stilmittel und Begriffserklärungen
    http://www.philosophie-sgl.de/…Kafka%20Das%20Urteil.html


    3. X libris:
    http://www.xlibris.de/Autoren/Kafka/Werke/Das%20Urteil


    4. Eine Interpretation von Amadé P. Fries
    http://www.amade.ch/schularbeiten/kafka.htm


    5. Über die Figuren
    http://www.asamnet.de/~kassecch/deutung/urteil.htm


    6. Zum „Urteil“ und zur „Verwandlung“
    http://www.rhetoriksturm.de/die-verwandlung.php


  • Schau Dir mal den Schluß vom Prozeß an:


    Puh, ok - der hat es wirklich in sich. Aber wenn das der einzige Absatz ist, dann nimmt die Brutalität in der Strafkolonie ja doch einen ganz anderen Stellenwert bzw. viel mehr Raum ein, oder? Zumindest habe ich es so wahrgenommen, dass sie dort einer der Punkte ist, die explizit im Mittelpunkt stehen.


    Danke übrigens für deine Erklärungen, wie du auf den Sadismus-Verdacht bei Kafka gekommen bist, das ist ja spannend ...! Jetzt kann ich gut verstehen, dass man bei so einem Vorwissen die Strafkolonie mit etwas anderen Augen liest.



    Erstaunlich sind die inhaltlichen Übereinstimmungen von Kafkas Erzählung und Mirbeaus Roman: z.B. beklagen sowohl Kafkas Offizier als auch Mirbeaus Folterer den Verfall der Kultur des Folterns, die beide auch als eine Art Kunst ansehen. Ist das noch Inspiration oder schon Plagiat? Sollte Dr. Kafka zu seiner Doktorarbeit ähnlich inspiriert worden sein, wie zu dieser Erzählung, müsste man ihm dann nicht den Doktortitel aberkennen? Fragen über Fragen! :breitgrins:


    Haha, definitiv diskussionswürdig! :lachen:
    Die Bezeichnung "literarisches Monstrum" aus dem Wikipedia-Artikel klingt übrigens nicht sonderlich einladend ... :elch:



    Wow, das hast Du ja schön ausgedrückt – und weil Du „Amerika“ (bzw. Der Verschollene) erwähnst – diesen Sog habe ich dort auch so empfunden, bis „Brunelda“ auftauchte – aber dann war der Sog weg und es war nun schwer für mich diese „Brunelda-Geschichte“ zu Ende zu lesen. Wie war das bei Dir’?


    Ganz genauso!! Brunelda und den Handlungsstrang rund um sie fand ich dermaßen anstrengend, dass ich mich ganz schön zum Durchhalten überwinden musste. Das war aber der einzige Teil des Buches, der mir so auf die Nerven ging, und rückblickend fasziniert mich trotzdem, dass Kafka diese Episoden so intensiv schildern konnte, dass bei mir so ein starker Widerwille entstand.



    Dass das Verhältnis zwischen Kafka und seinem Vater nicht das beste war, weiß ich, aber dass der Vater seinem Sohn gegenüber körperliche Gewalt angewendet hätte, ist mir nicht bekannt. Weißt Du da mehr?


    Wenn ich mal etwas vorgreifen darf ... :redface: *räusper*
    Ich hatte kürzlich die Gelegenheit, den "Brief an den Vater" zu lesen, und darin schreibt Kafka ausdrücklich, dass der Vater zwar oft mit Züchtigung gedroht hat (das ging sogar so weit, dass er sich demonstrativ den Gürtel abschnallte), aber "fast nie" (!?) tatsächlich handgreiflich wurde.

    "Date a girl who reads. Date a girl who spends her money on books instead of clothes. She has problems with closet space because she has too many books. Date a girl who has a list of books she wants to read, who has had a library card since she was twelve."


  • Dass das Verhältnis zwischen Kafka und seinem Vater nicht das beste war, weiß ich, aber dass der Vater seinem Sohn gegenüber körperliche Gewalt angewendet hätte, ist mir nicht bekannt. Weißt Du da mehr?


    Nein, ich weiß nicht sehr viel biografisches über Kafka, zumindest kann ich mir aber vorstellen, dass psychische Gewalt, und die hat der Vater ja wohl unbestritten ausgeübt, auch zu physischen Gewaltphantasien anregen können. Ich weiß auch nicht, inwieweit Kafka über sich bezüglich dieser Gewalt, die ja in vielen seiner Werke vorhanden ist, reflektieren konnte. Sicherlich wäre es hilfreich, wenn man wüsste, wie groß seine Kenntnis über Freud und die Psychoanalyse war.




    Welchen Grund sollte es für Kafka geben, Milena in einem Brief zu provozieren? Und wenn es einen Grund gäbe, wäre die zitierte Briefstelle überhaupt geeignet Milena zu provozieren?


    Kann es sein, dass es in deinem Umfeld wenig Menschen gibt, die gerne provozieren und einen netten Sarkasmus pflegen ?
    Für mich klingt das Zitat aus dem Brief an Milena Jesenska nämlich eher nach einer sarkastischen Bemerkung, vielleicht auf eine Kritik, dass er Gewalt zu sehr verherrliche.


    Ganz sicher beschäftigte er sich jedoch mit Strafen, sicher auch aus einem juristischen Kontext heraus. Rechtstaatliche Strafe als eine Art legitimierte Gewalt, die leider auch zu Machtmißbrauch und Willkür anregt. Interessant ist in diesem Zusammenhang der Wandel der Straftheorie von der Vergeltungsstrafe hin zu der Zweckstrafe. Kafka hat ja in Prag Jura studiert, an der auch Hans Gross lehrte, der zu den Anhängern der Strafrechtsreform um Franz von Liszt gehörte. Die Todesstrafe sollte abgeschafft werden und eine Zweckstrafe eingeführt werden.


    "In der Strafkolonie" zeigt aber, dass unter gewissen Umständen die Todesstrafe zurückkehrt. Die Frage ist ja nun, befürwortet er diese oder warnt er vor dem Machtmißbrauch, der dies möglich machen würde. Für mich ist in der Strafkolonie eindeutig eine Warnung enthalten, auch unterstrichen durch die Schilderung der Grausamkeiten.

  • "Das Urteil":


    Eine sehr intensive, kurze Geschichte, an der mir vor allem die abrupte Wendung gefallen hat. Soeben noch ein idyllischer Sonntagmorgen und plötzlich gleitet die Geschichte in eine absurde, surreale Situation ab., die der Handlung eine völlig andere Richtung gibt. Natürlich gibt es den Vater-Sohn-Konflikt, auch in dem Freund in Russland könnte man einen Anklang an Kafka selbst finden, der sich selbst ja ebenfalls als erfolglos und isoliert empfand. Es stellt sich auch die Frage, ob diese Einsamkeit nicht besser als Georgs Abhängigkeit in einer vermeintlich sichere Familie ist, was Georg, genauso wie Gregor (Samsa aus der Verwandlung) nicht erkennt.


    Mich hat überhaupt viel an der Geschichte an "Die Verwandlung" erinnert, z.B. dass Georg's Versuche der Pflichterfüllung nicht ausreichen und der zunehmend furchteinflössende Vater an Macht gewinnt . Vor allem, da sich durch den Tod der Mutter, die Verlobung Georgs und den geschäfltichen Erfolg die Positionen innerhalb der Familie verändern wird Georg zu einer Bedrohung. Der Hass Georgs auf sich selbst, auf seine Abhängigkeit vom Vater oder vielleicht auch auf das patriarchalische System wird deutlich spürbar.


    Die Erzählung endet in einem Bild, das mich an Kinofilme erinnert; unbeeindruckt von der persönlichen Qual schreitet die anonyme, technische Welt weiter fort.

  • Hallo Bluebell,
    hallo Steffi,



    Die Bezeichnung "literarisches Monstrum" aus dem Wikipedia-Artikel klingt übrigens nicht sonderlich einladend ... :elch:


    ich denke auch nicht, dass man das lesen muss.



    Brunelda und den Handlungsstrang rund um sie fand ich dermaßen anstrengend, dass ich mich ganz schön zum Durchhalten überwinden musste.


    Imo sagt dieser Handlungsstrang auch etwas über Kafkas Frauenbild aus, oder wie denkt ihr darüber?



    Ich hatte kürzlich die Gelegenheit, den "Brief an den Vater" zu lesen, ..


    Ja, das will ich dann schnellstmöglichst nachholen.


  • kann ich mir aber vorstellen, dass psychische Gewalt, und die hat der Vater ja wohl unbestritten ausgeübt, auch zu physischen Gewaltphantasien anregen können.


    Da muss ich Dir natürlich Recht geben.



    Sicherlich wäre es hilfreich, wenn man wüsste, wie groß seine Kenntnis über Freud und die Psychoanalyse war.


    Ich werde mal versuchen, das zu recherchieren.



    Für mich klingt das Zitat aus dem Brief an Milena Jesenska nämlich eher nach einer sarkastischen Bemerkung, vielleicht auf eine Kritik, dass er Gewalt zu sehr verherrliche.


    Das könnte natürlich auch möglich sein, klingt zumindest logisch.



    Ganz sicher beschäftigte er sich jedoch mit Strafen, ...


    Ja, er wollte ja auch die Erzählungen „Das Urteil“, „Die Verwandlung“ und „In der Strafkolonie“ zusammen unter dem Titel „Strafen“ veröffentlichen.



    sicher auch aus einem juristischen Kontext heraus. Rechtstaatliche Strafe als eine Art legitimierte Gewalt, die leider auch zu Machtmißbrauch und Willkür anregt. Interessant ist in diesem Zusammenhang der Wandel der Straftheorie von der Vergeltungsstrafe hin zu der Zweckstrafe. Kafka hat ja in Prag Jura studiert, an der auch Hans Gross lehrte, der zu den Anhängern der Strafrechtsreform um Franz von Liszt gehörte. Die Todesstrafe sollte abgeschafft werden und eine Zweckstrafe eingeführt werden.


    Vielen Dank, guter Hinweis



    "In der Strafkolonie" zeigt aber, dass unter gewissen Umständen die Todesstrafe zurückkehrt. Die Frage ist ja nun, befürwortet er diese oder warnt er vor dem Machtmißbrauch, der dies möglich machen würde. Für mich ist in der Strafkolonie eindeutig eine Warnung enthalten, auch unterstrichen durch die Schilderung der Grausamkeiten.


    Dass Kafka die Todesstrafe durch ein irdisches Gericht befürwortete, glaube ich auch eher
    nicht.

  • Hallo Steffi,
    hallo Bluebell,



    Eine sehr intensive, kurze Geschichte, an der mir vor allem die abrupte Wendung gefallen hat.


    Diese plötzlichen Wendungen, sind ja eine von Kafkas Spezialitäten.



    in dem Freund in Russland könnte man einen Anklang an Kafka selbst finden,


    Gibt es den Freund in Russland wirklich, oder nur in Georgs Phantasie. Für beides gibt es Argumente – was meint ihr?



    Es stellt sich auch die Frage, ob diese Einsamkeit nicht besser als Georgs Abhängigkeit in einer vermeintlich sichere Familie ist, was Georg, genauso wie Gregor (Samsa aus der Verwandlung) nicht erkennt.


    Über diese Frage hat Kafka für sich selbst auch sicher nachgedacht.



    Mich hat überhaupt viel an der Geschichte an "Die Verwandlung" erinnert, ...


    „Die Verwandlung“ steht ja als nächstes auf der Liste – mal sehen.



    Die Erzählung endet in einem Bild, das mich an Kinofilme erinnert; unbeeindruckt von der persönlichen Qual schreitet die anonyme, technische Welt weiter fort.


    Ja, - und wenn ich den Schluss richtig verstanden habe, dann sind am Ende alle beide tot – es gibt also keinen Sieger, - während zu Beginn Georg der Stärkere war, später der Vater – letztlich gewinnt keiner – ob das Kafkas Intention war, weiß ich nicht, aber ich nehme als Fazit aus der Erzählung mit: In Anbetracht dessen, dass wir am Ende eh sterblich sind, lohnt sich der Streit um ein bisschen Macht o.a. während der gegebenen kurzen Lebenszeit nicht!


  • Gibt es den Freund in Russland wirklich, oder nur in Georgs Phantasie. Für beides gibt es Argumente – was meint ihr?


    Ja, das frage ich mich auch. Ich bin mir auch nicht sicher über den Schluß, stirbt Georg wirklich ? Vielleicht spielt sich alles nur im Kopf ab - Kafkas oder Georgs ?



    Ja, er wollte ja auch die Erzählungen „Das Urteil“, „Die Verwandlung“ und „In der Strafkolonie“ zusammen unter dem Titel „Strafen“ veröffentlichen.


    Das wusste ich nicht, vielen Dank für den Hinweis.

  • Das wusste ich nicht, vielen Dank für den Hinweis.


    Kafka wollte zwar meistens seine Werke eher vernichten, den veröffentlichen, trotzdem schlug er 1913 seinem Verleger Kurt Wolff vor, die drei Erzählungen: „Der Heizer“, Das Urteil“ und „Die Verwandlung“ in einem Band mit dem Titel „Die Söhne“ herauszugeben. Da der Verleger auf diesen Vorschlag nicht reagierte machte Kafka zwei Jahre später einen erneuten Anlauf und schlägt vor die Erzählungen: "Das Urteil“ und „Die Verwandlung“ zusammen mit der inzwischen geschriebenen Erzählung „In der Strafkolonie“ unter dem Titel „Strafen“ zu veröffentlichen. Wieder reagiert der Verlag zunächst nicht und Kafka wiederholt diesen Vorschlag ein Jahr später noch mal. 1916 lehnt der Verlag den Vorschlag ab, mit der Begründung ein Buch mit dem Titel „Strafen“ sei nicht verkäuflich. Erst im 21. Jahrhundert ist „Strafen“ mit den von Kafka vorgeschlagenen Erzählungen in der Bibliothek Suhrkamp erschienen.


  • Ich bin mir auch nicht sicher über den Schluß, stirbt Georg wirklich ? Vielleicht spielt sich alles nur im Kopf ab - Kafkas oder Georgs ?


    Natürlich, Steffi, kann sich so ein Geschehen nur im Kopf abspielen, - in der Realität kann ich mir Kafkas Erzählungen nicht vorstellen. Trotzdem bleibt die Frage, wer ist am Ende der Kopfgeburt tot, wer überlebt?


    Folgende Szenarien sind denkbar:


    1. Georg kann sich nicht mehr halten, stürzt in den Fluss und ertrinkt. Das Urteil des Vaters ist vollzogen, dieser triumphiert. (so die meisten Interpretationen)


    2. Georg stürzt in den Fluss und kann sich als guter Schwimmer retten (Kafka selbst, z.B. war ein so guter Schwimmer, dass ein Sprung von einer Brücke in die Moldau für ihn nur eine sportliche Übung gewesen wäre. Der Vater stirbt.


    3. Wie 2, aber der Vater überlebt


    4. Am Ende sind Georg und der Vater tot. (Das ist meine Sichtweise)


    Begründung:


    Die folgende Stelle innerhalb der Erzählung, sagt aus, dass wenn der Vater fällt, er zerschmettert und folglich tot ist:
    »Jetzt wird er sich vorbeugen,« dachte Georg, »wenn er fiele und
    zerschmetterte!« Dieses Wort durchzischte seinen Kopf.“


    Bevor Georg zum Fluss geht, gibt es folgende Stelle, die besagt, dass der Vater jetzt fällt – und also zerschmettert und tot ist:
    „Georg fühlte sich aus dem Zimmer gejagt, den Schlag, mit dem der Vater
    hinter ihm aufs Bett stürzte, trug er noch in den Ohren davon.“


    Wenn Georg überleben würde, hätte Kafka sicher nicht diesen letzten Gruß an die Eltern geschrieben und außerdem steht bei Kafka am Ende immer der Tod:
    „Noch hielt er sich mit schwächer werdenden
    Händen fest, erspähte zwischen den Geländerstangen einen Autoomnibus,
    der mit Leichtigkeit seinen Fall übertönen würde, rief leise: »Liebe
    Eltern, ich habe euch doch immer geliebt«, und ließ sich hinabfallen.“

  • Vielen Dank für die ausführliche Antwort zu Kafkas Versuche, die Erzählungen gesammelt herauszubringen, sowohl "Söhne" als auch "Strafe" finde ich sehr passend.


    Außerdem gefällt mir, wie schön du den Schluß strukturiert hast. Mir waren die Aussagen über den Vater gar nicht so bewusst und ich habe auch nicht darüber nachgedacht, ob er tot sein könnte. Schlüssig wäre es aber schon.


    Ob Georg stirbt - ich glaube schon. Obwohl mir diese Abschiedsworte ein bißchen zu pathetisch klingen, zusammen mit dem Bild des brausendes Verkehrs auf der Brücke. Auch dass er sich hinabfallen lässt und nicht aktiv hinunterspringt hat einen Hauch von Selbstmitleid und das lässt einen Suizid glaubhaft erscheinen. Nach einem aktiven Hinunterspringen wäre dann auch ein weiterschwimmen eher denkbar. Diese Passivität angesichts des Urteils und auch der Tod passen auch zu "In der Strafkolonie" und der Verwandlung, dass es eben nicht nur ein Urteil sondern auch eine Strafe und den Vollzug dieser gibt und geben muss.


  • [


    Ich werde mal versuchen, das zu recherchieren.


    S. Freud (1856 bis 1939) veröffentlichte 1896 „Psychoanalyse“ und 1899 „Traumdeutung“. Kafkas (1883 bis 1924) „Das Urteil“ wurde 1913, „Die Verwandlung“ 1915 und „In der Strafkolonie“ 1919 veröffentlicht, also zwischen 14 und 23 Jahren nach Freuds Hauptwerken. Trotzdem ist es meinen Recherchen nach eher unwahrscheinlich, dass Kafka Freud selbst gelesen hat. Sicher ist aber, dass er dessen Lehre aus Vorträgen und Zeitschriftenartikeln sehr gut kannte. Nachdem er „Das Urteil“ in der Nacht nach Jom Kuppur in einem Zug niedergeschrieben hat, schreibt er in sein Tagebuch: „Gedanken an Freud natürlich“!


    Kafka hat nachweislich die Zeitschrift „Neue Rundschau“ gelesen, in der der Psychologe Willy Hellpach 1910 ausführlich über die Psychoanalyse informierte. Außerdem hat er einige Artikel der Freudschüler T. Reik (ab 1911 in der Zeitschrift PAN) und W. Stekel (ab 1912 im Prager Tageblatt) gelesen. Auch bei den Treffen mit Brod und Weltsch wurde oft über Psychologie diskutiert. Diese beiden veröffentlichten 1913 ein Buch, das sich mehrmals auf S. Freuds Werke berief: „Anschauung und Begriff“.


    Kafka war allerdings nicht mit allen Lehren Freuds einverstanden. In einem Brief an Milena bezeichnet Kafka den therapeutischen Teil der Psychoanalyse als einen hilflosen Irrtum, .. menschliches Leiden hatte Kafka zufolge eine Bedeutung, die über eine Krankheitserscheinung, wie sie die Psychoanalyse aufgedeckt zu haben glaubt, hinausgeht.


    Es gibt noch mehr Interessantes zu dem Thema, aber da war „Das Urteil“ schon geschrieben.

  • Hallo ihr Lieben,


    erst einmal Entschuldigung für die lange Funkstille! Ich hatte ja schon geahnt, dass ich ab März nicht mehr so viel im Forum sein kann, und das hat sich leider bewahrheitet.


    Ich habe aber sowohl das "Urteil" als auch eure Kommentare gelesen und möchte natürlich zumindest ein bisschen was dazu sagen!


    Genau wie Steffi habe ich die Geschichte als sehr intensiv empfunden - zu Beginn noch nicht so sehr, aber ab dem Beginn des Gesprächs mit dem Vater war da wieder dieser surreale, übermächtige Touch. Zum ersten Mal so richtig gestutzt habe ich aber erst, als Georg den vorher als hünenhaft beschriebenen Vater ("Mein Vater ist immer noch ein Riese", sagte sich Georg) plötzlich auf seinen Armen zum Bett trägt. Spätestens da war wieder der Eindruck da, mich in einem Traum zu befinden, wo ja ständig solche absurden Sachen passieren, ohne dass man sie groß in Frage stellt. Die vertauschten Rollen (Georg deckt den Vater dann auch noch wie ein kleines Kind zu etc.) hatten schon etwas Unheimliches für mich.



    Gibt es den Freund in Russland wirklich, oder nur in Georgs Phantasie. Für beides gibt es Argumente – was meint ihr?


    Ich habe mich noch nicht entschieden! :breitgrins:
    Während des Lesens war ich hin- und hergerissen - im ersten Teil der Geschichte nahm ich natürlich (?) einfach so hin, dass er real ist. Als der Vater seine Existenz dann leugnet, kam so der "Wow!"-Effekt und ich glaubte ihm gleich. Und als er wiederum zum Schluss behauptet, es gibt den Freund doch, war mein erster Gedanke: das sagt er jetzt nur, um seinen Sohn doch noch irgendwie auszutricksen - Hauptsache, er erlangt wieder die Macht über ihn. Dass ein erwachsener Mann die Korrespondenz seines Sohnes in dieser Weise sabotiert haben und dazu noch so Theater gespielt haben soll, kam mir einfach zu absurd vor.
    So nach und nach war ich aber doch versucht, ihm zu glauben, und schließlich dachte ich: gut, er hat wohl die Wahrheit gesagt.
    Und als ich fertig war, war ich mir plötzlich wieder gar nicht so sicher ... :spinnen:


    Am Schluss hat mir besonders gefallen, dass er wirklich eine Handvoll plausibler Interpretationsmöglichkeiten offen lässt. Meine war wegen der von Hubert zitierten Stelle ("den Schlag, mit dem der Vater hinter ihm aufs Bett stürzte, trug er noch in den Ohren davon") aber eigentlich auch:



    4. Am Ende sind Georg und der Vater tot. (Das ist meine Sichtweise)


    Für mich blieb außerdem der Eindruck zurück, dass der Vater am Ende eben doch irgendwie "gewonnen" hat. Er kann's halt nicht mehr auskosten! :zwinker:


    Danke übrigens Hubert für die interessanten Infos zur Veröffentlichungsgeschichte!


    Und zum Schluss noch ganz kurz etwas zu "Amerika":


    Imo sagt dieser Handlungsstrang auch etwas über Kafkas Frauenbild aus, oder wie denkt ihr darüber?


    So habe ich das noch gar nicht gesehen, bzw. hätte ich Kafka in dieser Hinsicht eigentlich nichts unterstellt ... werde ich mir aber noch durch den Kopf gehen lassen ...

    "Date a girl who reads. Date a girl who spends her money on books instead of clothes. She has problems with closet space because she has too many books. Date a girl who has a list of books she wants to read, who has had a library card since she was twelve."

  • Wow, Hubert, das ist ja eine ausführliche Recherche, vielen Dank ! Ich finde es sehr interessant und es zeigt mir, dass Kafka sicher seine Werke mit Blick auf die Psychoanalyse geschrieben hat, aber diese für sich umgesetzt und mit seinen Erfahrungen vermischt hat.


    Bluebell, du hast die Verwirrung super beschrieben, mir ging es beim Lesen auch ähnlich schwankend und ebenfalls schätze ich, dass das Ende zwar in eine Richtung weist, aber es trotzdem offen lässt. Für mich eine sehr intensive Erzählung, die ich jedem Kafka-Neuling empfehlen würde, weil doch ziemlich viel seiner Themen (Vater-Sohn-Konflikt, wechselnde Sichtweisen, absurde Szenen, Hilflosigkeit und Verzweiflung, Passivität) darin enthalten ist.


    "Die Verwandlung" habe ich vor ein paar Monaten gelesen, ich werde sie wohl im Moment nicht noch einmal lesen, daher hoffe ich, ihr entschuldigt, wenn ich mir einzelner Textpassagen nicht mehr ganz sicher bin. Insgesamt hab ich die Verwandlung schon dreimal gelesen.
    Ich warte jetzt einfach mal auf eure Beiträge, denn ich will nicht gleich zu weit vorpreschen.


  • Für mich eine sehr intensive Erzählung, die ich jedem Kafka-Neuling empfehlen würde, weil doch ziemlich viel seiner Themen (Vater-Sohn-Konflikt, wechselnde Sichtweisen, absurde Szenen, Hilflosigkeit und Verzweiflung, Passivität) darin enthalten ist.


    Und noch etwas wohl ziemlich Charakteristisches: Räume als Metaphern - das helle Zimmer Georgs, das dunkle des Vaters mit der Mauer vorm Fenster, der Gang zwischen den beiden - Georgs Durchschreiten des Gangs, sein Angebot zum Zimmertausch ...



    "Die Verwandlung" habe ich vor ein paar Monaten gelesen, ich werde sie wohl im Moment nicht noch einmal lesen, daher hoffe ich, ihr entschuldigt, wenn ich mir einzelner Textpassagen nicht mehr ganz sicher bin. Insgesamt hab ich die Verwandlung schon dreimal gelesen.


    Ich bilde mir ein, wir haben die Verwandlung mal in der Schule gelesen, aber damals war ich eigentlich zu jung dafür (11 oder 12). Ich kann mich auch kaum noch erinnern, wie sie mir gefallen hat … aber dass ich in der Erzählung in diesem Alter als etwas anderes gelesen habe als ein Märchen, wage ich zu bezweifeln.

    "Date a girl who reads. Date a girl who spends her money on books instead of clothes. She has problems with closet space because she has too many books. Date a girl who has a list of books she wants to read, who has had a library card since she was twelve."


  • Zum ersten Mal so richtig gestutzt habe ich aber erst, als Georg den vorher als hünenhaft beschriebenen Vater ("Mein Vater ist immer noch ein Riese", sagte sich Georg) plötzlich auf seinen Armen zum Bett trägt.


    Wenn Georg sagt, „mein Vater ist noch immer ein Riese“ meint er nicht ein Hüne von den Fußspitzen bis zum Scheitel, sondern er sagt das, nachdem sich der Schlafrock des Vaters im Gehen geöffnet hatte, also wieder mal eine von Kafkas Schlüpfrigkeiten. :redface:


  • es zeigt mir, dass Kafka sicher seine Werke mit Blick auf die Psychoanalyse geschrieben hat, aber diese für sich umgesetzt und mit seinen Erfahrungen vermischt hat.


    Ja, Steffi, und deshalb denke ich inzwischen, man darf Kafka nicht biografisch interpretieren oder religiös oder psychoanalytisch oder …, oder… - sondern man muss diese Ansätze alle zusammen betrachten, also Kafkas persönliche Verhältnisse, seine Auseinandersetzung mit der jüdischen Kabbala, seine Kenntnisse der Psychoanalyse und, und ……


  • Und noch etwas wohl ziemlich Charakteristisches: Räume als Metaphern - das helle Zimmer Georgs, das dunkle des Vaters mit der Mauer vorm Fenster, der Gang zwischen den beiden - Georgs Durchschreiten des Gangs, sein Angebot zum Zimmertausch ...


    Ja Räume sind bei Kafka immer sehr wichtig, ich erinnere mich noch, dass ich beim „Prozess“, mir die Lage der erwähnten Räume aufgezeichnet habe und diese Zeichnung sehr nützlich war.