Reinhard Jirgl

  • Hallo zusammen,


    der diesjährige Georg-Büchner-Preis geht an Reinhard Jirgl:


    http://www.zeit.de/kultur/lite…0-07/jirgl-buechner-preis


    kennt jemand bereits etwas von ihm?
    Ist seine Sprachkunst tatsächlich so gewöhnungsbedürftig und man vergleicht ihn mit James Joyce und Arno Schmidt?


    Grüße von
    Maria

    In der Jugend ist die Hoffnung ein Regenbogen und in den grauen Jahren nur ein Nebenregenbogen des ersten. (Jean Paul F. Richter)

    Einmal editiert, zuletzt von JMaria ()

  • Gerade habe ich im Vorbeigehen die "Hundsnächte" mitgenommen. Leider liegt noch so viel Lesestoff an, dass ich vor 2011 kaum dazu kommen werde. Einem stellenweisen Probelesen nach: ja, die Prosa ist kantig und eigenwillig, mutwillige Interpunktionen und Idiome erinnern schon an Schmidt. Vermutlich komme ich hier auf das Buch zurück.

  • Frage an alle:



    Ich verstehe diese auch bei A. Schmidt anzutreffende Typografie mit "&, -, =" etc. nicht so recht. Zum einen finde ich das optisch äußerst unschön und im Lesefluss bringt mich das auch nicht voran:


    Die Augen rund & groß, - nicht um möglichst Vieles aus der-Welt in=sich hineinzunehmen, sondern hinter diesen wie Schilde aufgestellten Blicken voller Lebenstrotz bei=sich=sein-u-bleiben zu können mit einer Form von Stolz & Treue, die jegliche Vernunft spielend unterlaufen kann, wie derlei sonst nur Halbwüxige im ersten Liebesfeuer ihres Un-Verstands zuwege bringen. (Reinhard Jirgl: Die Stille, S. 15)


    Wer kann mir die Absicht des Autors erklären? Oder zumindest Erklärungsansätze liefern.


    Danke und Gruß,
    Thomas


  • Recht aufschlussreich eine Einführung, warum das Werk von Schmidt "so komisch aussieht":


    http://www.suhrkamp.de/downloa…uehrung_Zettels_Traum.pdf


    Gruß, Thomas


    mmh - Fazit ist also, dass das Unterbewußtsein (des Lesers?) durch die seltsame Typographie angeregt und zutage gebracht werden soll ... Irgendwie so :rollen:
    dazu muß man sich wirklich sehr mit dem "Stoff" auseinandersetzen. Ich weiß nicht, ob das auf Anhieb beim Leser so gelingt (ohne Hintergrundinformationen) .
    Interessant finde ich es allemal.


    Grüße von
    Maria

    In der Jugend ist die Hoffnung ein Regenbogen und in den grauen Jahren nur ein Nebenregenbogen des ersten. (Jean Paul F. Richter)


  • Er folgt offensichtlich der Strategie "Wenn Du nicht zu überzeugen vermagst, so verwirre wenigstens ordentlich!"


    Da schließe ich mich Tom an ! Mögen auch noch so intellektuell ausgereifte Ziele dahinterstehen, ich fühle mich dabei irgendwie veräppelt !

  • Moin, Moin!


    Da schließe ich mich Tom an ! Mögen auch noch so intellektuell ausgereifte Ziele dahinterstehen, ich fühle mich dabei irgendwie veräppelt!


    Ich kann das nicht so einfach abtun. Meiner Meinung nach verändern die orthografischen und stilistischen Besonderheiten die Rezeption eines Textes. Ich lese "Die Stille" nun schon seit geraumen Tagen und empfinde einen gravierenden Unterschied in der Wahrnehmung "normaler" Texte und dieses Buches von Jirgl.

  • Für die etwas seltsamen Kürzel (&, u, u:, o...) und die sogenannten "Numerale" gibt es in "Abschied von den Feinden" einen erläuternden Anhang. Am besten steckt man da zu Anfang ein Lesezeichen rein, um im Zweifelsfalle nachzuschlagen.


    Die so entstehenden Variationen sollen tatsächlich für Bedeutungsunterschiede stehen. Hin und wieder leuchtet mir das sogar ein. Allerdings entsteht so ein reiner Lesetext - schon für das Vorlesen erteilt Jirgl einen ausdrücklichen Dispens von allen Variationen, da bleibt ein und immer ein und. Moment, wenn ich die Regeln richtig verstanden habe, darf ich schreiben: !da ist 1&,u,u: immer 1und.

  • Abschied von den Feinden - Der Erfahrungsbericht


    „Bei Jirgl beschleicht einen das Gefühl, dass es doch noch einen Unterschied zwischen E-Kultur und U-Kultur geben könnte. Jirgl ist das, wovor uns die Germanistikprofessoren immer gewarnt haben.“


    Dazu, wie es sich gehört, ein Fundstellennachweis: das ist ein Satz aus der Laudatio von Helmut Böttiger zur Verleihung des Büchnerpreises 2010. Und es ist schon richtig: Bei Reinhard Jirgl gibt es keine Convenience-Literatur. Diesem Buch sieht man die harte Arbeit an der Form an. Die Sprache wird behauen und geschliffen. Das Ergebnis ist sicher nicht mehrheitsfähig, aber es hat Charakter.


    „Abschied von den Feinden“ zeigt, dass sich gesellschaftliche Verhältnisse, die die Menschen zerstören, nicht wirklich ändern, sondern in Zyklen ständig reproduzieren – das ist das Funktionsprinzip dieses Romans. Die Handlung ist auf drei Erzählperspektiven verteilt, ein Brüderpaar und so etwas wie ein Chor der „Wurstbrotigkeit“ (Zit.Jirgl) in einer Provinzstadt in der gerade abgewickelten DDR, der - offenbar nach einem gewaltsamen Zusammenstoß mit Bewohnern eines Asylheimes selbst verwundet - auf den jüngeren der beiden Brüder einredet, der schwer verletzt in einem Krankenhaus liegt. An den Personen und Handlungssträngen wird deutlich, wie sich Verhältnisse, die die Menschen bis zur physischen Vernichtung bedrängen, ständig wiederholen; selbst die Umwälzungen der Wende- und Mauerfallzeit ändern daran nichts.


    Sicher erinnert die Textgestaltung mit den Synonymen für Konjunktionen, mit Numeralen, einer erratischen Interpunktion, Neo- und Translogismen an Arno Schmidt (und an Uwe Dick!), und sicher stammt das aus einer ähnlichen Idee. Aber bei Jirgl funktioniert das anders, es ist stärker systematisiert; vor allem aber wird der Text nicht in kleine Filmschnitte gebrochen.


    Die Interpunktionsvarianten leuchten mir auf Anhieb ein, es ist, jedenfalls nach einer kurzen Eingewöhnung, durchaus nützlich, wenn man schon dem Beginn des Satzes ansieht, ob er eine Frage oder einen Ausruf enthält.


    Nicht überzeugt bin ich dagegen von dem System der Numerale, und zwar aus folgendem Grund: der Artikel „ein“ zum Beispiel lässt sich deklinieren, das Numeral „I“ nicht. Das führt manchmal dazu, dass die konkrete Bedeutung und der entsprechende Lautwert erst deutlich wird, wenn in der nächsten oder übernächsten Zeile der Satz endet. So etwas stört mehr, als es Sinnebenen öffnet. Das und die Kürzel und Synonyme der Konjunktionen „und“ und „oder“ sind Dinge, die, wie Jirgl anderenorts selbst einräumt, beim Vorlesen ohnehin unter den Tisch fallen müssen; wenn man ohne Sinnverlust vorlesen kann, und das kann man meiner Meinung nach, zeigt das, dass sprachliche Redundanz völlig ausreicht, alle nötigen Sinnebenen zu entschlüsseln.


    Ein inhaltlicher Punkt stieß mir seltsam auf, es ist die Erzählperspektive des jüngeren Bruders. Den Grund möchte ich hier nicht verraten, weil damit eine Auflösung der Geschichte verraten würde. Nur soviel: im Film gilt so etwas als Todsünde.

    Einmal editiert, zuletzt von Gronauer ()

  • An anderer Stelle schon mal gepostet, aber der Übersicht halber nochmal hier im Thementhread:


  • Wieso tut man sich so einen Tort an?


    Die Genealogie des Tötens, eine in den 80ern entstandene Trilogie, als Typoskript auf über 800 dtv-Seiten. Vom Aufbau-Verlag in der damaligen DDR entsetzt zurückgewiesen, nach der Wende bei Hanser erstveröffentlicht und kurz danach im dtv verfügbar geworden. Das war sicher die stacheligste Lektüre dieses Jahres, und das will etwas heißen in einem Jahr mit drei Antunes- und drei weiteren Jirgl-Romanen.


    Die "Genealogie" ist als "Trilogie" bezeichnet; deren erster Teil (Klitaemnestra Hermafrodit / Mama Papa Tsombi) aber nochmals in mehrere Teile zerfällt (selten war dieses Verb passender als hier), darunter eine mehrspaltige hyperrealistisch- szenische Geschichte einer Familienkatastrophe; eine eigenwillige und in pathetisch gebundener Sprache geschriebene Interpretation der Tantalidentragödie; und eine kafkaeske Erzählung "Heart of Clay". Der zweite Teil "MER" ist eine mehrstimmig erzählte Phantasie über eine auf der Insel Hiddensee unversehens internierte Reisegesellschaft, hinter deren Horizont auf dem Festland offenbar eine nukleare Katastrophe stattfand. Dieser Teil entstand 1985, also im Jahr vor Chernobyl. Der Trilogie dritter Teil ist im Anhang als "Satyrspiel" bezeichnet; es ist formal der geschlossenste, aber inhaltlich auch der am schwersten verdauliche Teil, der Nihilismus der Hauptfigur (Held mag ich ihn nicht nennen) kennt keine Kompromisse.


    Für ausgesprochen interessierte Jirgl-Leser - also für einen wie mich - ist das ein wesentliches Stück Literatur, zumal einzelne Episoden in späteren Romanen wieder auftauchen, hier sind sie als Vorstudien zu bewundern. Auch die eigenwilligen Formalismen befinden sich hier noch im Stadium des Entstehens. Allen anderen rate ich ab.