Spaltung Philosophie und Naturwissenschaft

  • Seid gegrüsst!
    Etwas aus der Übung gekommen, hier zu schreiben und zu lesen, hoffe ich, dennoch das richtige Unterforum erwischt zu haben.


    Neulich fiel mir "Discours de la méthode" von Descartes in die Hände, ein Text den ich grössenteils zu schätzen lernte.


    Wie der Titel des Themas vermuten lässt, geht es mir hier jedoch nicht eigentlich um Descartes, sondern der "Discours" war nur der Auslöser, mich dafür zu interessieren wann und warum sich die Philosophie von den Naturwissenschaften "gespalten" hat. Bisher habe ich nur das Interesse, ein paar diffuse Gedanken, weder Fakten noch Antworten, würde mich jedoch freuen, wenn Ihr mir helfen würdet, solche zu finden.


    Vielleicht ist es notwendig, ein paar Dinge zu präzisieren, um einigen Missverständnissen vorzubeugen:
    - Ich wüsste nicht zu sagen, wer der "letzte" Mensch war, der sowohl ein geschätzter Naturwissenschaftler als auch ein geschätzter Philosoph war, aber mir scheint, zumindest die letzten 100 Jahre haben keinen solchen hervorgebracht, doch lasse ich mich gerne eines besseren belehren.
    - Mir ist bewusst, dass viele Naturwissenschaftler einerseits wenig von Geisteswissenschaften halten (und verstehen), andererseits ist jedoch ein nicht unbeachtlicher Anteil interessiert und fasziniert von grundlegenden Fragen wie: Woher kommt das Leben, was macht das Leben aus, wie entstand die Welt. Daraus schliesse ich, dass es eigentlich überlappende Interessen geben müsste.
    - Lasst uns, soweit wie möglich, Religiosität aus der Diskussion heraushalten, ich glaube nicht, dass sie irgendetwas mit meiner Frage zu tun hat.
    - Mir ist es (von der naturwissenschaftlichen Seite aus) klar, dass es keine "Universalgelehrten" mehr geben kann. "Man weiss zu viel", für dass ein einzelner Mensch, wie früher über Philosophie, Medizin, Mathematik, Physik, Chemie, Biologie und was weiss ich was alles alles wichtige weiss und entsprechend überall an vorderster Front mitdiskutieren kann. Aber nur mit der Menge zu argumentieren scheint mir eine schwache Antwort.


    Glaubt ihr, dass die "Spaltung" schon lange latent vorhanden war, d.h. dass es "die Klassiker", sich schon eher entweder als Philosophen, die als Hobby noch etwas Geometrie betrieben oder als "Mathematiker", die so nebenher noch etwas über andere Dinge nachdachten, gesehen haben?


    Auf den Punkt gebracht: Für Descartes scheint Philosophie und, nehmen wir ein einfaches Beispiel, Geometrie, zuallermindest verwandte Wissenschaften gewesen zu sein. Ich (und wahrscheinlich viele Zeitgenossen?) sehe nicht mehr eine Notwendigkeit etwas von Philosophie zu verstehen um Mathematik betreiben zu können (oder umgekehrt). Weshalb ist das so - und seit wann?


    Beste Grüsse und gespannt auf Eure Antworten
    alpha

    Genug. Will sagen: zuviel und zu wenig. Entschuldigen Sie das Zuviel und nehmen Sie vorlieb mit dem zu wenig! <br /><br />Thomas Mann

  • Nun, eigentlich schon in Alexandria, also im Hellenismus - allerdings ist diese Spaltung sozusagen in den Osten gegangen und erst Jahrhunderte später von dort, durch arabische Schriften vermittelt, wieder nach Westeuropa gekommen.

    Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen? - Karl Kraus

  • Hallo Alpha,


    Interessante Frage.


    Zunächst mal würde ich den Sachverhalt so formulieren, dass sich die Naturwissenschaften von der Philosophie abgespalten haben, nicht umgekehrt.


    Den Grund sehe ich darin, dass die Wissenschaften ein Instrumentarium entwickelt haben, dass es ihnen ermöglicht hat, nachprüfbare (weil falsifizierbare) Aussagen über die Wirklichkeit zu machen, während die Philosophie rein spekulativ geblieben ist. Die wissenschaftliche Methode war überaus erfolgreich; die (verbleibende!) Philosophie hat nichts dergleichen vorzuweisen - bis heute keine einzige Erkenntnis... so passen Naturwissenschaft und Philosophie von der Methodik einfach nicht (mehr) zusammen.


    Die exponentiell anwachsende Wissensmenge hat m.M.n. zur weiteren Differenzierung der Wissenschaften geführt, nur dass die Grundlagen die gleichen geblieben sind, so dass von einem Ausanderdriften wie im Fall Philosophie - Naturwissenschaften nicht die Rede sein kann.


    Übrigens, soweit ich weiß, waren die Naturwissenschaften an den deutschen Universitäten noch lange Zeit Teil der philosophischen Fakultät. Z.B. an der Uni Münster wurde die philosophische Fakultät 1903 in philosophisch-naturwissenschaftliche Fakultät umbenannt und erst 1948 wurde die naturwissenschaftliche Fakultät abgespalten.


    Den tatsächlichen Differenzierungsprozess (d.h. Entstehung der modernen Naturwissenschaften) würde ich im Zeitalter der Aufklärung vermuten.


    - Harald

    Aktuell: Altägyptische Literatur. Kafka. Theater des Siglo de Oro. Gontscharow. Sterne, Fielding, Smollett.


  • Den Grund sehe ich darin, dass die Wissenschaften ein Instrumentarium entwickelt haben, dass es ihnen ermöglicht hat, nachprüfbare (weil falsifizierbare) Aussagen über die Wirklichkeit zu machen, während die Philosophie rein spekulativ geblieben ist. Die wissenschaftliche Methode war überaus erfolgreich; die (verbleibende!) Philosophie hat nichts dergleichen vorzuweisen - bis heute keine einzige Erkenntnis... so passen Naturwissenschaft und Philosophie von der Methodik einfach nicht (mehr) zusammen.


    Philosophie als rein spekulativ bezeichnet zu sehen tut irgendwie weh und ich bin überzeugt, dass sich zumindest gewisse Philosophen dagegen wehren würden.
    Vielleicht wäre "subjektiv" das bessere Adjektiv? Schliesslich war Descartes davon überzeugt, dass seine Methode "universel" anwendbar sei, d.h. gleichermassen auf geistige wie auch auf geometrische Probleme.


    sandhofer: Darf ich daraus schliessen, dass die "Spaltung" schon "seit jeher" möglich war, sich jedoch je nach Kultur und Geschichte früher oder später manifestiert hat?


    Grüsse
    alpha

    Genug. Will sagen: zuviel und zu wenig. Entschuldigen Sie das Zuviel und nehmen Sie vorlieb mit dem zu wenig! <br /><br />Thomas Mann

  • Zitat von alpha

    Schliesslich war Descartes davon überzeugt, dass seine Methode "universel" anwendbar sei, d.h. gleichermassen auf geistige wie auch auf geometrische Probleme


    Das mag ja sein, dass Descartes von der Universalität seiner Methode überzeugt war, aber stimmt es auch? Welches bis heute allgemein anerkannte Resultat wurde denn mit dieser Methode erzielt?


    Das, was man heute unter "Philosophie" versteht, hat, soweit ich weiß, nicht ein einziges Ergebnis vorzuweisen, das auch nur annähernd Erkenntnissen wie beispielsweise dem zweiten Hauptsatz der Thermodynamik oder dem Gödelschen Unvollständigkeitssatz zu vergleichen ist.


    Mir scheint, dass Philosphie als Tätigkeit viel enger mit Dichtung als mit Wissenschaft verwandt ist.


    - Harald

    Aktuell: Altägyptische Literatur. Kafka. Theater des Siglo de Oro. Gontscharow. Sterne, Fielding, Smollett.

  • Lässt sich nicht aus der Rückschau sagen, dass beide Begriffe, Philosophie und Naturwissenschaft sehr pauschal sind und eine Aufspaltung nur im Zusammenhang mit der Differenzierung innerhalb der Disziplinen betrachtet werden kann.
    Spontan meine ich, mit der Priorisierung von Experiment, Messung und der induktiven Beweisführung, wurden die exakten Naturwissenschaften von der Metaphysik getrennt. Alle Naturwissenschaften und auch die Mathematik beruhen aber auch auf Prämissen, die sich innerhalb dieser Wissenschaften nicht beweisen lassen und deshalb weiter schöne Spielwiesen für die Philosophen und philosophisch interessierte Wissenschaftler darstellen. Außerdem ist die Wissenschaftstheorie, also die Frage nach wissenschaftlichen Regeln ein Gebiet, das von der Philosophie mit beansprucht wird aber ohne die Erkenntnisentwicklung der Wissenschaften selbst unvollständig und esoterisch bleiben würde. Überhaupt ist so ein Begriff wie "Wissenschaftstheorie" eher ein Anzeichen, dass es auch Überlappung von Wissenschaft und Philosophie gibt, genauso wie sich in der Logik Mathematik und Philosophie eher umarmen, als sich aus dem Weg zu gehen.
    Festhalten lässt sich, war zur Zeit Schopenhauers, der die Bemerkung machte: „Das Experiment ist, die Natur auf die Folter gespannt“ die Trennung offensichtlich schon sehr weit fortgeschritten.
    Persönlich wünsche ich mir alle Metaphysiker in die Hölle und fast alle Physiker in den Himmel, also wenigstens für die Protagonisten eine klare Trennung.


  • wie sich in der Logik Mathematik und Philosophie eher umarmen, als sich aus dem Weg zu gehen.


    Womit wir vielleicht doch wieder beim Mengenargument sind: Eine (kleine?) Schnittmenge scheint vorhanden zu sein zwischen den beiden Disziplinen - Wenn die beiden Mengen klein genug sind, reicht sie aus, eine Bruecke zu bilden - sind die beiden Mengen gross (oder nur die eine davon), dann verliert die Schnittmenge ihre "Brueckenfunktion", weil es einfacher ist sich im Rest der Menge zu bewegen, als in die andere Disziplin hinueberzuwechseln. - Ergibt dies Sinn?


    Und vielleicht spielt es auch eine Rolle, wie viele Leute es gibt, die sich damit beschaeftigen: Wenn es viele gibt, dann tendiert man, nur die wichtigesten (gewertet nach ihrem bleibenden/langfristigen Wert) Erkenntnisse vollstaendig zu wuerdigen - wenn es nur wenige Gelehrte gibt, interessiert man sich wohl mehr fuer alles, was sie getan haben.
    Als Beispiel: Newton ist gut bekannt als Physiker - dass er auch auf der Suche nach dem Stein der Weisen (philosopher's stone) war und daran glaubte, ist wesentlich weniger bekannt.


    Gruesse
    alpha

    Genug. Will sagen: zuviel und zu wenig. Entschuldigen Sie das Zuviel und nehmen Sie vorlieb mit dem zu wenig! <br /><br />Thomas Mann

  • sandhofer: Darf ich daraus schliessen, dass die "Spaltung" schon "seit jeher" möglich war, sich jedoch je nach Kultur und Geschichte früher oder später manifestiert hat?


    Mal so einen Schnellschuss gewagt, ohne dass ich dies beweisen könnte: Die Spaltung scheint mir v.a. eine der westlichen Kultur zu sein.

    Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen? - Karl Kraus

  • Womit wir vielleicht doch wieder beim Mengenargument sind: Eine (kleine?) Schnittmenge scheint vorhanden zu sein zwischen den beiden Disziplinen - Wenn die beiden Mengen klein genug sind, reicht sie aus, eine Bruecke zu bilden - sind die beiden Mengen gross (oder nur die eine davon), dann verliert die Schnittmenge ihre "Brueckenfunktion", weil es einfacher ist sich im Rest der Menge zu bewegen, als in die andere Disziplin hinueberzuwechseln. - Ergibt dies Sinn?


    Beachte aber bitte auch den Aspekt der Qualität. Die Schnittmenge ist wohl tatsächlich klein. Aber gegen wie viele Arbeiten aus den "Reinen" Gebieten willst du die Bedeutung der Arbeiten von z. B. Cantor, Frege, Russell, Gödel, Neuman, Turing aufrechnen.
    Es ist auch eine Frage von Interesse, Talent und Spezialisierung, die entscheiden wo sich Wissenschaftler am wohlsten fühlen, und nicht nur die Frage nach der Leichtigkeit des Seins. Auf der anderen Seite behaupte ich, ist es viel einfacher in einer Skihütte über Sein und Zeit nachzudenken, als ein System nichtlinearer partieller Differntialgleichungen aus der allgemeinen Relativitätstheorie zu lösen.