Oktober 2009 - Iwan A. Gontscharow: Oblomow

  • Ich muss mich auch ein bisschen auf Oblomows Seite schlagen. Noch ist sein lethargisches Leben nicht so lange Vergangenheit, und wenn er diesen Lebensstil jahrelang gepflegt hat, wird er sich nicht innerhalb weniger Wochen ändern und zum spontanen und wagemutigen Menschen entwickeln. Vermutlich waren die Frauen damals zurückhaltender als in unserer Zeit; ich finde, Olga ist schon sehr mutig und aufgeschlossen in ihrer Art, Oblomow ihre Gefühle zu offenbaren. Für einen so zurückhaltenden Mann wie Oblomow ist es bestimmt nicht leicht, damit umzugehen.


    Selbstbewusstsein und Selbstvertrauen sind bei ihm nicht vorhanden, und das wird sich auch so schnell nicht entwickeln. Dazu bräuchte es wohl einen Stolz, der Oblomow bei der Hand nimmt, gut zuredet und unterstützt. Ich finde es schon beachtlich, dass er so schnell einen Brief an Olga schreibt, was seinen sonstigen Gewohnheiten ja ganz und gar nicht entspricht.


    Ob er den Brief auch abgeschickt hat, weiß ich noch gar nicht, da ich unmittelbar nach dem Brief aufhören musste zu lesen :zwinker:


    Grüße
    Doris

  • Katrin, mir sind die Romane die Liebsten, wenn ich darin etwas von mir, von meinem Leben oder auch von meinen (Alb)Träumen finde. Ich steige dann auch in die Geschichten hinein, und lebe mit den Figuren, schaffe mir Freunde und Gegner. Wir müssen jedoch auch dem Autor sein Recht lassen, uns seine Sicht der Dinge zu zeigen, und in diesem „Männerroman“ stellt er uns eben eines der wenigen unvollkommenen Exemplare vor :zwinker: Für Frauen kann das verstörend sein. Welche Frau kann auch schon den Mann den sie sich wünscht, von dem unterscheiden, mit dem sie es zu tun hat :zwinker:


    Für einen verliebter Mann, noch in der Phase der Unsicherheit, lauert hinter jeder Geste, hinter jedem Wort die Panik, er liegt nachts wach und grübelt über die möglichen Fehler, die er am Tag gemacht hat und die Folgen die das haben kann. Er lauert auf jedes Zeichen und verliert die Fähigkeit es zu deuten, er wird zum Nervenbündel und wehe, schwankend zwischen Verzweiflung und Hoffnung. Wehe ihm, wenn das nicht vorüber geht. Oblomow kann ich da sehr gut verstehen.


    Ich kann Doris auch zustimmen. Wenigstens am Anfang seiner Werbung um Olga zeigt Oblomow den Willen zur Veränderung, leider fehlt ihm dazu der Hintergrund und vielleicht hat er sich dafür auch überschätzt. Das ist aber auch das zentrale Thema dieses Romans.


    Was die Frauen des niederen Adels und des Bürgertums im 19. Jahrhunderts betrifft, ganz pauschal: eine Frau war in ihrer Jugend Tochter und dann möglichst früh Ehefrau, sonst war sie nichts, im besten Fall konnten die „Späten Mädchen“ Gouvernante werden, in „schlimmeren“ Fällen Nonne oder vertrocknete Jungfer. Die standesgemäße Ehe war das große Ziel, die Erziehung danach ausgerichtet und das hat auch die Fähigkeit geförsert sich tief zu verlieben, den mit dem Mann kam die Aussicht auf Sicherheit und Anerkennung. Wir kennen einige Fälle in denen Frauen aus dieser Rolle ausgebrochen sind, oft mit dramatischen Folgen (man braucht nur Fontane, Flaubert, Stendal, Zola u.u.u. zu lesen) manchmal mit Erfolg, aber vorherrschend war die Unterordnung unter den Mann Ziel, Schicksal und durch die Gesetze erzwungen (vielleicht ist ja auch deshalb das 19. so ein grandioses Jahrhundert :breitgrins: )


    Unsere beiden gegenwärtigen Hauptpersonen gehören zu denen die keinem Broterwerb nachgehen. Sie haben also viel Zeit für Gefühle und können sich darauf konzentrieren. Die Konventionen zwingen sie in ein enges Korsett und Olga ist zu bewundern, wie frei sie sich macht und eigentlich ein Vorbild für Oblomow darstellt. Von Oblomow können wir nicht das Gleiche erwarten, sonst wäre er nicht Oblomow.


  • Für Frauen kann das verstörend sein. Welche Frau kann auch schon den Mann den sie sich wünscht, von dem unterscheiden, mit dem sie es zu tun hat :zwinker:


    Ich würde da jetzt gerne was erwidern, aber ich interpretiere den Smiley jetzt mal als Scherz. Daher lasse ich es bleiben :zwinker:




    Was die Frauen des niederen Adels und des Bürgertums im 19. Jahrhunderts betrifft, ganz pauschal: eine Frau war in ihrer Jugend Tochter und dann möglichst früh Ehefrau, sonst war sie nichts, im besten Fall konnten die „Späten Mädchen“ Gouvernante werden, in „schlimmeren“ Fällen Nonne oder vertrocknete Jungfer. Die standesgemäße Ehe war das große Ziel, die Erziehung danach ausgerichtet und das hat auch die Fähigkeit geförsert sich tief zu verlieben, den mit dem Mann kam die Aussicht auf Sicherheit und Anerkennung. Wir kennen einige Fälle in denen Frauen aus dieser Rolle ausgebrochen sind, oft mit dramatischen Folgen (man braucht nur Fontane, Flaubert, Stendal, Zola u.u.u. zu lesen) manchmal mit Erfolg, aber vorherrschend war die Unterordnung unter den Mann Ziel, Schicksal und durch die Gesetze erzwungen (vielleicht ist ja auch deshalb das 19. so ein grandioses Jahrhundert :breitgrins: )


    Das ist mir alles bewusst, aber vielleicht bin ich zu sehr Emanze um diese Romane neutral zu lesen. Ich krieg immer voll die Krise wenn sich die Frau unterordnen muss. Ich bin bei weitem keine Alice Schwarzer und halte auch Reden in denen ständig das Wort "Innen" vorkommt, für völlig lächerlich, aber ein bisschen Eigenständigkeit darf es dann schon sein.
    Ich lese eben lieber Romane in denen sich die Frauen in der Zeit aufgelehnt haben und gewannen, anstatt zu verlieren.




    Unsere beiden gegenwärtigen Hauptpersonen gehören zu denen die keinem Broterwerb nachgehen. Sie haben also viel Zeit für Gefühle und können sich darauf konzentrieren. Die Konventionen zwingen sie in ein enges Korsett und Olga ist zu bewundern, wie frei sie sich macht und eigentlich ein Vorbild für Oblomow darstellt. Von Oblomow können wir nicht das Gleiche erwarten, sonst wäre er nicht Oblomow.


    Ja, das stimmt. Was würde uns einfallen wenn wir den ganzen Tag in Gefühlen schwelgen würden :zwinker:
    Das Buch ist nach wie vor spannend und ich habe auch fast das vorletzte Kapitel in diesem Teil geschafft. Diese Woche werde ich aber nicht mehr viel zum Lesen kommen, da ich morgen nach Frankfurt zur Buchmesse fahre und erst am Sonntag in der Nacht zurück komme.


    Katrin

  • Du hattest schon erwähnt, dass du auch Fantasy-Romane magst :breitgrins:


    Das werte ich jetzt als persönlichen Angriff :breitgrins: Es gab sicher Frauen die sich gegen das System aufgeleht haben.


    Danke übrigens für den Buchtipp, schaue ich mir genauer an.


    Katrin

  • Eine Szene hat mich heute stutzig gemacht:
    Und wenn dieser Brief und all das andere nicht gewesen wäre, hätte sie nicht geweint und alles wäre so wie gestern, wir würden hier still miteinander in der Allee sitzen, einander anblicken und über das Glück reden. Und morgen würde es wieder so sein...
    Er gähnte mit sperrangelweit geöffnetem Mund.


    Selbst wenn dieser Abschnitt in einem Moment spielt, als Oblomow wegen einer durchwachten Nacht sehr müde ist, kommt mir der letzte Satz doch sehr bedeutsam vor. Erwartet er von seiner zukünftigen Ehefrau mehr als nur häusliche Geborgenheit, vielleicht die pure Leidenschaft oder wenigstens spontane Überraschungen und Abwechslung? Das klingt gar nicht nach dem Oblomow des ersten Buches, der sich am liebsten im Bett verkriecht und den vermögenden Adeligen abgibt. Sucht er nach Gründen, um einer Ehe zu entgehen, die gerade in greifbare Nähe rückt?


    Ich lese eben lieber Romane in denen sich die Frauen in der Zeit aufgelehnt haben und gewannen, anstatt zu verlieren.


    Dann könnte dieses Buch etwas für dich sein:


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  • Danke für den Tipp. Von Charlotte Bronte habe ich schon Jane Eyre gelesen und das fand ich sehr gut. Werde mehr von ihr lesen, habe ich bisher immer aufgeschoben.


    Ich habe den zweiten Teil jetzt beendet und bin etwas verwirrt. Aber meine Frage stelle ich erst wenn alle mit dem Teil fertig sind, sonst verrate ich zu viel.


    Katrin

  • Jaqui:


    Ein Ausschnitt aus einem Interview mit Amos Oz aus faz-online:
    ---------------
    Weshalb lesen wir eigentlich Romane?


    Weil es ein großes Vergnügen ist, an ihrer Erschaffung teilzuhaben. Wenn man einen Roman liest, ist man der Ko-Autor oder der Aufführende. Es ist, als ob einem der Autor die Noten geliefert hätte und man den Roman wie ein Stück Musik spielen könne. Wenn ein Roman einen Sonnenuntergang beschreibt, muss der Leser seinen eigenen Sonnenuntergang zu dem Buch beisteuern; erzählt der Roman von unerwiderter Liebe, muss der Leser die eigene unerwiderte Liebe einbringen. Mit einem Roman verhält es sich anders als mit einem Bild, einer Theateraufführung oder einem Kinofilm, die alle ganz direkt die Sinne ansprechen. Wenn man jedoch einen Roman aufschlägt, sieht man nichts als tote Ameisen im Schnee. Es ist die Kunst, diese Ameisen in Bilder, Gerüche, Geräusche und Erfahrungen zu verwandeln, die das Lesen zu einem so großen Vergnügen macht.


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    Vielleicht hilft es dir, deine Abneigung gegen einige Figuren ein wenig zu besänftigen.


    Viel Spaß auf der Buchmesse. Ich selbst wohne zwar im Rhein-Main-Gebiet, war aber noch niemals dort.

  • Amos Oz hat sicherlich Recht :winken:


    Ich habe nun die ersten drei Kapitel im dritten Teil beendet und da taucht Tarantjew wieder auf. Nach den ersten Sätzen von ihm hatte ich schon die Befürchtung dass Oblomow wieder klein bei gibt, aber diesmal hat er sich ja ordentlich gewehrt. Da war ich ganz stolz auf O. :breitgrins:


    Was allerdings mit Olga los ist weiß ich nicht wirklich. Sie hält den armen Kerl hin. Klar, Oblomow könnte noch aktiver sein und die ganzen Sachen endlich regeln anstatt alles schleifen zu lassen, aber die Drängerei von Olga bringt ihn da nicht wirklich weiter. Da stellt sich bei mir die Frage ob sie ihn überhaupt will.


    Lost: Danke, den Spaß werde ich haben. Die Buchmesse ist schon was besonders. Ich fahre heuer zum dritten Mal hin. Die Wiener Buchmesse dagegen habe ich voriges Jahr ausgelassen :breitgrins: dabei war die ja praktisch vor meiner Nase.


    Katrin

  • Ich habe den dritten Teil fertig gelesen. Das ständige Hin und Her zwischen den beiden Verliebten bleibt ohne Ergebnis, was vor allem an Oblomow liegt. Seine Unentschlossenheit in dieser Herzensangelegenheit gleicht der Situation mit seinem Gut: Er hat viel Kostbares in den Händen und weiß nicht damit umzugehen und das Beste daraus zu machen. Zumindest als Verwalter ist er neben seiner schulischen Ausbildung von seinem Vater offensichtlich nur unzureichend vorbereitet worden, so dass man hier zumindest kaum einen Vorwurf machen kann. Es tut schon fast weh zu lesen, wie er sich von seinen Angestellten ausnehmen lässt und blauäugig alles glaubt, was man ihm schreibt. Da ist es fast schon verwunderlich, dass er sich Olga so lange widersetzt, die auf eine Bekanntgabe ihrer Liaison drängt. Eigentlich würde es eher zu seinem Charakter passen, sich auch hier dem Drängen zu ergeben.


    Zu Beginn war mir diese Liebesgeschichte schon fast etwas zu lang, aber inzwischen verfolge ich mit wachsender Begeisterung, wie sie sich entwickelt.

  • Den Roman konnte ich am Wochenende fertig lesen. Um nicht vorzugreifen, will ich jedoch bis zum nächsten Wochenende mit meinem Kommentar warten, vorausgesetzt ihr seit nicht früher am Ende ;-)


    Im letzten Kapitel gibt es aber eine Einzelheit, die ich schon jetzt ansprechen will, weil sie über die Geschichte kaum etwas verrät, mich aber völlig überraschte.
    Gontscharow selbst taucht in seinem Roman auf und stellt u.a. die Frage. „Ich möchte gerne wissen, wie man Bettler wird...?“
    Er bekommt die Antwort: „Wozu brauchst du das? Willst du etwa „Mysteres de Petersbourg“ schreiben?“
    Als hätte G. geahnt, was unsere nächste gemeinsame Lektüre ist :rollen:


    Doris:
    O. zweifelt natürlich an seinen Möglichkeiten Olga ein standesgemäßes Umfeld zu bieten, und krankt, wie du schreibst, an seinen mangelnden Fähigkeiten die Angelegenheiten ins Reine zu bringen, auch weil sich jetzt seine prekäre Situation zeigt. Keine passende Wohnung, kein Überblick über die finanzielle Lage, ein verlotterter Besitz und eine gewisse Selbsterkenntnis. Werf dich damit mal auf die Knie und halte um die Hand einer Frau an.

  • Oblomow soll sich nicht auf die Knie werfen, sondern auf die Hinterbeine stellen und endlich in sein Dorf fahren :zwinker:. So viel Grips muss er doch haben zu erkennen, dass sich die Situation nicht bessert, wenn er weiterhin den Kopf in den Sand steckt und erwartet, dass irgendjemand seine Angelegenheiten regelt. Außerdem ist ihm bekannt, dass auf dem Gut einiges im Argen liegt. Da macht es doch mehr Eindruck auf die Zukünftige, wenn er tatkräftig gegen die Missstände angeht, als wenn er sich so passiv verhält.


    Auf Sue gab es früher schon mal eine Anspielung. Leider habe ich die Stelle nicht mehr gefunden. Gibt es da etwa einen persönlichen Bezug für Gontscharow?


    Grüße
    Doris


  • Oblomow soll sich nicht auf die Knie werfen, sondern auf die Hinterbeine stellen und endlich in sein Dorf fahren :zwinker:. So viel Grips muss er doch haben zu erkennen, dass sich die Situation nicht bessert, wenn er weiterhin den Kopf in den Sand steckt und erwartet, dass irgendjemand seine Angelegenheiten regelt. Außerdem ist ihm bekannt, dass auf dem Gut einiges im Argen liegt. Da macht es doch mehr Eindruck auf die Zukünftige, wenn er tatkräftig gegen die Missstände angeht, als wenn er sich so passiv verhält.


    Grüße
    Doris


    Du liegst m.E. richtig, so wie Stolz. Es ist aber halt ein Roman, der die Folgen der Lethargie zum Thema hat und die Russen zum Nachdenken bringen sollte. Es ist halt kein Entwicklungsroman. Oblomow kennt ja seine Schwächen, nur überwinden kann er sich nicht und so treibt er durch dass Leben wie ein Stück Holz auf dem Meer. Im Roman sind die zu treffenden Entscheidungen klar zu erkennen, im richtigen Leben, finden sich allerdings häufig Situationen, in denen Entscheidungen nicht eindeutig in eine bestimmte Richtung weisen, und dann ist Nichtstun ja nicht unbedingt eine erfolglose Strategie.
    Auch wenn ich vorgreife: die Entscheidung Oblomows Olga z. B. nicht heiraten war richtig, wenigstens für Olga.
    Pädagogisch sinnvoll wäre es, wenn Gontscharow seinem Helden ein Happyend können würde. Die russische Seele, auch die der Autoren scheint aber schwermütig zu sein und so belässt er es dabei die unausweichlichen Folgen zu beschreiben.


    Sue war wohl damals das, was heute Dan Brown u. ä. sind.

  • Na, da seid ihr mir aber jetzt davon gerannt :breitgrins:


    Wie zu erwarten bin ich während der Messe natrlich nicht mal annähernd dazu gekommen am Oblomow weiter zu lesen und während der siebenstündigen Heimfahrt habe ich begonnen "Das verlorene Symbol" von Dan Brown zu lesen. (Ich bin übrigens nicht Schul daran, mein Freund hat es für mich gekauft :breitgrins: ich habe andere Bücher mitgenommen)


    Aber ich bin optimistisch, dass ich das Buch bis zum Wochenende gelesen haben werde. Eure Kommentare habe ich schon gelesen und ich habe schon befürchtet dass es kein Happy End für unseren Oblomow geben wird. Wie genau sich alles abspielen wird, werde ich aber jetzt erkunden.


    Katrin


  • Es ist aber halt ein Roman, der die Folgen der Lethargie zum Thema hat und die Russen zum Nachdenken bringen sollte. Es ist halt kein Entwicklungsroman.


    Ja, es ist schon seltsam: Während Gontscharows Landsmann Dostojewski wenige Jahre nach „Oblomow“ einen 800-Seiten-Roman darauf verwendet, die Hölle der seelischen Entwicklung anhand des Mörders Raskolnikow zu schildern („Schuld und Sühne“), bleibt unser „Held“ wie ein Muster an Beharrungsvermögen unbelehrbar und stoisch. Mir fällt aus jener Zeit nur ein literarischer Charakter ein, der sich vergleichbar verhält: Herman Melvilles Bartleby mit seinem „Ich möchte lieber nicht.“


    Mich erinnert Oblomow an die Antihelden, die mit dem Beginn des 20. Jahrhunderts die literarische Bühne eroberten, vor allem Simon Tanner von Robert Walser („Geschwister Tanner“) und Franz Kafkas berühmter K. („Der Process“). Deshalb neige ich dazu, in Oblomow nicht allein eine Kritik an den russischen Verhältnissen in der Mitte des 19. Jahrhunderts zu sehen, sondern auch eine moderne Variante des alten Don Quixote-Themas „Ich gehe durch die Welt, wie es mir gefällt …“ Auch wenn diese Welt sich verändert, aus den Fugen gerät und mit persönlichen Träumen und Vorstellungen nicht mehr in Einklang zu bringen ist, bleiben die Oblomows und Bartlebys sich selbst und ihrem Leiden an und in der Welt treu – koste es, was es wolle. Für diese Art des „passiven Widerstands“ (oder – modern ausgedrückt – authentischen Handelns) entrichten sie einen hohen Preis: den des persönlichen Untergangs.


    Aus diesem kurzen Resumé könnt Ihr entnehmen, das ich die Lektüre am Wochenende beendet habe. Ich bin nun gespannt auf Eure abschließenden Bemerkungen.


    LG


    Tom

  • Tom:


    So ganz kann ich dir nicht folgen. Die Figuren eines Romans haben natürlich ihren individuellen Charakter, es erscheint mir aber, dass Gontscharow Oblomow eindeutig als Model für den Zustand Russlands und nicht als eine psychologische Studie angelegt hat. Dazu ist die gegenfigur Stolz zu eindeutig angelegt.


    In den ersten Kapiteln klingt Widerstand zwar gegen die Welt an, aus der Kälte in die Wohnung O.s kommt, dann macht Gontscharow aus Oblomow aber einen recht gewöhnlichen, allerdings kraftlosen und unsicheren Menschen. Er ist sich im Geiste seiner Verantwortung ja bewusst, das ist auch mit ein Grund für seine Entscheidungsschwäche, denn er will keine Fehler machen und Risiko eingehen. Oblomow sieht auch keine Welt aus den Fugen gehen, sondern merkt, dass sie verändert(instandgesetzt) werden muss, kann es nur selbst nicht bewerkstelligen.
    Die Figuren, die du nennst (Tanner kenne ich nicht) sind extremer, eigensinniger, oder Opfer (K). Bartleby z.B. nimmt den Tod in Kauf um sich selbst nicht zu verraten, K ist chancenlos einer anonymen Macht ausgeliefert.
    Eine Oblomow im Kern ähnliche Figur ist vielleicht Hans Castrop im Zauberberg. Er lässt sich auch einspinnen in eine abgeschlossene Welt und verliert den Kontakt zur Außenwelt, nicht aus eigenem Antrieb, sondern auch aus Bequemlichkeit.

  • Ich bin heute mit dem Buch fertig geworden, aber gedanklich habe ich es noch nicht ganz verarbeitet. Für mich ist es schwer zu verstehen, dass Oblomow letztlich an seiner Untätigkeit und Lethargie zugrunde geht, obwohl ihm klar ist, dass das nicht der richtige Weg ist. Selbst Stolz kann ihn nicht aus dieser Sackgasse retten, auch wenn er derjenige ist, der den größten Einfluss auf Oblomow hat. Ich kann mir nur schwer vorstellen, dass dies die wahre russische Mentalität ist. Oblomow wurde dieses Leben nur ermöglicht, weil er Adeliger ist, der auf Kosten seiner Dorfgemeinschaft lebt, aber das war doch nicht die Normalität beim Großteil der Bevölkerung.


    Bei Olga lege ich mal heutige Erkenntnisse zugrunde und vermute, dass ihre psychischen Probleme ebensogut auf eine postnatale Depression zurückzuführen sein könnten. Damit wäre zumindest sie kein weiteres Beispiel für den Zustand Russlands.


    Grüße
    Doris


  • Ich bin heute mit dem Buch fertig geworden, aber gedanklich habe ich es noch nicht ganz verarbeitet. Für mich ist es schwer zu verstehen, dass Oblomow letztlich an seiner Untätigkeit und Lethargie zugrunde geht, obwohl ihm klar ist, dass das nicht der richtige Weg ist. Selbst Stolz kann ihn nicht aus dieser Sackgasse retten, auch wenn er derjenige ist, der den größten Einfluss auf Oblomow hat. Ich kann mir nur schwer vorstellen, dass dies die wahre russische Mentalität ist. Oblomow wurde dieses Leben nur ermöglicht, weil er Adeliger ist, der auf Kosten seiner Dorfgemeinschaft lebt, aber das war doch nicht die Normalität beim Großteil der Bevölkerung.


    Zu der Zeit als Gontscharow den Roman schrieb, dürfte Russland eine Bevölkerung von ca. 50 Millionen gehabt haben. Davon waren ca. 40 Millionen Bauern, die meisten davon politisch rechtlos.
    Du hast natürlich Recht, diese Millionen lassen sich nicht mit Oblomow gleich setzen. Wenn ich Oblomow als Modell des russischen Zustands betrachtet habe, dann meinte ich die bestimmenden Schichten und Klassen in diesem Land, und das waren nicht zuletzt die Landadligen. Ich bin sicher, (und leider auch mit dem Mainstream einer Meinung) dass Gontscharow diese Zustände aufs Korn nehmen wollte und als Zensor wusste, wie sich das machen lässt, ohne die Behörden zu provozieren.



    Ich bin heute mit dem Buch fertig geworden, aber gedanklich habe ich es noch nicht ganz verarbeitet. Für mich ist es schwer zu verstehen, dass Oblomow letztlich an seiner Untätigkeit und Lethargie zugrunde geht, obwohl ihm klar ist, dass das nicht der richtige Weg ist.


    Ist das wirklich so? Hat O. nicht genau das bekommen womit er zufrieden sein kann?
    Abgesehen davon, dass er seine Gesundheit ruiniert hat, kommt er gegen Ende des Romans dort hin, wo der Roman begonnen hat. Nur, dass er jetzt sorgenfrei leben kann und auch noch eine Frau dazu bekommen hat, die ihn versorgt (auch sexuell) und sonst in Ruhe lässt. Was soll Oblomow sonst noch wollen? Das einzige, was ihm Sorgen bereiten könnte ist der Verlust seiner gesellschaftlichen Anerkennung.


    Als Rentier zu leben war in vielen Ländern bei wohlhabenden Menschen nicht ungewöhnlich. Darwin z. B. hat auch so gelebt. Nur hat er mehr daraus gemacht.

  • Ist das wirklich so? Hat O. nicht genau das bekommen womit er zufrieden sein kann?
    Abgesehen davon, dass er seine Gesundheit ruiniert hat, kommt er gegen Ende des Romans dort hin, wo der Roman begonnen hat. Nur, dass er jetzt sorgenfrei leben kann und auch noch eine Frau dazu bekommen hat, die ihn versorgt (auch sexuell) und sonst in Ruhe lässt. Was soll Oblomow sonst noch wollen? Das einzige, was ihm Sorgen bereiten könnte ist der Verlust seiner gesellschaftlichen Anerkennung.


    Zwischenzeitlich machte er nicht den Eindruck, dass er zur Gänze mit seiner Situation zufrieden ist. Es gab auch Momente, in denen ihm bewusst war, dass er fast zu einer Art Einsiedler geworden ist. Ich habe des öfteren seine Worte so interpretiert, dass er auch bedauert, so zurückgezogen zu leben, aber letztlich überwiegt seine anerzogene Passivität zu sehr. Es ist nicht Bequemlichkeit, die er sucht, sondern einfach die Unfähigkeit, sein Schicksal aktiv in die Hand zu nehmen. Angefangen mit seiner Familie, später von Sachar oder Stolz unterstützt, hat er nie gelernt, sich selbst um sein Leben zu kümmern. Da kam ihm die Witwe, die sich ihrerseits nach männlichem Beistand sehnt, gerade recht. Trotzdem war ihm immer bewusst, dass das nicht die richtige Art war, sein Leben zu verbringen.

  • Nun möchte ich mich noch abschließend zu meinen Eindrücken äußern, die die letzten Teile des Romans betreffen:


    Zwei Männer, zwei Frauen. Daraus lassen sich vier Paare ableiten, wenn man sich auf heterosexuelle Beziehungen beschränkt. Drei führt uns Gotscharow vor, setzt mit ihnen den Rahmen der Geschichte und in den Fassetten dieser Beziehungen spiegeln sich deutlich die Charaktere der beiden Männer wider. Die Persönlichkeiten der Frauen dienen mehr zur Unterstreichung und leider auch zur Aufblähung des Textes.


    Oblomow - Olga


    Stolz - Olga


    Oblomow - Agafja


    In den beiden ersten Beziehungen finden wir zeitweise zweifelnde Männer. Beide ziehen aus ihren Zweifeln diametrale Schlüsse und handeln unterschiedlich. Oblomow weicht Olga aus und entscheidet einsam die Beziehung scheitern zu lassen. Der utilitaristische Stolz, Positivist, als wäre er vom Schoß A. Comptes gesprungen, will Gewissheit und überwindet Olgas Angst (und sie selbst) durch eine sophistische Analyse und Zerstreuung ihrer Bedenken. Es folgt ein glückliches Leben (die 4. mögliche Beziehung ist dadurch obsolet ;-) ), das Stolz noch die Zeit und Energie lässt, seinem Freund O. aus den Unannehmlichkeiten zu helfen, in die er, durch seine Lebensuntüchtigkeit und sein Umfeld, immer wieder hinein gerät.


    In der dritten Beziehung, Gotscharow deutet sie früh an, und mit Hilfe von Stolz, findet Oblomow eigentlich das, wonach er am Anfang des Romans strebt: Weltabgeschiedenheit und Freiheit von materiellen Sorgen. In Kauf nehmen muss er den gesellschaftlichen Absturz. Einen horizontalen Menschen stört das aber nicht sonderlich. Seiner äußeren Trägheit und innerer Phantasie stellt Gontscharow eine Frau mit äußerer Kraft aber innerer Leere zur Seite. Sie ist die unermüdliche Herrin von Küche, Garten und Markt, lässt ihren Mann aber in Ruhe.


    Abgesehen davon, dass sich Oblomow durch seine ungesunde Lebensweise sein Grab gräbt wäre so ein Schluss recht versöhnlich. Ich sehe sonst keine Sorgen, die Oblomow noch plagen könnten.


    „ Und Oblomow selber? Oblomow selber war ein vollkommenes und natürliches Abbild der Ruhe, der Zufriedenheit und der ungetrübten Muße“


    Gontscharow führt uns allerdings die Folgen für die überlebenden Figuren vor, und hier sehen wir, wie durch der Tod Oblomows, den Wegfall der materiellen Basis, die zerbrechliche Idylle der von ihm abhängigen Menschen zusammenbricht. Sie erleben in der Folge Entbehrung und Elend und haben nicht die Erfahrungen sich davon zu befreien. Die Ähnlichkeiten zu unserem „Helden“ sind deutlich sichtbar. Haben sie es verdient? Nur sein Sohn wird von Stolz aus dem oblomowischen Milieu heraus genommen. Wir sehen seine Zukunft also in guten Händen.


    Es ist eine Stärke des Romans, dass er nicht mit einem reinen Happyend ausklingt.



    Gonschtarow hat uns am Anfang mit Oblomow eine extreme Figur präsentiert. Ab dem zweiten Teil wird er mehr und mehr zu einem nahezu gewöhnlichen Menschen, der gegen Ende in die Eindimensionalität der Horizontalen zurückfällt. Von den Figuren, die am Bett O.s aufmarschieren, fehlt im weiteren, bis auf eine, jede Spur. In einigen Kapiteln widmet sich G. ausführlich Nebensächlichkeiten um woanders große Sprünge zu machen. Das ist wohl auch seiner unregelmäßigen Arbeit an dem Werk zuzuschreiben.


    Ich finde, er kann sich sehr gut in eine momentane Situation und Stimmung seiner Personen hinein versetzten. Auch bei den weiblichen Figuren gelingt ihm das aus meiner Sicht hervorragend. Vielleicht liegt es auch daran, dass er manchmal, für meinen Geschmack, zu tief einsteigt.


    Werde ich den Roman noch ein Mal lesen? Kaum. Bei den vielen ungelesenen Büchern, die noch auf mich warten, werde ich mir die Zeit nicht mehr nehmen wollen. Das Gerüst der Geschichte lässt sich einfach behalten, die Einzelheiten sind nicht so ergiebig. Vielleicht lassen sich einige Textstellen zum Zitieren ausbeuten ;-)


    Die Leserunde hat mir aber sehr geholfen, meine Gedanken zu entwickeln und zu strukturieren. Dieses gemeinsame lesen motiviert zum Nachdenken, und ich freue mich auch darüber, dass es nicht eine unterkühlte Debatte über literaturtheoretische Aspekte oder Formfragen wurde. Irgendwie sind wir alle in die Geschichte eingestiegen, hätten sie am liebsten in unsere gewünschten Bahnen gelenkt und daraus einen Roman in verschiedene Richtungen gemacht.



    Jetzt wird es aber Zeit zum Ende zu kommen. Raus aus dem Bett, Zähne putzen und ab nach Paris und zu seinen Geheimnissen . Na ja, nicht sofort, vielleicht noch frühstücken, es ist noch kalt, es ist noch Zeit. Nichts überstürzen, der Tag ist noch lang, ein wenig kann ich noch liegen bleiben und vielleicht noch einen Tee trinken. Und dann erst... na man wird sehen...


    SACHAR