Lyrikleser

  • Aus dem "Guardian":


    So when people say that poetry is merely a luxury for the educated middle classes, or that it shouldn't be read much at school because it is irrelevant, or any of the strange and stupid things that are said about poetry and its place in our lives, I suspect that the people doing the saying have had things pretty easy. A tough life needs a tough language - and that is what poetry is. That is what literature offers - a language powerful enough to say how it is.


    Der komplette Text: http://www.guardian.co.uk/book…donmar-jeanette-winterson


    Viele Grüße


    Tom


  • Sehr schön, Sir Thomas! Danke sehr!

  • Joseph Brodsky. "Sie haben ja gar keine fachliche Ausbildung als Dichter" haben die Sowjets zu ihm gesagt. 'Dichter macht der Himmel, der liebe Gott', hat er geantwortet.
    Brodsky: 'Wie kommt man gute Literatur? Das Gedicht ist die beste Kompaßnadel. Nur extreme Subjektivität, Überempfindlichkeit und Vorurteile helfen, die Klischees zu vermeiden. Je mehr man Lyrik liest, desto unduldsamer wird man für jede Art von Weitschweifigkeit. Die Lyrik ist ein großer Zuchtmeister der Prosa. Sie lehrt sie nicht nur den Wert jedes einzelnen Wortes sondern auch die quecksilbrigen Denkmuster ihrer Gattung, Alternativen zur linearen Komposition, den Kniff, das Selbstverständliche wegzulassen, die Betonung des Details, die Technik der Antiklimax. Vor allem aber bringt die Lyrik in der Prosa jenen Appetit für das Metaphysische hervor.'

    Eine Folge konsequenter Augenblicke ist immer eine Art von Ewigkeit selbst.

  • Hallo Dostoevskij,


    Zitat von "Dostoevskij"


    "Lyrik arabischer Dichterinnen vom 5. Jahrhundert bis heute"


    danke für diesen Hinweis! Ich habe mir daraufhin dieses Büchlein bestellt und es nun durchgelesen. Die Gedichte sind chronologisch angeordnet, zunächst die alten Gedichte von den Anfängen bis zum 13. Jh., danach moderne Gedichte aus dem 20. Jh. Dazwischen klafft eine große Lücke, weil es da laut Herausgeber nichts wirklich Nennenswertes gibt, jedenfalls nicht auf hocharabisch (bei Dialekten sieht es anscheinend etwas anders aus). Am interessantesten fand ich die älteren Gedichte, teilweise sind sie überraschend freizügig; aus der europäischen Lyrik dieser Zeit kenne ich nichts Vergleichbares.


    Schöne Grüße,
    Wolf

  • Hallo,


    ich lese gerade in der bekannten Anthologie "Lyrik des Ostens" (HG. Wilhelm Gundert und Annemarie Schimmel et al.) den Teil über die chinesische Lyrik und bin erstaunt über die teilweise freche Sozial- und Staatskritik der ganz frühen Gedichte aus dem Schi /Schu-King und nachfolgender Dichtung vor der Zeitenwende.


    HG
    finsbury

  • Vorab - das erwähnte Werk kenne ich nicht, hab auch so meine Probleme damit, wenn Nichtlyriker zu erklären versuchen, was denn Lyrik eigentlich ist.


    Aus der Praxis heraus habe ich mehr gelernt durch Bücher wie folgende (aber sie dürften z.T. nicht mehr lieferbar sein):


    Hans-Jürgen Heise, Vermessungsstäbe bilden den Gottesbegriff, Verlag Ulrich Keicher
    Hilde Domin, Das Gedicht als Augenblick von Freiheit - Frankfurter Poetik-Vorlesungen, ISBN 3 596 12205 8
    Raoul Schrott, Die Erde ist blau wie eine Orange, ISBN 3 423 12704 X
    Joachim Sartorius, Minima Poetica - Für eine Poetik des zeitgenössischen Gedichts, ISBN 3 462 02787 5
    (obwohl gerade die beiden Letztgenannten sich in ihren eigenen Werken nicht an die Erkenntnisse halten, die sie hier verbreiten)
    und sehr lustig ist:
    Jakob Stephan, Lyrische Visite oder Das nächste Gedicht bitte!, ISBN 3 251 00461 1


    ...und natürlich, Gedichte lesen, immer wieder, jeden Tag - ein Tag ohne ein Gedicht ist ein verlorener Tag...

  • Hallo Sir Thomas,


    die Verslehre von Hans-Dieter Gelfert kenne ich nicht, ich habe vor längerer Zeit mal zwei andere Bücher von ihm gelesen: "Wie interpretiert man ein Gedicht?" und "Was ist gute Literatur?", die leicht verständlich geschrieben und gut strukturiert waren. Seine Verslehre dürfte ebenso anfängertauglich und flott zu lesen sein, und da sie nicht teuer ist, kannst Du sie Dir ja mal zulegen und durchlesen.


    Recht gut gefällt mir: Dieter Burdorf: Einführung in die Gedichtanalyse (erschienen bei Metzler). Darin geht es ganz allgemein um "die Methoden des literaturwissenschaftlichen Umgangs mit Gedichten", man erhält da einen sehr guten Überblick; eine Übersicht über die wichtigsten metrischen Grundformen ist darin natürlich enthalten, und meines Wissens ist das auch ein Standwerk für das Germanistikstudium. Oder ganz speziell für die Verslehre gibt es: Christian Wagenknecht: Deutsche Metrik. Eine historische Einführung (erschienen bei C. H. Beck), das ist aber eine eher trockene Lektüre, außer man interessiert sich wirklich für Metrik. ;-)


    Sehr umfassend, allerdings auf englisch, ist die New Princeton Encyclopedia of Poetry and Poetics: ein alphabetisch geordnetes Nachschlagewerk, in dem man fast alles findet, was man über Lyriktheorie wissen will. ;-)


    Schöne Grüße,
    Wolf


  • ... die Verslehre von Hans-Dieter Gelfert ...


    Das schmale Reclam-Heftchen ist mittlerweile eingetroffen und sieht, nach einem kurzen Studium des Inhaltsverzeichnisses, brauchbar aus.


    Euch beiden, Wolf und scardanelli, vielen Dank für die Hinweise!


    Einen schönen Tag wünscht


    Tom

  • Als Mittel gegen eine weitgehend schlaflos verbrachte Gewitternacht griff ich zu Goethes "Römischen Elegien". Ich bin sehr angetan von dieser Sammlung, allerdings auch ein wenig verwirrt aufgrund des Titels. Meiner Meinung nach handelt es sich bei den Gedichten nicht um Elegien (also Klage- oder Trauergesänge), sondern um Oden oder Hymnen. Meine Frage an die Lyrikkenner: Wurde zu Goethes Zeit unter "Elegie" etwas anderes verstanden als in der Antike? Oder gibt es einen Grund, warum Goethe diesen Titel wählte?


    Viele Grüße


    Tom

  • Der Begriff Elegie hat in der Tat einen Bedeutungswandel, je nach Zeit und Raum, in der diese Dichtung vorkam, erlebt.


    Im klassischen Griechenland war es einfach eine in Distichen gehaltene Dichtung - oft mit Flötenbegleitung; der Tonfall konnte gefasste Klage enthalten; die Inhalte umfassten das Vaterland, Krieg und Politik oder auch die Macht der Liebe. Später wurden Elegien zu Trink- und Liebesliedern, aber auch zu Gesängen mit Erziehungslehren.
    Die Flötenbegleitung nahm ab, der Tonfall wurd klagender und trauernder.


    Im antiken Rom war die Elegie erst einmal ein erotisches Gedicht (und darauf greift auch Goethe zurück).


    Im deutschen Sprachraum wurde vorwiegend der Alexandriner verwandt, weil die klassischen Versmaße unserer Sprache nicht immer gemäß waren. Die Themenvielfalt war zunächst viel größer.


    Goethe begann seine Elegien sicher im Gefühl des Abschiedsschmerzes von Rom, erinnerte sich aber mehr und mehr an das glückliche Erlebnis seiner Liebesbeziehung. Insofern meint auch Erich Trunz, dass man den Titel "Römische Elegien" durchaus inhaltlich als "Liebesgedichte in antikem Stil" auffassen kann.


    (Quellen: Metzlers Literatur-Lexikon, Stichwort Elegie - Nachwort von Erich Trunz zur Goethe-Gedicht-Ausgabe - Nachwort der Regine Otto zur Einzelausgabe der Römischen Elegien (und Venezianischen Epigramme) im Insel TB )


  • Der Begriff Elegie hat in der Tat einen Bedeutungswandel ... erlebt. Im klassischen Griechenland war es einfach eine in Distichen gehaltene Dichtung ...


    Wenn meine bescheidenen Lyrikkenntnisse mich nicht trügen, dann sind Goethes "Römische Elegien" ebenfalls in Distichen abgefasst. Das erklärt den Titel.


    Vielen Dank für diese Hintergründe.


    LG


    Tom

  • Da es im Thread "Was liest du gerade" meist untergeht; ich lese (mal wieder) Gedichte des Manfred Peter Hein, einer der Stillen im Lande, dem man gerne eine "hermetische Sprache" vorwirft, um sich nicht die Mühe machen zu müssen, sich auf seine Texte einzulassen.
    Er lebt seit Jahren - nicht nur aus diesem Grund - in Finnland, um dessen Poesie er sich auch in Übersetzungsprojekten verdient gemacht hat.

  • Durch meine Proust-Lektüre (aktuell: Im Schatten junger Mädchenblüte) stieß ich auf den romantischen Dichter Gérard de Nerval und spiele nun mit dem Gedanken, dessen Sonettzyklus "Chimères" zu kaufen. Kennt jemand dieses Werk? Ist es empfehlenswert?


    LG


    Tom

  • Moin, Moin!


    "Schon der erste Vers kann ein Druckgefühl hinter den Augen auslösen. Romane und Filme katapultieren einen, rastlos modern, wie sie sind, vorwärts ode rückwärts durch die Zeit, über Tage, Jahre oder gar Generationen hinweg. Die Lyrik hingegen mit ihren Eindrücken und Urteilen balanciert auf der Nadelspitze des Augenblicks. Sich verlangsamen, vollkommen innehalten, um ein Gedicht zu lesen und zu verstehen, das ist, als erwerbe man althergebrachte Fertigkeiten wie das Kitzeln von Forellen oder das Errichten von Trockenmauern." (Ian McEwan: Saturday, S. 178)


  • Moin, Moin!


    "Schon der erste Vers kann ein Druckgefühl hinter den Augen auslösen. Romane und Filme katapultieren einen, rastlos modern, wie sie sind, vorwärts ode rückwärts durch die Zeit, über Tage, Jahre oder gar Generationen hinweg. Die Lyrik hingegen mit ihren Eindrücken und Urteilen balanciert auf der Nadelspitze des Augenblicks. Sich verlangsamen, vollkommen innehalten, um ein Gedicht zu lesen und zu verstehen, das ist, als erwerbe man althergebrachte Fertigkeiten wie das Kitzeln von Forellen oder das Errichten von Trockenmauern." (Ian McEwan: Saturday, S. 178)


    Dieses Zitat habe ich mir damals nach der Lektüre des Romans auch rausgeschrieben. Schön! Wozu aber wurden früher Forellen gekitzelt? Damit sie ablaichen für Forellenrogen?


    finsbury