So, jetzt bin ich fertig mit dem "Buch der Unruhe" und möchte ein paar Eindrücke wiedergeben.
Die Lektüre hat die Teilnehmerzahl unserer Leserunde schmelzen lassen und und streckenweise sprachlos gemacht. Kein Wunder: Pessoas " Buch unzusammenhängender Eindrücke" ( Fragment 442 ) ist extrem leserunfreundlich, es mutet dem Leser zu, Zusammenhänge selbst herzustellen! Bei den sich zum Teil wiederholenden, manchmal diffusen und disparaten Äußerungen meinte ich zeitweilig so etwas wie André Bretons " écriture automatique" vor mir zu haben. Ja, Pessoa schreibt unter dem Diktat seiner Wahrnehmungen, seines kreisenden Denkens, seiner Empfindungen, ohne Rücksicht auf den Leser, ohne Kontrolle von Moral und stellenweise gar von Vernunft. Manchmal hat man den Eindruck nicht er , sondern es schreibt.
Zusammengehalten werden die " Ergüsse "( F 442 herrliche Metapher des umgestürzten Eimers) von einem fiktiven Rahmen, bzw. der Figur des schreibenden Hilfsbuchhalters, die seinen Autor , den schreibenden Handelskorrespondenten, seltsam fadenscheinig verbirgt.
Was für eine herrlich skurrile und zeit-typische Figur ist dieser Bernardo Soares. Der Angestellte als Philosoph und Literat. Man denkt förmlich den Versicherungsangestellten Kafka mit und sieht ihn im Bürogroßraum der " Assicurazioni Generali " zu Prag um sein Leben schreiben. Auch Walsers " Gehülfe " lässt grüßen, der aus seiner untergebenen Position heraus die Risse in seiner Umgebung und der Welt besonders deutlich registriert und seinem Chef beim Untergang zuschaut.
Grund fürs Aufgeben war auch die Tatsache, dass der Text so mager an Handlung ist. Man wartet vergeblich auf die von Tabucchi auf dem Cover des Fischer-Taschenbuches angekündigten Szenen "des großen Welttheaters " , die sich auf den Gassen Lissabons abspielen sollen. Vielmehr muss man sich im Laufe der Lektüre damit abfinden, dass das hier kein praller Großstadtroman mit Lokalkolorit ist ( obwohl schon mal ein fado erwähnt wird) , sondern sich die Dramen im Innern abspielen und abstrakter, philosophischer Natur sind. Zudem wird der Realismus der ohnehin schon mageren Außenwelt immer wieder ins Metaphorische, Allgemeine, Symbolische und damit wieder ins Innere gewendet. Von einem Mann auf der Straße heißt es : " Er erfüllte mir gegenüber die visuelle Pflicht eines Symbols; damit ist er nun fertig und um die Ecke gebogen." (F 59) Über Chef Vasques :"Dieser banale Mensch verkörpert die Banalität des Lebens..."( F9) und natürlich das vielzitierte:" Wiralle, die wir ...sind Hilfsbuchhalter..."(F 419)
Der fiktive Rahmen ist derart dürftig und aufgesetzt, dass ich mich gefragt habe, warum Pessoa, der viel zu raffiniert ist, um sich dieser Wirkung nicht bewusst zu sein, ihn nicht einfach fallen lässt und die Betrachtungen als die seinen präsentiert. Wahrscheinlich würde er mir mit dem fast klassisch anmutenden Sophismus aus Fragment 349 antworten : " Etwas aussprechen heißt immer irren . Sei dir bewusst : Etwas aussprechen bedeutete - für dich - lügen."
Fiktion, das Sprechen in Rollenprosa ist weniger verlogen als eine Authentizität, die doch nur Illusion ist.
Das wars erstmal . Fortsetzung folgt.
Gruß
Gontscharow