November 2008 - Pessoa: Das Buch der Unruhe

  • So, jetzt bin ich fertig mit dem "Buch der Unruhe" und möchte ein paar Eindrücke wiedergeben.


    Die Lektüre hat die Teilnehmerzahl unserer Leserunde schmelzen lassen und und streckenweise sprachlos gemacht. Kein Wunder: Pessoas " Buch unzusammenhängender Eindrücke" ( Fragment 442 ) ist extrem leserunfreundlich, es mutet dem Leser zu, Zusammenhänge selbst herzustellen! Bei den sich zum Teil wiederholenden, manchmal diffusen und disparaten Äußerungen meinte ich zeitweilig so etwas wie André Bretons " écriture automatique" vor mir zu haben. Ja, Pessoa schreibt unter dem Diktat seiner Wahrnehmungen, seines kreisenden Denkens, seiner Empfindungen, ohne Rücksicht auf den Leser, ohne Kontrolle von Moral und stellenweise gar von Vernunft. Manchmal hat man den Eindruck nicht er , sondern es schreibt.


    Zusammengehalten werden die " Ergüsse "( F 442 herrliche Metapher des umgestürzten Eimers) von einem fiktiven Rahmen, bzw. der Figur des schreibenden Hilfsbuchhalters, die seinen Autor , den schreibenden Handelskorrespondenten, seltsam fadenscheinig verbirgt.
    Was für eine herrlich skurrile und zeit-typische Figur ist dieser Bernardo Soares. Der Angestellte als Philosoph und Literat. Man denkt förmlich den Versicherungsangestellten Kafka mit und sieht ihn im Bürogroßraum der " Assicurazioni Generali " zu Prag um sein Leben schreiben. Auch Walsers " Gehülfe " lässt grüßen, der aus seiner untergebenen Position heraus die Risse in seiner Umgebung und der Welt besonders deutlich registriert und seinem Chef beim Untergang zuschaut.


    Grund fürs Aufgeben war auch die Tatsache, dass der Text so mager an Handlung ist. Man wartet vergeblich auf die von Tabucchi auf dem Cover des Fischer-Taschenbuches angekündigten Szenen "des großen Welttheaters " , die sich auf den Gassen Lissabons abspielen sollen. Vielmehr muss man sich im Laufe der Lektüre damit abfinden, dass das hier kein praller Großstadtroman mit Lokalkolorit ist ( obwohl schon mal ein fado erwähnt wird) , sondern sich die Dramen im Innern abspielen und abstrakter, philosophischer Natur sind. Zudem wird der Realismus der ohnehin schon mageren Außenwelt immer wieder ins Metaphorische, Allgemeine, Symbolische und damit wieder ins Innere gewendet. Von einem Mann auf der Straße heißt es : " Er erfüllte mir gegenüber die visuelle Pflicht eines Symbols; damit ist er nun fertig und um die Ecke gebogen." (F 59) Über Chef Vasques :"Dieser banale Mensch verkörpert die Banalität des Lebens..."( F9) und natürlich das vielzitierte:" Wiralle, die wir ...sind Hilfsbuchhalter..."(F 419)
    Der fiktive Rahmen ist derart dürftig und aufgesetzt, dass ich mich gefragt habe, warum Pessoa, der viel zu raffiniert ist, um sich dieser Wirkung nicht bewusst zu sein, ihn nicht einfach fallen lässt und die Betrachtungen als die seinen präsentiert. Wahrscheinlich würde er mir mit dem fast klassisch anmutenden Sophismus aus Fragment 349 antworten : " Etwas aussprechen heißt immer irren . Sei dir bewusst : Etwas aussprechen bedeutete - für dich - lügen."
    Fiktion, das Sprechen in Rollenprosa ist weniger verlogen als eine Authentizität, die doch nur Illusion ist.



    Das wars erstmal . Fortsetzung folgt.


    Gruß
    Gontscharow

  • Ich bin so gut wie durch und riskiere ein vorsichtiges Resümé.


    „Das Buch der Unruhe“ spricht so ziemlich jeden an, der sich schon einmal mit den „großen“ Fragen des Lebens beschäftigt hat oder sich zumindest die Sinnfragen "Was mach ich eigentlich? Bin ich noch zu retten" vorgelegt hat. Sein Charme besteht darin, dass viele, zum Teil unvereinbare, Positionen vertreten werden: Von der antiken Stoa geht der Hilfsbuchhalter über zu einem seichten Epikureismus; von dort zur barocken Vanitas und weiter zum aufklärerischen Drang des 18. Jahrhunderts; dann folgt romantisch verklärte Introspektion, abgeschmeckt mit einem sanften, postmodernen Zynimus.


    Ich bin geneigt, die Grundhaltung des Hilfsbuchhalters als eine Spielart des Gnostizismus zu bezeichnen. Die Welt ist für ihn unvollkommen („Ist Gott am Ende nur ein riesengroßes Kind? Und das Universum ein Scherz, der Streich eines schelmischen Buben?“), genau wie der Mensch, der in seiner törichten Bestrebung, zu handeln und dadurch irgendwie glücklich zu werden, letztlich nur scheitern kann. Samuel Beckett ist wohl unter den Autoren des 20. Jahrhunderts derjenige, der Pessoa am nächsten steht.


    Was bleibt? Viele Einzelstellen, die ich mir notiert habe. Sie alle aufzuführen, wäre im Rahmen des Forums sicher langweilig. Ganz besonders gelungen fand ich innerhalb der sog. „Großen Texte“ den Abschnitt „Trauermarsch für Ludwig II., König von Bayern“. Ich kann mich nicht erinnern, je zuvor eine derart verlockende Todesmelodie gelesen zu haben. Ob Pessoa tatsächlich seinen Tod darin voraussah?


    Was außerdem bleibt ist die Erkenntnis: Schwerer Alkoholabusus ist dem kreativen Schreiben nicht zwingend abträglich! Aber vermutlich kannte der Trinker Pessoa bereits den zynischen Satz: „Die Leber wächst mir ihren Aufgaben.“


    Genug für heute.


    Es grüßt


    Tom

  • Vielen Dank für Eure Einschätzungen des Buches, ich finde sie sehr aufschlussreich. Und meine Glückwünsche, dass Ihr durch seid. So ist die Leserunde wenigstens für einige von uns zu einem erfolgreichen Ende gekommen. Ich jedoch werde das Buch jetzt erst mal für unbestimmte Zeit beiseitelegen. Ich fühle mich, ehrlich gesagt, noch nicht reif dafür. Außerdem muss man wohl in einer ganz bestimmten (Dauer-)Stimmung sein, um nachvollziehen zu können, was Pessoa da vor seinem Leser ausbreitet. Und auch wenn ich momentan durch Krankheit geschwächt darniederliege, halten sich jedoch mein Selbstmitleid, mein Pessimismus und meine Misanthropie derzeit in Grenzen.



    „Das Buch der Unruhe“ spricht so ziemlich jeden an, der sich schon einmal mit den „großen“ Fragen des Lebens beschäftigt hat oder sich zumindest die Sinnfragen "Was mach ich eigentlich? Bin ich noch zu retten" vorgelegt hat.


    He - das tue ich doch auch. Und trotzdem spricht es mich nicht an... :zwinker:


    Aber mal ganz abgesehen von all' dem Selbstmitleid und Soares' Abneigung gegenüber anderen Menschen - die ich im Grunde durchaus nachvollziehen, wenn auch in dieser Ausprägung nicht teilen kann -, hat mich eines ganz besonders gestört an dem Buch (ich glaube, ich erwähnte es schon): Die elitäre Selbsterhöhung, die dabei mitschwingt, das Gefühl Soares', allem und allen überlegen zu sein, und das zieht sich als Grundton durch das ganze Buch. Ein Beispiel aus Fragment 128 über seine Bürokollegen: "Nichts könnte mich mehr empören, als wenn man mich im Büro befremdlich fände. Ich will mich der Ironie erfreuen, für meine Kollegen nicht befremdlich zu sein. Ich will das Büßergewand, für ihresgleichen gehalten zu werden."

    Ganz schlimm wurde es für mich in Fragment 149, in dem Soares/Pessoa den Gedanken des Biologen Haeckel aufgreift, wonach "der überlegene Mensch (ein Kant oder Goethe, wenn ich mich recht entsinne) vom gewöhnlichen Menschen sehr viel weiter entfernt ist als der gewöhnliche Mensch vom Affen." Und Soares spinnt diesen Gedanken weiter: "Zwischen mir (...) und einem Bauern aus dem Lissaboner Hinterland besteht ohne Zweifel ein größerer Unterschied als zwischen dem Bauern und, ich sage nicht einmal einem Affen, sondern einer Katze oder einem Hund."


    In diesem Duktus geht es weiter, und Soares legt sogar noch einen oben drauf, wenn er darlegt, worin sich seiner Meinung nach der "überlegene Mensch" vom "niederen Menschen" unterscheidet. Sorry, aber mein Kopfschütteln angesichts solcher Passagen brachte mir beinahe eine Gehirnerschütterung ein.



    Was bleibt? Viele Einzelstellen, die ich mir notiert habe.


    Und im Buch viele, viele Bleistiftmarkierungen, Unterstreichungen, Ausrufe- und Fragezeichen an Passagen, die mir bei späterer, nochmaliger Lektüre eventuell ganz anders erscheinen werden als jetzt.



    Die Lektüre hat die Teilnehmerzahl unserer Leserunde schmelzen lassen und und streckenweise sprachlos gemacht..


    Oje, was sagen denn die anderen? Seid Ihr noch dabei?


    Ich jedenfalls werde mich jetzt wieder auf mein Krankenlager begeben und mit den Josephs-Büchern von Thomas Mann beginnen...


    Viele Grüße
    Stefan

  • Gute Besserung, Mac Oss, und viele Freude bei der Lektüre der Josephsromane!



    Ein paar Gedanken noch zum Buch der Unruhe :


    Bernardo Soares gehört in die lange Ahnenreihe melancholischer Anti-Helden, die an Weltschmerz, an taedium vitae leiden, wie Hamlet, Petschorin, Eugen Onegin, Werther, Danton, Lenz, Leonce, Tonio Kröger, Spinelli , um nur einige zu nennen. Sie betrachten das Leben mehr, als dass sie handeln, leiden unter dieser Haltung, kultivieren sie jedoch auch, um sich vom tumben , banalen Tatmenschen abzuheben.@ Mac Oss : Die menschenverachtenden, pseudowissenschaftlichen Äußerungen, die Du zitierst, wie auch einige kulturpessimistische Passagen sind mir ebenfalls erheblich gegen den Strich gegangen! Sie sind wohl zeittypisch für die präfaschistische Ära - aber auch verzeihlich?


    Leitmotivisch durchzieht Bernardo Soares' Betrachtungen der antike griechische Pessimismus der Daseinsverachtung ( " Für die Sterblichen ist nicht geboren werden das Beste " ) Das ist die Quelle seiner Lebensmüdigkeit . In Fragment 140 heißt es darüber: "Diese Müdigkeit sehnt sich nicht nach dem dem Ende meines Daseins ..., sondern nach etwas weit Schrecklicherem, Tiefergehendem, nämlich, niemals existiert zu haben, was ganz und gar unmöglich ist." Ein Mittel, um diese "finstere Absurdität zu heilen ", ist für ihn das Schreiben.


    Existenzielle Kernfragen, die immer wieder aufgeworfen werden: " Wie viele bin ich? Wer ist ich? Was ist zwischen mir und mir? "(F 213) Pessoa/Soares hätte am Titel des Buches von Richard David Precht :"Wer bin ich - und wenn ja wie viele ?" seine helle Freude gehabt.


    Es gäbe noch sehr, sehr viel zu sagen über das Buch der Unruhe. Es ist ein Steinbruch, in dem viel Wertvolles zu finden ist .


    Der Leserunde bin dankbar, dass sie mich veranlasst hat "durchzuhalten", denn auch ich hatte einen Durchhänger . Mir wäre mit der zweiten Hälfte so einiges entgangen. Ich will ein Beispiel herausgreifen: Das Fragment 458 , in dem Bernardo seine Art des Sehens und Anschauens darlegt, ähnlich wie Rilkes Konzeption des "reinen Schauens", das er in den Dinggedichten und im " Malte Laurids Brigge"( " Ich lerne sehen") entwickelt :" ... sie (die Dinge) mit dem Ausdruck zu erleben, den sie abgetrennt von dem ihnen auferlegten Ausdruck besitzen. Im Fischweib die menschliche Wirklichkeit erkennen, unabhängig davon, dass man sie Fischweib nennt und weiß, es gibt sie, und sie ist Händlerin. Den Polizisten sehen, wie Gott ihn sieht. Alles zum ersten Mal wahrnehmen..." Ich nehme an, Ihr wisst , wie es weiter geht, wenn nicht , lest nach : es ist ein Schlüssel zu Pessoas Poesie.



    Das Buch der Unruhe wird nicht meine Bibel werden, aber sicher eins der Bücher, die ich immer mal wieder zur Hand nehme.


    Herzlich grüßt


    Gontscharow


  • Die menschenverachtenden, pseudowissenschaftlichen Äußerungen, die Du zitierst, wie auch einige kulturpessimistische Passagen sind mir ebenfalls erheblich gegen den Strich gegangen! Sie sind wohl zeittypisch für die präfaschistische Ära - aber auch verzeihlich?


    Hallo Gontscharow,


    ich glaube nicht, dass Pessoa vom faschistischen Virus infiziert war. Er stand vielmehr über den Banalitäten des politischen Lebens, wie er mehrfach im "Buch der Unruhe" durchblicken ließ. Ich kann mir keinen Reim auf diese Entgleisungen machen und habe sie deshalb großzügig "ignoriert".



    Bernardo Soares gehört in die lange Ahnenreihe melancholischer Anti-Helden, die an Weltschmerz, an taedium vitae leiden, wie Hamlet, Petschorin, Eugen Onegin, Werther, Danton, Lenz, Leonce, Tonio Kröger, Spinelli , um nur einige zu nennen.


    Interessant! Gern ergänze ich unseren alten Freund Gustav von Aschenbach aus dem "Tod in Venedig". Aus welchen Werken stammen bitte die Figuren Petschorin und Spinelli? Oder meintest Du mit Letztgenanntem Spinell aus Manns Tristan-Novelle?


    @ MacOss: Auch von mir beste Genesungswünsche!


    Viele Grüße


    Tom

  • Hallo Sir Thomas,


    Zitat

    Aus welchen Werken stammen bitte die Figuren Petschorin und Spinelli? Oder meintest Du mit Letztgenanntem Spinell aus Manns Tristan-Novelle?


    Aus Tristan von Th. Mann:


    Nach Tische ... erkundigte sich Herrn Klöterjahns Gattin nach ihrem Gegenüber:
    "Wie heißt der Herr?" fragte sie..." Spinelli? Ich habe den Namen nicht richtig verstanden."
    " Spinell..., nicht Spinelli, gnädige Frau ...


    Was die Erinnerung einem für Streiche spielt ...



    Petschorin ist der Ich-Erzähler und Protagonist aus dem Roman Ein Held unserer Zeit von Michael Jurjewitsch Lermontow.



    Zitat

    Interessant! Gern ergänze ich unseren alten Freund Gustav von Aschenbach aus dem "Tod in Venedig".


    Aschenbach würde ich nicht in die Liste aufnehmen. Er ist zu maßvoll, zu preußisch diszipliniert, trotz Nobilitierung zu bürgerlich pflichtbewusst, zu arriviert, zu respektiert und angekommen in der Gesellschaft, auch wenn das unter dem Einfluss von Eros und Thanatos dann alles zerfällt.


    Zitat

    ich glaube nicht, dass Pessoa vom faschistischen Virus infiziert war.


    Ich auch nicht unbedingt. Aber man erlaubte sich halt zu der Zeit (noch) Äußerungen, bei denen es uns Heutigen kalte Schauer über den Rücken jagt, weil wir wissen, wozu ein solches Denken führen kann.


    Gruß
    Gontscharow


  • Vielen Dank für Eure Einschätzungen des Buches, ich finde sie sehr aufschlussreich. Und meine Glückwünsche, dass Ihr durch seid. So ist die Leserunde wenigstens für einige von uns zu einem erfolgreichen Ende gekommen. Ich jedoch werde das Buch jetzt erst mal für unbestimmte Zeit beiseitelegen. Ich fühle mich, ehrlich gesagt, noch nicht reif dafür. Außerdem muss man wohl in einer ganz bestimmten (Dauer-)Stimmung sein, um nachvollziehen zu können, was Pessoa da vor seinem Leser ausbreitet.



    He - das tue ich doch auch. Und trotzdem spricht es mich nicht an... :zwinker:



    Hallo liebe Mitleser,


    die obigen Aussagen von Stefan kann ich komplett unterschreiben. Ich habe mit Interesse eure Kommentare zum Buch der Unruhe gelesen, glaube aber, daß ich das Buch in nächster Zeit eher nicht mehr zur Hand nehmen werde. Es ist ein Buch, das man in einer bestimmten Stimmung lesen muß - oder aber mit einer gewissen Disziplin. Da fehlt mir momentan leider beides. Trotzdem fand ich diese Leserunde sehr aufschlußreich, vielen Dank euch allen!


    Viele Grüße
    thopas

  • Wenn wir dabei sind, diese Leserunde mit Schwanengesängen zu verabschieden, möchte ich es an Dank für Eure Ideen, Inspirationen und Meinungen nicht fehlen lassen. Ladies & gentlemen, it was honor & pleasure to read & discuss with you!


    I hope to meet you again soon,


    Tom

  • Liebe Pessoa-Lesende,


    mich hat das Buch schon knapp am Anfang tatsächlich sprach- und ratlos gemacht. Ich muss mich für mein Fehlen entschuldigen, aber wie schon einige hier festgestellt haben, muss man in der richtigen Stimmung sein, um das Buch lesen zu können und meine persönlichen Umstände ließen in letzter Zeit so eine Stimmung nicht aufkommen.


    Eure Kommentare habe ich sehr interessiert verfolgt und bedanke mich für die aufschlussreichen Einsichten!


    Liebe Grüße
    nikki

  • Hallo zusammen!


    Auch ich möchte allen gratulieren, die das Buch bis zu Ende gelesen haben. Danke für eure interessanten Beiträge. Ich selbst habe so ziemlich in der Mitte des Buches aufgegeben. Vielleicht werde ich mir das Buch irgendwann wieder zu Gemüte führen, aber momentan gibt es so viel andere spannende Lektüre, die auf mich wartet.


    Hoffe, wir treffen uns vielleicht demnächst in einer anderen Leserunde wieder. Bis dann - schöne Weihnachten noch.


    Gruss


    riff-raff