November 2008 - Pessoa: Das Buch der Unruhe


  • Bernardo Soares ein Epikuräer?


    Hallo riff-raff,


    interessanter Gedanke! Folgende Stelle weist ihn auch als Cartesianer aus: "Da das Leben im wesentlichen ein geistiger Zustand ist und alles, was wir tun oder denken, die Gültigkeit besitzt, die wir ihm zugestehen, hängt die Wertung von uns ab." (No. 91) Für mich ist das sehr nah am berühmten "Cogito ergo sum" René Descartes'.


    Viele Grüße


    Tom

  • Liebe Leute,


    ich komme langsamer als erhofft voran, meine Pessoa-Dosen werden von Tag zu Tag kleiner, anderer Lesestoff kommt immer wieder dazwischen.



    Ich muss schon sagen, man muss in der richtigen Stimmung sein um so viel Nabelschau etragen zu können. (...) oft stört einem an anderen ja genau das am Meisten, was man bei sich selbst ablehnt. Dieses ewige Grübeln und Denken, dieses sich Suhlen in der vermeintlichen Andersartigkeit.



    ... eine von mir als übertrieben empfundene Weinerlichkeit


    Genau das ist es, was mich an diesem Buch stört. Nabelschau kann ja bisweilen ganz erhellend sein und Menschen mit genügend ausgeprägter Fähigkeit zur Selbstreflexion dazu bewegen, ähnlich in sich hineinzuhorchen. Aber die Breite, in der dies im Buch ausgewalzt wird, und das große Selbstmitleid, in dem der Erzähler sich wälzt, aber auch und vor allem die latente Überheblichkeit gegenüber anderen Menschen, die dabei mitschwingt, sind für mich auf Dauer recht ermüdend. Damit kann ich nichts mehr anfangen. Klar, als unverstandener Teenager, der - wie jeder andere Teenager - selbstverständlich anders als alle anderen Teenager war, habe ich ganz ähnlich empfunden, so dass mir nicht ganz wesensfremd vorkommt, was ich da jetzt bei Pessoa lese. Aber möglicherweise bin ich auch einfach älter und gelassener geworden und sehe vieles nicht mehr so verbissen.


    Ein weiterer Kritikpunkt:
    Bilder zu verwenden, um seine Innenansichten oder sein Empfinden der Dinge auszudrücken, mag ja an der einen oder anderen Stelle und in nicht allzu hoher Dosis ganz geeignet sein. Aber das, was Pessoa da praktiziert, ist für mich - verzeiht den untechnischen Ausdruck - einfach too much. Für mein Empfinden muss man bei der Verwendung von Metaphern aufpassen, dass es nicht zu viel oder zu platt wird, sonst kippt es ins Lächerliche. Und ich habe angesichts einiger der vielen, vielen Bilder, die Pessoa verwendet, mehrmals die Augen verdreht. Hier eine kleine Auswahl aus dem reichhaltigen Angebot:



    [li]In meiner verträumten Seele entfaltet sich eine Landschaft der Entsagung - Alleen unterlassener Gesten, hohe Blumenbeete nicht einmal gut geträumter Träume, Widersprüche, die wie Buchsbaumhecken verwaiste Wege teilen, Vermutungen wie alte Teiche, deren Fontänen versiegt sind, alles verwirrt sich und tritt erbärmlich zutage im traurigen Durcheinander meiner verworrenen Gefühle. (Frag. 47)[/li]
    [li]Ich habe nicht einmal Luftschlösser gebaut wie die großen spanischen Wolkenkuckucksheimbauer. Die meinigen bestanden aus den alten, abgegriffenen Spielkarten eines unvollständigen Kartenspiels, mit dem man nie wieder hätte spielen können; sie fielen nicht zusammen, man musste sie auf den ungeduldigen Wink des alten Dienstmädchens hin mit einer Handbewegung zur Seite wischen, weil die Teestunde wie ein Fluch des Schicksals geschlagen hatte und das Mädchen die halb zurückgeschobene Tischdecke wieder über den Eßtisch breiten wollte. (Frag. 54)[/li]
    [li]Ich bin ein Brunnen von Gesten, die sich in meinem Innern nicht einmal andeuteten, von Worten, die ich nicht einmal mit einer Bewegung meiner Lippen dachte, von Träumen, die ich vergaß, zu Ende zu träumen. (Frag. 61)[/li]
    [li]Wer eigentlich bin ich, wenn ich nicht spiele? Ein armes Waisenkind, ausgesetzt in den Straßen der Empfindung, fröstelnd an den Ecken der Wirklichkeit, gezwungen, auf den Stufen der Traurigkeit zu schlafen und sich vom Brot der Phantasie zu nähren. (Frag. 88)[/li]


    Undsoweiterundsoweiter.


    Ich habe jetzt knapp einhundert Fragemente hinter mir, und es liegen noch ungefähr viermal so viele vor mir. Ich glaube, ich werde das Buch erst mal ein paar Tage beiseitelegen. Im Moment kann ich es nicht guten Gemüts lesen.


    Viele Grüße
    Stefan


  • ich komme langsamer als erhofft voran, meine Pessoa-Dosen werden von Tag zu Tag kleiner, anderer Lesestoff kommt immer wieder dazwischen.


    Hallo zusammen,


    mir ergeht es ähnlich wie Stefan, ich komme auch kaum mehr weiter im Buch der Unruhe. Mein Hauptproblem ist, daß ich momentan einfach Bücher mit etwas mehr Handlung brauche. Wenn ich Pessoa lese, dann erfasse ich nur eine bestimmte Grundstimmung, die einzelnen Aussagen verschwimmen aber recht bald zu einem undifferenzierten "Brei". Ich bekomme kaum mehr etwas genaues mit und dafür ist mir meine Lesezeit zu schade. Also habe ich jetzt mal eine Pause eingelegt. Vielleicht komme ich ja demnächst wieder in Pessoa-Stimmung und lese dann weiter.


    Viele Grüße
    thopas

  • Ist Pessoas alter ego Bernardo Soares ein Romantiker? Einiges spricht dafür:

    Der Träumer ist dem Tatmenschen nicht etwa überlegen, weil der Traum der Wirklichkeit überlegen wäre. Die Überlegenheit des Träumers besteht vielmehr darin, daß Träumen praktischer ist als Leben und er aus dem Leben einen viel umfassenderen und vielfältigeren Genuß zieht als der Tatmensch. Besser und genauer gesagt: Der Träumer ist der eigentliche Tatmensch.
    (Fragment No. 91)


    Ich kultiviere meinen Haß auf das Handeln wie eine Treibhauspflanze. Ich stimme nicht überein mit dem Leben und bin stolz darauf. (No. 103)


    Wahre Erfahrung beruht auf einem verminderten Kontakt mit der Wirklichkeit und einer verstärkten Analyse dieses Kontaktes. So vertieft und erweitert sich unsere Sensibilität, denn alles ist in uns; wir müssen es nur suchen und zu suchen wissen. [...] Es gelingt uns nie, ein anderer zu werden, es sei denn, wir ändern uns durch unsere eigene Empfindung und Vorstellungskraft. Die wahren Landschaften sind jene, die wir uns erschaffen ... (No. 138)


    Träumen, Nichthandeln, Erschaffen der Wirklichkeit: Die von mir vielleicht etwas wahllos zusammengestellten Zitate klingen wie Teile eines (mWn. nie geschriebenen) neoromantischen Manifests. Wundert es Euch nicht auch, dass Pessoa/Soares an anderer Stelle die Romantik grundsätzlich verurteilt (das entsprechende Fragment im Buch kann ich leider ums Verrecken nicht finden)? Widerspricht er sich, oder verstehe ich da etwas nicht richtig?


    LG


    Tom

  • Das ist ja interessant : Der Hilfsbuchhalter als "Epikuräer" ( riff-raff), als "Cartesianer"(Sir Thomas) und jetzt also als "Neoromantiker"!
    Ich hätte noch anzubieten: Nihilist, Pessimist, Melancholiker, Hedonist, Impressionist, Décadent, ästhetischer Amoralist, Stoiker, früher Existenzialist...
    Man findet in diesem Buch , glaube ich, Ansätze zu so ziemlich allem, was der europäische Geist hervorgebracht hat. Ja, und wenn man meint, Bernardo Soares auf etwas festnageln zu können, vertritt er wenig später die Gegenposition.
    Das Buch oszilliert zwischen verschiedenen gedanklichen Positionen, daher , glaube ich, auch der Titel "Buch der Unruhe"und die Vorliebe für Sophismen und Paradoxa, die den Leser gedanklich auf Trab halten, aber zu keinem Schluss kommen lassen. Ich mag das.
    Gruß
    gontscharow

  • Ja, diesen Bernardo Soares bekommt man nicht zu greifen. In einem Moment möchte ich ihn knuddeln, weil er genau das ausspricht, was ich selbst gerade empfinde, und im nächsten Moment könnte ich ihn an die Wand klatschen, weil er all das wieder negiert und zunichte macht.


    Ich habe übrigens meine kleine "Unruhe"-Lesepause beendet. Nun, nachdem ich - weil ich nicht in der rechten Pessoa-Stimmung war - ein völlig anderes Buch eingeschoben habe, nämlich "Die souveräne Leserin" von Alan Bennett, das mich bestens aufgebaut hat, kann ich nun wieder voller Elan an den Pessoa herangehen.


    Ich habe einige der letzten Fragmente, die ich - ich muss es zugeben - zum Schluss nur noch unkonzentriert überflogen habe, noch mal etwas intensiver gelesen, und da ist mir genau das aufgefallen, was Du, Sir Thomas, über Bernardo Soares' "Träume" schreibst:



    Träumen, Nichthandeln, Erschaffen der Wirklichkeit: Die von mir vielleicht etwas wahllos zusammengestellten Zitate klingen wie Teile eines (mWn. nie geschriebenen) neoromantischen Manifests.


    Klar, im ersten Moment könnte man sich fragen, welch' verträumter Mensch Bernardo Soares sein muss, wo er doch so oft von seinen Träumen und von sich als Träumer spricht. Wobei ich aber das Gefühl habe, dass er das weniger aus der romantischen ("verträumten") Warte aus meint, sondern seine "Träume" vielmehr den Zustand darstellen, in dem er sich befindet, wenn er versucht, die Welt um sich herum und vor allem in seinem Kopf zu begreifen und in Worte zu kleiden. Und seine Träume sind m.E. nichts anderes als die vielfältigen gedanklichen Ausflüge, an denen er uns teilhaben lässt, und in denen er sich immer weiter verliert, je mehr er grübelt. Und das hat für mich ganz und gar nichts Romantisches mehr an sich, im Gegenteil, ich finde das zum Teil ganz schön beängstigend. Nicht, dass ich das falsch interpretiere, aber z.B. in Fragment 80 heißt es über seine "Träume":


    Zitat

    Meine Träume sind eine so unsinnige Zuflucht wie ein Regenschirm, wenn es Blitze hagelt. Ich bin so träge, so bedauernswert, so arm an Gesten, so schwach im Handeln.


    Sosehr ich auch in mich dringe, all meine Traumpfade führen zu Lichtungen der Angst.


    Selbst ich, der ich viel träume, kenne Zeiten, in denen der Traum mich flieht. Dann erscheinen mir die Dinge deutlich. Der Nebel, in den ich mich hülle, löst sich. Und alle sichtbaren Ecken und Kanten verletzen das Fleisch meiner Seele. Alles wahrnehmbar Harte schmerzt mich, denn ich erkenne es als hart. Alles sichtbare Gewicht der Dinge lastet in meiner Seele.


    Oder in Fragment 91 spricht er von Dichtern und Künstlern - zu denen er sich auch zählt - als denjenigen, "die sich mit Träumen und deren literarischer Umsetzung beschäftigen".


    Weiß denn jemand, welches Wort für den "Traum" im Original verwendet wird und ob es ggf. mehr als nur diese eine Bedeutung hat? Mir kommt es nämlich so vor, als könnte es im Portugiesischen viel mehr als nur das bedeuten, was wir (oder ich?) als "Traum" verstehen...


    Viele Grüße
    Stefan

  • Hallo zusammen,


    bei meiner Internetrecherche bin ich auf folgende interessante Seite gestoßen, die sich mit Pessoa und dem "Buch der Unruhe" beschäftigt:


    http://www.arlindo-correia.com/041103.html
    http://www.arlindo-correia.com/060104.html


    Eine umfangreiche mehrsprachige Seite, erstellt offenbar von einem pensionierten Lissaboner Steuerbeamten - der also bestimmt nachvollziehen kann, wie's im Hilfsbuchhalter Bernardo Soares aussieht... :zwinker:


    Viele Grüße
    Stefan

  • Hallo zusammen!


    Lese mit grossem Interesse eure Beiträge und finde mich in vielem wieder, das ihr da schreibt.


    Ich selbst bin jetzt ungefähr in der Mitte des Buches angelangt und irgendwie kommt es mir vor, als habe Pessoa sein Pulver verschossen und es komme nichts mehr Neues hinzu, nur noch Variationen des selben Themas. Das Wort, das am meisten vorkommt ist "Ekel", dicht gefolgt von "Traum", "Schlaf" und "Wirklichkeit". Ein Abschnitt ist mit "Ästhetik der Mutlosigkeit" betitelt - das wäre gut auch als Buchtitel durchgegangen.


    An einer Stelle bin ich besonders angeeckt:


    So manch verblassender Sonnenuntergang ist für mich schmerzlicher als der Tod eines Kindes.


    Das kaufe ich ihm nicht ab. Das ist einfach nur plakativ. Als er das geschrieben hat, hat er wahrlich nicht weiter als bis zu seiner Nasenspitze gedacht. Aber es zeigt, wie sehr sich Soares sich von den Menschen distanziert hat. Ständig beschreibt er den Himmel, das Licht und die Wolken über Lissabon, aber Menschen tauchen sehr selten in seinen Aufzeichnungen auf. Deshalb springen mir Sätze wie der Folgende regelrecht an:


    Sehe ich auf der Strasse einen Augenblick lang eine ehetaugliche Mädchengestalt und stelle mir für nur einen Augenblick gänzlich gleichgültig vor, wie es wäre, wenn sie die Meine würde [...]


    Sieh her, denke ich dann, Soares ist auch nur ein Mensch, auch nur ein Mann. Auch wenn er die ganze Aussage sofort wieder relativiert: "gänzlich gleichgültig". Und "ehetauglich" klingt auch nicht besonders romantisch. Trotzdem bin ich froh, dass er zu solchen Gefühlsregungen überhaupt fähig ist, auch wenn er sie schnell wieder hinter sich lässt. Er klingt für mich wie ein Mensch, der so sehr an Niederlagen gewöhnt ist, dass er sämtliche Hoffnungen schon im Keim erstickt um gar nicht erst in Gefahr zu geraten, enttäuscht zu werden. Ich weiss so gut wie nichts über den Menschen Pessoa, aber wegen dem intimen, tagebuchartigen Charakter der Aufzeichnungen fällt es mir zunehmend schwerer, zwischen der realen Figur Pessoa und dem fiktiven Soares zu unterscheiden. Pessoa hat sich als Schriftsteller hinter unzähligen Pseudonymen versteckt. Wozu? Würde mich schon Wunder nehmen, wie viel Fiktion und wie viel Realität ist ... Aber dieses Geheimnis ist ja das Privileg jedes Künstlers, oder sollte es zumindest sein. Ich selbst finde es irgendwie unangebracht die Biographie eines Dichters mit seinem Werk zu verquicken. Der Roman, das Kunstwerk, sollte für sich allein stehen und bewertet werden.


    Ein schönes Wochenende allerseits


    Gruss


    riff-raff

  • Auch wenn es wie eine faule Ausrede klingt - mir ist mein Pessoa zusammen mit anderen Dingen während eines Kurzurlaubs geklaut worden!


    Die Leserunden-Pause kommt daher wie gerufen.


    Ich habe mir das Buch jetzt noch einmal bestellt und bin zu einem Leserunden-Endspurt Anfang
    Dezember bereit. Ihr habt doch hoffentlich noch nicht aufgegeben?


    Gruß
    Gontscharow


  • Ihr habt doch hoffentlich noch nicht aufgegeben?


    ... schon allein die Frage regt mich auf, ganz zu schweigen vom aktiven Hissen der weißen Fahne! :breitgrins:


    Ich bin noch auf Ballhöhe, habe aber Schwierigkeiten, das am Abend Gelesene am nächsten Tag in wohl formulierte Sätze zu packen, die nicht etwas wiederholen, was schon geschrieben wurde. Denn es stimmt: Dem Hilfsbuchhalter geht das Pulver aus - eindeutig.


    Es grüßt


    Tom

  • Kurze Wasserstandsmeldung: Ich bin noch aktiv und greife zumindest regelmäßig zu unserer gemeinsamen Lektüre. Mittlerweile habe ich das Fragment No. 392 erreicht, und wenn ich sehe, was noch vor mir liegt ...


    Wie sieht es bei Euch aus? Aufgegeben?


    Inhaltlich dreht sich Soares im Kreis bzw. um zwei immer wiederkehrende Themen: Die Vorteile des Traums gegenüber der Realität und die Armseligkeit des handelnden Menschen. Kannte Pessoa Hölderlin? "Der Mensch ist ein Gott, wenn er träumt, ein Bettler, wenn er denkt." (aus "Hyperion").


    Über jegliche Lebenszeichen freut sich


    Tom

  • Nach meinem kürzlichen Anflug von Genervtheit bin ich auch noch dabei, bzw. wieder, nachdem ich das Buch zwischenzeitlich für andere Lektüre aus der Hand gelegt hatte. Ich habe das Buch seit gestern wieder im Rucksack, für meine täglichen Arbeitswege, und das Lesezeichen steckt bei Fragment 118, also doch immer noch relativ weit vorn.


    Ich schließe mich den Meinungen an, die sagen, das Buch könne man nicht hintereinander weg lesen wie einen Roman, sondern lediglich häppchenweise. Das würde m.E. auch den Fragmenten (bzw. der Reflexion über sie) entgegegenkommen. Denn trotz allen Wiederholungen und trotz allem Schwulst steckt schon der eine oder andere nachdenkenswerte Geistesblitz in ihnen, der nicht einfach überlesen werden will.


    In den nächsten Tagen mehr von mir...


    Viele Grüße :winken:
    Stefan

  • Elke Heidenreich hat in einem aktuellen Interview (Dank an Klassikfreund für den Hinweis :zwinker:) auf die Frage nach den wichtigsten Büchern in ihrem Leben u.a. geantwortet:


    Zitat

    Fernando Pessoas „Buch der Unruhe“ ist meine Bibel.


    Ich glaube, etwas Ähnliches neulich auch von Paul Kersten im NDR-Bücherjournal gehört zu haben. Stehen Medienmenschen auf Pessoa? Und sollte ich mein gespaltenes Verhältnis zu dem Guten vielleicht noch mal überdenken...?


  • Elke Heidenreich hat in einem aktuellen Interview (Dank an Klassikfreund für den Hinweis :zwinker:) auf die Frage nach den wichtigsten Büchern in ihrem Leben u.a. geantwortet:


    [quote]Fernando Pessoas „Buch der Unruhe“ ist meine Bibel.


    Sie war Mal in den 70igern im SWR3-Radio so gut. Und jetzt ist sie nur noch Pfarrerstochter und Missionarin :-(


  • ... sollte ich mein gespaltenes Verhältnis zu dem Guten vielleicht noch mal überdenken...?


    Hallo MacOss,


    auch wenn dies vermutlich eine rein rhetorische Frage ist, antworte ich Dir mit einem "Ja". Mir geht es genauso. Ich schwanke zwischen Bewunderung und Abneigung. Leicht macht er es uns wahrlich nicht, der liebe Herr Soares/Pessoa. Aber ist es nicht das, was gute Literatur ausmacht (neben vielen anderen Aspekten)?


    Viele Grüße


    Tom

  • Hallo, liebe Pessao-Skeptiker!


    Hier ist Wasser auf Eure Mühlen - vom Hilfsbuchhalter selbst : In Fragment 442 heißt es:


    "Während dieser Zustände ....überfliege ich nochmals einige jener Seiten , die als Summe mein Buch unzusammenhängender Eindrücke ergeben werden. Wie ein vertrauter Geruch geht für mich von ihnen etwas Ödes , Monotones aus . Auch wenn ich immer geschrieben habe, ich sei ein anderer, fühle ich doch , dass ich immer das gleiche sage...
    Alles , was ich geschrieben habe , ist grau. Man könnte meinen, mein Leben, selbst mein geistiges, sei ein Regentag, an dem alles Ereignislosigkeit und Halbdunkel ist ...
    Mein ärmliches Bemühen, zumindest zu sagen , wer ich bin , und wie eine Nervenmaschine kleinste Eindrücke meines subjektiven, hellwachen Lebens zu registrieren , dies alles entleerte sich wie ein umgestoßener Eimer und ergoss sich über den Boden ...Mein Herz, aus dem ich die großen Ereignisse der erlebten Prosa spann, erscheint mir heute, auf diesen vor langem geschriebenen und nun mit anderer Seele wiedergelesenen Seiten, wie eine Wasserpumpe in einem ländlichen Garten, instinktiv installiert und zwangsläufig betätigt. Ich habe auch ohne Stürme Schiffbruch erlitten, auf einem Meer, in dem ich stehen konnte."

    Aber wieder mal schön gesagt, nicht?
    "Morgen werde ich weiterschreiben an meinem törichten Buch ..."


    Ich hoffe, auch Ihr macht weiter!
    Gruß
    Gontscharow

  • Liebe Pessoa-Gemeinde,


    wer durchhält, wird belohnt – mit Perlen wie dem Fragment No. 428, das den wunderbaren Titel „Ästhetik der Gleichgültigkeit“ trägt und eine Form der „geistigen Aristokratie“ beschreibt:


    „Die größte Selbstbeherrschung ist die Gleichgültigkeit gegen sich selbst ... Den eigenen Träumen und heimlichen Wünschen mit Hochmut begegnen wie ein Grandseigneur, sie höflich und taktvoll ignorieren. Es nicht an Anstand fehlen lassen in unserer eigenen Gegenwart; darauf achten, daß wir nie ganz allein, sondern stets Zeugen unserer selbst sind und daher vor uns selbst handeln sollten wie vor einem Fremden – mit gekonnt heiterem Gehabe, gleichgültig, weil vornehm, kühl, weil gleichgültig.


    Um nicht in userem eigenen Ansehen zu sinken, genügt es, uns von Passionen und Ambitionen zu verabschieden, von Wünschen und Hoffnungen, Zwängen und innerer Unruhe, ... denn Passionen und Ambitionen machen verwundbar. ...


    Ein Aristokrat ist, wer nie vergisst, dass er niemals allein ist. ... Verinnerlichen wir den Aristokraten. Entreißen wir ihn den Salons und Gärten und versetzen ihn in unsere Seele und das Bewußtsein von unserer Existenz.“


    Eine schönere "Definition" des Begriffs "Aristokratie" habe ich nie zuvor gelesen.


    Liebe Grüße


    Tom