Danke, Evelyne, daß du das nochmal deutlich gemacht hast. Ich denke da wahrscheinlich zu stark aus unserer Zeit heraus, nämlich daß ein einmal kränkelndes Kind später als Erwachsener dann kerngesund sein kann. Ich kenne durchaus Leute, die als Kind kränklich waren, später dann aber topfit und gesund. Aber die Medizin ist heute natürlich um einiges weiter. Da verliert man dann durchaus aus den Augen, daß kränkelnde Menschen früher meist ein Leben lang krank waren und immer den Tod vor Augen hatten.
Aschenbach wirkt ja nur deshalb so fit, weil er sich ständig geißelt und weil er ziemlich "powert" (auf gut deutsch gesagt), um alles das schreiben zu können, was in ihm steckt. Wenn er jetzt nichts mehr zu sagen hat, läßt diese Kraft nach, die ihn antreibt, und er wird wieder der kränkliche Junge von damals.
Viele Grüße
thopas
Hallo zusammen
Hi Thopas
Ja, das habe ich auch beobachtet. Gerade kränkliche Kinder wirken später recht vital und lebenskräftig, als wollten sie sich zur Gesundheit zwingen, war auch bei meinem Vater und bei meinem Onkel so. Kaum Arztbesuche. Doch das täuscht und hat wohl eher mit der Lebenseinstellung zu tun. Die Krankheitssignale wollen nicht mehr wahrgenommen werden. Mein Vater schien sehr kräftig, war oft draußen in freier Natur, braungebrannt, ein kerngesunder Mann. Doch gerade deshalb überschätzte er sich, glaubte, auch als Raucher alt werden zu können, nahm die Warnungen der Ärzte nicht ernst, auch nach dem Herzinfarkt nicht wirklich. Einen Tag vor seinem Todestag renovierte er das Vereinshaus seines Fischervereins und feierte abends noch 1. August bis spät in die Nacht. Am nächsten Tag arbeitete er in brütender Hitze in seinem Büro. Das war zu viel für ihn. Dann noch eine schlechte Nachricht, welche ihn aufregte. Als er die typischen Herzinfarkt-Symptome bekam, wollte er keinen Notarzt, auch da hörte er nicht auf seinen Körper. Nun ja, der Notarzt kam so oder so zu spät.
Aschenbach war ja auch jemand, der sich zur Gesundheit zwang. Trotzdem fühlte er sich zu dem kränklichen Jungen hingezogen, dem er keine große Lebenserwartung zuschrieb, womit er seine eigene Lebenserwartung mitbezeichnete, war er doch selbst ein kränkliches Kind gewesen. In Kapitel 3 sieht er Spiegelbilder seiner selbst, sich als alten Mann, der seine Jugend nicht loslassen will, und sich als kränklichen Jungen, dem kein Alter beschieden war, die ewige Jugend.
Thomas Mann wird immer wieder Pädophilie zugeschrieben, doch denke ich, dass in dieser prüden Zeit, wo sich die Erwachsenen auch in der Ehe siezten, die Liebe zu Kindern immer irgendwie verdächtig wirkte. Gerade die Novelle Tod in Venedig soll ein Indiz für seine angebliche Pädophilie sein. Doch die Beschreibungen des Jungen, die liebevolle Art, wie er die Unschuld und Anmut des Jungen darstellt, kann ich sehr gut nachvollziehen. Kinder sind wirklich so bezaubernd. Meine kleine Nichte, gerade 1-jährig, trägt auch so hübsche Locken. Sie hat wunderschöne aquamarinblaue Augen und sitzt auf meinem Arm wie ein Buddha, völlig zufrieden und eins mit sich und der Welt. Auf einmal grinst sie mich an, packt mich kichernd an den Haaren und beißt mir ins Gesicht mit ihren ersten Zähnchen. Auch mein Neffe ist ein anhänglicher Junge, der es versteht, mich mit seinem kecken Lachen um den kleinen Finger zu wickeln. Es macht Spaß, ihn zu necken und aufzuziehen. Und natürlich umarme ich ihn auch herzhaft. Solche Dinge waren damals verdächtig. Das tat man nicht. Kinder waren kleine Erwachsene. Meine Mutter wurde nie von ihren Eltern geherzt. Als mein Vater uns umarmte und auf den Schoß nahm, sahen seine Schwestern ihn schräg an, als täte er etwas Verbotenes.
Da Thomas Mann homosexuelle Neigungen aufwies, lag natürlich der Verdacht der Pädophilie nahe. Ich hab auch schon Texte von Pädophilen gelesen im Internet. Ihre Schilderungen bewegen sich zuerst auch in dieser allgemeinen Kinderliebe, doch verfallen sie unbemerkt in sexuell motivierte Perspektiven. Zugegeben, bei Thomas Mann gibt es Anklänge in diese Richtung. Doch scheint sich Thomas Mann dieser Gefahr bewusst gewesen zu sein. Deshalb auch die Beschreibung des Alten, der sich mit seiner Jugendverkleidung lächerlich machte. Pädophile schreiben immer sehr ichbezogen von Kindern, sie erkennen nicht wirklich das Kind in seiner eigenen Persönlichkeit.