Juni 2008 - Th. Mann: Der Tod in Venedig

  • Danke, Evelyne, daß du das nochmal deutlich gemacht hast. Ich denke da wahrscheinlich zu stark aus unserer Zeit heraus, nämlich daß ein einmal kränkelndes Kind später als Erwachsener dann kerngesund sein kann. Ich kenne durchaus Leute, die als Kind kränklich waren, später dann aber topfit und gesund. Aber die Medizin ist heute natürlich um einiges weiter. Da verliert man dann durchaus aus den Augen, daß kränkelnde Menschen früher meist ein Leben lang krank waren und immer den Tod vor Augen hatten.


    Aschenbach wirkt ja nur deshalb so fit, weil er sich ständig geißelt und weil er ziemlich "powert" (auf gut deutsch gesagt), um alles das schreiben zu können, was in ihm steckt. Wenn er jetzt nichts mehr zu sagen hat, läßt diese Kraft nach, die ihn antreibt, und er wird wieder der kränkliche Junge von damals.


    Viele Grüße
    thopas


    Hallo zusammen
    Hi Thopas


    Ja, das habe ich auch beobachtet. Gerade kränkliche Kinder wirken später recht vital und lebenskräftig, als wollten sie sich zur Gesundheit zwingen, war auch bei meinem Vater und bei meinem Onkel so. Kaum Arztbesuche. Doch das täuscht und hat wohl eher mit der Lebenseinstellung zu tun. Die Krankheitssignale wollen nicht mehr wahrgenommen werden. Mein Vater schien sehr kräftig, war oft draußen in freier Natur, braungebrannt, ein kerngesunder Mann. Doch gerade deshalb überschätzte er sich, glaubte, auch als Raucher alt werden zu können, nahm die Warnungen der Ärzte nicht ernst, auch nach dem Herzinfarkt nicht wirklich. Einen Tag vor seinem Todestag renovierte er das Vereinshaus seines Fischervereins und feierte abends noch 1. August bis spät in die Nacht. Am nächsten Tag arbeitete er in brütender Hitze in seinem Büro. Das war zu viel für ihn. Dann noch eine schlechte Nachricht, welche ihn aufregte. Als er die typischen Herzinfarkt-Symptome bekam, wollte er keinen Notarzt, auch da hörte er nicht auf seinen Körper. Nun ja, der Notarzt kam so oder so zu spät.


    Aschenbach war ja auch jemand, der sich zur Gesundheit zwang. Trotzdem fühlte er sich zu dem kränklichen Jungen hingezogen, dem er keine große Lebenserwartung zuschrieb, womit er seine eigene Lebenserwartung mitbezeichnete, war er doch selbst ein kränkliches Kind gewesen. In Kapitel 3 sieht er Spiegelbilder seiner selbst, sich als alten Mann, der seine Jugend nicht loslassen will, und sich als kränklichen Jungen, dem kein Alter beschieden war, die ewige Jugend.


    Thomas Mann wird immer wieder Pädophilie zugeschrieben, doch denke ich, dass in dieser prüden Zeit, wo sich die Erwachsenen auch in der Ehe siezten, die Liebe zu Kindern immer irgendwie verdächtig wirkte. Gerade die Novelle Tod in Venedig soll ein Indiz für seine angebliche Pädophilie sein. Doch die Beschreibungen des Jungen, die liebevolle Art, wie er die Unschuld und Anmut des Jungen darstellt, kann ich sehr gut nachvollziehen. Kinder sind wirklich so bezaubernd. Meine kleine Nichte, gerade 1-jährig, trägt auch so hübsche Locken. Sie hat wunderschöne aquamarinblaue Augen und sitzt auf meinem Arm wie ein Buddha, völlig zufrieden und eins mit sich und der Welt. Auf einmal grinst sie mich an, packt mich kichernd an den Haaren und beißt mir ins Gesicht mit ihren ersten Zähnchen. Auch mein Neffe ist ein anhänglicher Junge, der es versteht, mich mit seinem kecken Lachen um den kleinen Finger zu wickeln. Es macht Spaß, ihn zu necken und aufzuziehen. Und natürlich umarme ich ihn auch herzhaft. Solche Dinge waren damals verdächtig. Das tat man nicht. Kinder waren kleine Erwachsene. Meine Mutter wurde nie von ihren Eltern geherzt. Als mein Vater uns umarmte und auf den Schoß nahm, sahen seine Schwestern ihn schräg an, als täte er etwas Verbotenes.


    Da Thomas Mann homosexuelle Neigungen aufwies, lag natürlich der Verdacht der Pädophilie nahe. Ich hab auch schon Texte von Pädophilen gelesen im Internet. Ihre Schilderungen bewegen sich zuerst auch in dieser allgemeinen Kinderliebe, doch verfallen sie unbemerkt in sexuell motivierte Perspektiven. Zugegeben, bei Thomas Mann gibt es Anklänge in diese Richtung. Doch scheint sich Thomas Mann dieser Gefahr bewusst gewesen zu sein. Deshalb auch die Beschreibung des Alten, der sich mit seiner Jugendverkleidung lächerlich machte. Pädophile schreiben immer sehr ichbezogen von Kindern, sie erkennen nicht wirklich das Kind in seiner eigenen Persönlichkeit.

  • Hallo Evelyne, hallo zusammen,


    ich denke, daß Thomas Mann sich gehütet hätte, die Tadzio-Szenen so zu schreiben, wenn er wirklich pädophil gewesen wäre. Da hätte er doch eher versucht, so ein Thema gar nicht zu verarbeiten. Es gab ja schon genug Epochen, in denen es nicht verpönt war, wenn ältere Männer sich mit jungen, z.T. sehr jungen Männern eingelassen habe. Tadzio ist mit seinen vierzehn Jahren an der Schwelle vom Kind zum Jüngling. Aschenbach fühlt sich zu ihm hingezogen, aber das findet alles nur in seinen Gedanken statt. Er ist vielleicht auch eher in Tadzios Schönheit vernarrt, in sein makelloses Aussehen, als in den Mensch Tadzio. Aber soweit bin ich jetzt noch nicht in der Lektüre, deswegen könnte es sein, daß ich mich da täusche.


    Wenn ich jetzt beim Lesen aufmerksam hinschaue, fallen mir immer wieder Stellen auf, in denen Aschenbach ganz bewußt auf den Tod zugeht. Nach einem kurzen Aufenthalt in Istrien sucht er sich ausgerechnet Venedig als Reiseziel, die Stadt, die den Verfall und den Untergang schlechthin darstellt. Und obwohl er merkt, daß ihm das Klima von Venedig nicht bekommt, beschließt er wider besseren Wissens in Venedig zu bleiben. Auch hier kämpft er, wie er es als Schriftsteller schon gemacht hat, gegen seine schwächliche Konstitution an. Er will sich von Venedig nicht besiegen lassen.


    Was ich immer sehr interessant finde, ist das Reisen zu früheren Zeiten. Damals waren Länder wie Italien vergleichsweise riskante Ziele, weil es noch Krankheiten wie die Malaria, die Cholera etc. gab. Das kann man sich heute gar nicht mehr so vorstellen, daß eben ein Aufenthalt in Venedig durchaus nicht ungefährlich war, wenn ein bestimmtes Klima herrschte. Da fällt mir auch gleich Daisy Miller von Henry James ein: damals hat man sich in Rom besser nicht nachts im Kolosseum aufgehalten, da dort die Gefahr bestand, sich Malaria zu holen.


    Venedig muß damals auch schon ein ziemlich überfülltes Touristenziel gewesen sein. In den Gassen wimmelt es von Menschen, überall "überfallen" einen Händler und Bettler. Auch am Badestrand geht es ziemlich zu. Da würden mich die lärmenden Badegäste glaube ich eher nerven, aber für den in sich zurückgezogenen Aschenbach ist es vermutlich eine interessante Unterhaltung, wenn so viel Leben um ihn herum ist. Denn er plant ja eigentlich wieder einen Aufenthalt in seinem abgeschiedenen Sommerhaus...


    Viele Grüße
    thopas

  • Thomas Mann wird immer wieder Pädophilie zugeschrieben


    Nein, ich hoffe jedesfalls nicht, denn Thomas Mann war in der Tat niemals pädophil.


    Bei Aschenbach spricht man von Päderastie (Knabenliebe), die Liebe eines älteren Herrn zu einen schon geschlechtsreifen Jungen.


    Liebe Grüße
    mombour

  • Nein, ich hoffe jedesfalls nicht, denn Thomas Mann war in der Tat niemals pädophil.


    Bei Aschenbach spricht man von Päderastie (Knabenliebe), die Liebe eines älteren Herrn zu einen schon geschlechtsreifen Jungen.


    Liebe Grüße
    mombour


    Hi mombour


    Der Junge war 14 Jahre alt oder jünger, d. h. juristisch noch minderjährig. Deshalb passt in diesem Zusammenhang schon eher Pädophilie.


    Doch denke ich auch nicht, dass Thomas Mann mit Aschenbach einen Pädophilen darstellte.


  • Hallo zusammen
    Hi Thopas


    Aschenbach suchte den "Ort seiner Bestimmung", deshalb änderte er seine Reiseroute. Er wünschte "über Nacht" das "märchenhaft Abweichende", das Paradies, die Andere Welt, die Schönheit des Todes. Doch vergaß er dabei die Schattenseiten des Sterbens, "als zeige die Welt eine leichte, doch nicht zu hemmende Neigung, sich ins Sonderbare und Fratzenhafte zu entstellen". Die Schiffsfahrt nach Venedig erinnert in vielerlei Hinsicht an das literarische Sagenmotiv der Totenüberfahrt ans jenseitige Ufer, wo im Volksglauben die Andere Welt begann. Venedig repräsentierte gerade auch im Volksglauben einen Jenseitsort, was wiederum die Sagen von den versunkenen Städten anklingen lässt. Venedig soll ja immer mehr versinken. Das Meer selbst gehörte bereits der jenseitigen Welt an. Der Fahrer der Totenbarke war denn auch folgerichtig ein Konzessionsloser, ein Jenseitiger.


    Interessant ist übrigens, wie authentisch Thomas Mann Venedig beschrieb. Er war ja wirklich da. Eine TV-Dokumentation über Venedig führte mir dies besonders deutlich vor Augen. Venedig ist die Stadt der Alten, die Jugend ist längst ausgeflogen und hat sich anderweitig Arbeit gesucht. Überspitzt ausgedrückt ist Venedig demzufolge ein Elefantenfriedhof. Bekanntlich ziehen viele im Alter in den Süden, als suchten sie dort ihre letzte Ruhestätte, in letzter Konsequenz gedacht.


    Nur so nebenbei: In meiner Kurzgeschichte Flusspfade spielen die literarischen Motive der Todesbarke und Totenüberfahrt auch eine Rolle. Die Geschichte basiert auf realen Erlebnissen.

  • Ihr Lieben,


    ich komme derzeit kaum zum Lesen, weshalb ich gerade erst mit Aschenbach in Venedig angekommen bin.


    Die kurze Schiffsreise fand auf einem sehr betagten "Seelenverkäufer" mit zweifelhaftem Personal und unangenehmen Mitreisenden statt, den ersten Figuren des beginnenden Totentanzes. Zuerst der Fahrkartenverkäufer, „ein ziegenbärtiger Mann von der Physiognomie eines altmodischen Zirkusdirektors, der mit grimassenhaft leichtem Geschäftsgebaren die Personalien der Reisenden aufnahm“; dann der stutzerhafte, betrunkene Alte: „Verblödeten Blicks, eine Zigarette zwischen den zitternden Fingern, schwankte er, mühsam das Gleichgewicht haltend, auf der Stelle, vom Rausche vorwärts und rückwärts gezogen.“


    Thomas Mann versteht es ganz hervorragend, mit wenigen "Strichen" Personen zu schaffen, die am Rand ihrer Würde angelangt sind und uns einen Vorgeschmack geben auf den Prozess der Entwürdigung, der für unseren Aschenbach einsetzt. Der erfährt auf dem Schiff zum erstenmal den angenehm erschlaffenden und einschläfernden Sog des Todes. Er gleitet im Liegestuhl in einen kurzen Schlummer, was sich später in der Gondel fast wiederholt.


    Über Venedig selbst habt Ihr bereits eine Menge interessanter Dinge geschrieben. Eine kleine Ergänzung noch, die mir in unserem Kontext relevant scheint: In Venedig konzipierte Richard Wagner große Teile seiner Oper "Tristan und Isolde", ein Stück, in dem es um die Todessehnsucht zweier Liebenden geht. ("So stürben wir / um ungetrennt / ewig einig ohne End / ohn Erwachen, ohn Erbangen / namenlos in Lieb umfangen / ganz uns selbst gegeben / der Liebe nur zu leben").


    Venedig als Ort des Todes, "Elefantenfriedhof" (schöne Formulierung, Evelyne!) oder Nekropole: Gibt es in der Literatur weitere Beispiele für den unheimlichen Sog dieser Stadt (oder einer anderen)? Mir fällt im Augenblick nur "Der Tod in Rom" von Wolfgang Koeppen ein.


    Liebe Grüße


    Sir Thomas

  • Hallo zusammen,


    ich bin im Text auch erst am Ende des dritten Kapitels angekommen; Aschenbach ist gerade überglücklich, daß er doch nicht aus Venedig abreisen muß. Was mir auffällt ist, daß, egal wie oft ich diese Erzählung lese (ist jetzt glaube ich das vierte Mal), ich jedesmal wieder hoffe, daß Aschenbach doch aus Venedig abreist, und seinem Schicksal entgeht. Aber er bleibt natürlich, denn er kann sich diesem Sog nicht mehr entziehen. Es ist so, wie du gemeint hattest, Sir Thomas: schon am Nordfriedhof in München betritt Aschenbach das Schattenreich, und er kann nicht mehr davonkommen. Und jetzt, da er bleibt, beginnt der Prozeß seiner Entwürdigung, er wird dem geckenhaften Greis immer ähnlicher. Diese Entwicklung finde ich immer sehr erschreckend und abstoßend. Die Frage ist: warum muß Aschenbach vor seinem Tod seine Würde verlieren? Oder wird er einfach auch nur zu einer Figur in diesem "Totentanz" (wie du es so treffend nennst, Sir Thomas) und muß dadurch seine Würde verlieren?


    Viele Grüße
    thopas


  • Die Frage ist: warum muß Aschenbach vor seinem Tod seine Würde verlieren? Oder wird er einfach auch nur zu einer Figur in diesem "Totentanz" (wie du es so treffend nennst, Sir Thomas) und muß dadurch seine Würde verlieren?


    Hallo, thopas,


    ich denke schon, dass die Dramaturgie so angelegt ist, dass
    a) Aschenbach nach der ersten Begegnung mit dem Todesboten unwiderruflich dem Jenseits angehört und
    b) im weiteren Verlauf immer tiefer in einen Strudel des Todes und der Entwürdigung gerät.


    Das Motiv des Totentanzes "materialisiert" sich kurz vor Aschenbachs Tod in dem Albtraum einer lasziv-infernalisch tanzenden Meute: „Menschen, Tiere, ein Schwarm, eine tobende Rotte [...] überschwemmte die Halde mit Leibern, Flammen, Tumult und taumelndem Rundtanz.“ (aus meinen älteren Aufzeichnungen zum Kapitel 5).


    Natürlich stösst der Entwürdigungsprozess eines intelligenten Menschen uns ab. Wir können diese idiotisch anmutende Bewunderung Aschenbachs für den Jüngling Tadzio einfach nicht nachvollziehen, zumindest ich kann es nicht. Mit Pädophilie / Päderastie ist das nicht hinreichend erklärt, aber müssen wir das wirklich verstehen? :zwinker:


    Liebe Grüße


    Sir Thomas

  • Hallo zusammen


    Aschenbachs Entwürdigung hat m. A. n. sehr viel mit dem Alter zu tun. Es ist sehr schwer für alte Menschen, wenn sie merken, wie die Jugend sie nicht mehr für voll nimmt, weil sie für alles mehr Zeit brauchen. Die Entwürdigung ist das Altwerden an sich. Man sagt, im Tod werden alle gleich. Doch ist es schon im Alter so. Gerade wenn jemand eine höhere Stellung einnimmt in der Gesellschaft und dann auf einmal nichts mehr gilt im Alter, er als senil abgetan wird, weil er nur noch mit zittriger Hand schreiben kann, er kaum mehr Kraft aufbringt, sich hochgestochen zu äußern, tut es besonders weh. Deshalb die Angst vor dem Alter und das Festhalten an der Jugend und damit am Leben an sich, wie deplatziert es auch wirken mag. Angst ist nie würdevoll. Aschenbach verliert seine Würde vor der Welt, aber er ist ehrlich zu sich selbst und steht zu seinen Gefühlen. Als er stirbt, kann er endlich loslassen.


    Ein würdevoll Sterbender legt sich hin und stirbt gefälligst, bitte ohne dieses Ich-will-nochmal-jung-sein-Gezicke! :breitgrins:


  • Aschenbachs Entwürdigung hat m. A. n. sehr viel mit dem Alter zu tun. Es ist sehr schwer für alte Menschen, wenn sie merken, wie die Jugend sie nicht mehr für voll nimmt, weil sie für alles mehr Zeit brauchen. Die Entwürdigung ist das Altwerden an sich.


    Das sind ja furchtbar deprimierende Aussichten für Jemanden, der das Altern noch vor sich hat (oder glaubt, in diesen Prozess noch nicht eingetreten zu sein). :breitgrins:


    Liebe Grüße


    Sir Thomas

  • Das sind ja furchtbar deprimierende Aussichten für Jemanden, der das Altern noch vor sich hat (oder glaubt, in diesen Prozess noch nicht eingetreten zu sein). :breitgrins:


    Liebe Grüße


    Sir Thomas


    Tja, ich weiß eben, wovon ich spreche mit meinen ehrwürdigen 40 Jahren. Was hab ich doch zu leiden. [Blockierte Grafik: http://cheesebuerger.de/images/smilie/muede/o010.gif]


  • Wenn ich jetzt beim Lesen aufmerksam hinschaue, fallen mir immer wieder Stellen auf, in denen Aschenbach ganz bewußt auf den Tod zugeht. Nach einem kurzen Aufenthalt in Istrien sucht er sich ausgerechnet Venedig als Reiseziel, die Stadt, die den Verfall und den Untergang schlechthin darstellt.



    Ganz frech mische ich mich mal ein:


    Es ist schon eine Zeit lang her, dass ich das Buch gelesen habe. Nicht wenig hat es mich auch an die Winterreise (Müller/Schubert) erinnert. Vielleicht fällt das dem einen oder andern von euch auch ein.


  • ... Nicht wenig hat es mich auch an die Winterreise (Müller/Schubert) erinnert.


    Hallo, Lost,


    interessant! Diese Winterreise kenne ich gar nicht. Ich nehme an, Müller heisst der Autor und Schubert (Franz Schubert?) der Reisende, oder? Sachdienliche Hinweise nehme ich gern entgegen.


    Viele Grüße


    Sir Thomas

  • Halllo,


    Folgender Hinweis von Sir Thomas scheint mir (auch schon mit Ausblick auf den Schluss der Erzählung) bedeutend zu sein.


    Über Venedig selbst habt Ihr bereits eine Menge interessanter Dinge geschrieben. Eine kleine Ergänzung noch, die mir in unserem Kontext relevant scheint: In Venedig konzipierte Richard Wagner große Teile seiner Oper "Tristan und Isolde", ein Stück, in dem es um die Todessehnsucht zweier Liebenden geht. ("So stürben wir / um ungetrennt / ewig einig ohne End / ohn Erwachen, ohn Erbangen / namenlos in Lieb umfangen / ganz uns selbst gegeben / der Liebe nur zu leben").


    Auch Richard Wagner starb in Venedig!!


    Hallo Sir Thomas,


    zur Winterreise: Liederzyklus, vertont von Franz Schubert, Text von Wilhelm Müller. Auch hier kreist der Inhalt um den Tod. Thomas Mann spielt in einem späteren Kapitel des Zauberbergs auf diesen Liederzyklus an.


    Der Zauberberg wie auch Der Tod in Venedig handelt von Liebe und Tod, nur hier, in unserer Erzählung, ist der Tod dann sehr wagnerisch. :zwinker:


  • Tja, ich weiß eben, wovon ich spreche mit meinen ehrwürdigen 40 Jahren. Was hab ich doch zu leiden. [Blockierte Grafik: http://cheesebuerger.de/images/smilie/muede/o010.gif


    Mein Gott, soll ich da mal ein Paar Jährchen draufpacken und von meinen Leiden berichten? :entsetzt:


    Lassen wir das lieber ... :breitgrins:


    Ich habe jetzt das Ende des dritten Kapitels erreicht. Dort heißt es: "Dann hob er [Aschenbach] den Kopf und beschrieb mit beiden schlaff über die Lehne des Sessels hinabhängenden Armen ... eine Bewegung, ... als deute er ein Öffnen und Ausbreiten der Arme an. Es war eine bereitwillig willkommen heißende, gelassen aufnehmende Gebärde."


    Kein Zweifel: Hier wird (nach der "misslungenen" Abreise aus Venedig) der Tod begrüsst. Diese Stelle hatte ich bislang immer überlesen - was ein Grund mehr ist, bestimmte Werke immer wieder mal zu erforschen.


    Viele Grüße


    Sir Thomas


  • Auch Richard Wagner starb in Venedig!!


    zur Winterreise: Liederzyklus, vertont von Franz Schubert, Text von Wilhelm Müller. Auch hier kreist der Inhalt um den Tod. Thomas Mann spielt in einem späteren Kapitel des Zauberbergs auf diesen Liederzyklus an.


    Der Zauberberg wie auch Der Tod in Venedig handelt von Liebe und Tod, nur hier, in unserer Erzählung, ist der Tod dann sehr wagnerisch. :zwinker:


    Mit Richard Wagners Tod in Venedig (danke für diesen Hinweis, das hatte ich vergessen) beschäftigt sich Franz Werfel in seinem Roman "Verdi". Danke auch für den Hinweis zur Schubertschen Winterreise! Ich werde mich darum mal kümmern ...


    Über den spezifisch wagnerischen Tod muss ich nachdenken - eine sehr schöne Formulierung! Ich sterbe diesen Tod immer im Opernhaus, denn Wagner-Aufführungen dauern einfach unmenschlich lang.


    Liebe Grüße


    Sir Thomas

  • Natürlich stösst der Entwürdigungsprozess eines intelligenten Menschen uns ab. Wir können diese idiotisch anmutende Bewunderung Aschenbachs für den Jüngling Tadzio einfach nicht nachvollziehen, zumindest ich kann es nicht. Mit Pädophilie / Päderastie ist das nicht hinreichend erklärt, aber müssen wir das wirklich verstehen? :zwinker:


    Liebe Grüße


    Sir Thomas


    Hallo,


    ich finde diesen Entwürdigungsprozeß nicht abstoßend, sondern vielmehr tragisch und menschlich. Wie schon in anderen Beiträgen angedeutet, ist der herrannahende Tod für jeden mit Entwürdigung verbunden, selbst für Aschenbach, der sich in seinem Leben immer extrem um Würde und Strenge bemüht hat. Er schafft es nicht diese aufrecht zu erhalten, sondern fügt sich willig in sein Schicksal. Der neue Zustand, der dionysische Rausch, ist zwar seinen vorherigen Bestrebungen entgegengesetzt, aber zugleich tief menschlich. Er wird in diesem Rausch zu seinem Ursprung zurückgeführt.


    Für mich hat dieser Gedanke von unbedingter Hingabe an seine Natur im Augenblick des nahenden Todes immer etwas Tröstliches, Erhebendes. Vor allem da sich der Tod in diesem Falle in der Gestalt eines schönen Jungen, der für Aschenbach die geistige Schönheit manifestiert, darstellt.


    Die letzte Szene am Strand hat mir jedenfalls heute morgen einen dicken Kloß im Hals beschert.


    Gruß,
    Telemachos

  • Hallo zusammen


    Die Szenen mit Tadzio erinnern mich stark an meinen Neffen und meine Nichte. Bei beiden Kindern erlebten wir dasselbe: Immer wieder wurden wir von Fremden angesprochen, welche die Kinder bezaubernd fanden. Meine kleine Nichte sähe wie eine dieser schönen lockigen Sammlerpuppen aus, womit sie nicht ganz Unrecht haben. Wenn mein Neffe seine Mutter im Altersheim, wo sie arbeitete, besuchte, war ihm die Begeisterung der Alten sicher. Im Alter leben all die schönen Jugenderinnerungen wieder auf und bei Verwirrtheit oder Demenz leben sie wieder ganz in ihrer Kindheit.


    Was ich im Gespräch mit Alten auch feststellte, ist ihre eigene Herabsetzung. Eine alte Italienerin glaubte, sie dürfe keins ihrer Enkel küssen, sonst übertrage sie ihnen Krankheit und Tod. Meine 73-jährige Mutter spricht manchmal auch so, als wäre sie nun weniger wert, jetzt, wo sie alt sei. Als würde man sie nicht mehr ernst nehmen, wenn man nicht derselben Ansicht ist. Die Kinder sind erwachsen, die Eltern verlieren ihre dominierende Position und fühlen sich damit entwürdigt und abgeschoben. Da wächst eine neue Generation heran, die Enkelkinder, welche ihnen womöglich ähnlich sehen. Diese wenden sich dankbar den Großeltern zu, welche mehr Zeit haben als die arbeitenden Eltern. Und die Alten, welche sich selbst dem Tode nahe fühlen, genießen jeden Augenblick mit ihren anhänglichen, lustig hopsenden, süßen Enkelkindern.


    Auf diese Weise schließt sich der Kreis. Nicht von ungefähr ähneln sich die faltigen Gesichter von Neugeborenem und Greis.


    Ich denke, dieses psychisch-biologische Programm wird auch bei Aschenbach wirksam.


  • Für mich hat dieser Gedanke von unbedingter Hingabe an seine Natur im Augenblick des nahenden Todes immer etwas Tröstliches, Erhebendes. Vor allem da sich der Tod in diesem Falle in der Gestalt eines schönen Jungen, der für Aschenbach die geistige Schönheit manifestiert, darstellt.


    Da sprichst du eine ganz interessante Sache an, Telemachos. Der Tod stellt sich für Aschenbach in der Gestalt eines schönen Jünglings dar, der ihm vom Meer aus zuwinkt, und Aschenbach folgt ihm in den Tod. Hier haben wir eine Parallele zum Leopard von Lampedusa: Der Fürst stellt sich den Tod immer als eine schöne Frau vor, die er hofiert. Kurz vor seinem Tod sieht er sie am Bahnhof als eine elegante Reisende und will sie nun endgültig "erobern". Leider habe ich jetzt das Buch nicht da, um die Stelle nochmal genau zu vergleichen. Der Tod in Gestalt eines schönen, anmutigen Menschen, dem man letztendlich folgt, ist eine sehr angenehme Vorstellung.




    Wie schon in anderen Beiträgen angedeutet, ist der herrannahende Tod für jeden mit Entwürdigung verbunden, selbst für Aschenbach, der sich in seinem Leben immer extrem um Würde und Strenge bemüht hat. Er schafft es nicht diese aufrecht zu erhalten, sondern fügt sich willig in sein Schicksal. Der neue Zustand, der dionysische Rausch, ist zwar seinen vorherigen Bestrebungen entgegengesetzt, aber zugleich tief menschlich. Er wird in diesem Rausch zu seinem Ursprung zurückgeführt.


    Danke für die Erklärung. Jetzt verstehe ich das. Ich glaube, wir haben damals in der Schule das Thema auch besprochen, aber ich erinnere mich nur noch sehr vage daran. Bei Aschenbach, der sich immer extrem um Würde und Strenge bemüht hat, schlägt die Situation dann vor seinem Tod ins andere Extrem um. Er wird zum "falschen Jüngling", macht sich lächerlich; die ganze aufgestaute Ausgelassenheit will aus ihm heraus, er befindet sich in dem von dir genannten dionysischen Rausch und wird zu seinem Ursprung zurückgeführt.


    Viele Grüße
    thopas

  • Hallo, Ihr Lieben!
    Ich finde das sehr interessant, was Ihr hier so schreibt, aber ich kann nicht mit allem übereinstimmen.
    Woran ich im Umgang Aschenbachs mit dem Jüngling auch denken mußte, war Don Fabrizio, der den Tod hofierte wie Männer eine schöne Frau. Das ist eine Formulierung, die ich wohl nie mehr vergessen werde.
    Ich habe zwar noch nie davon gehört, dass Thomas Mann pädophil war, aber davon, dass er homophil gewesen sein soll. Seine Ehe war angeblich nur eine Farce. Und seine Gattin hätte auch eher den maskulinen Frauentyp vertreten. Diese Weisheit habe ich aus den "Literaturen", aber leider keine Ahnung mehr aus welcher Ausgabe.
    Der nächste Punkt, dem ich schon aus meinem Berufsethos heraus widersprechen muss, ist der, dass das Alter entwürdigend wäre. Das finde ich nun überhaupt nicht. Es gibt bewunderswerte alte Menschen, deren Einstellung zum Leben und zum Tod Vorbildwirkung hat. Für mich gehört es zu meinen täglichen Pflichten, auch alten und kranken Menschen mit Achtung zu begegnen. Wenn man sie nicht wie Unmündige behandelt, bleibt ihnen ihre Würde (zumindest von unserer Seite her) erhalten. Ihrem langsameren Lebensrhythmus muss man sich eben anpassen und ihre Wünsche ernst nehmen. Dann ist viel Konfliktpotential schon entschärft. Es sind natürlich nicht alle alten Menschen angenehme Zeitgenossen (viele junge leider auch nicht), aber wenn man sich nicht tyrannisieren läßt und auch nicht über sie hinweg Entscheidungen trifft, geht es meistens sehr gut.
    Ein weiterer Punkt ist Venedig selber. Ich assoziiere mit der Stadt in keinem Fall Alter und Tod. In mir weckt sie ganz andere Erinnerungen. Wir haben unsere Flitterwochen dort verbracht und bei der Fahrt mit der Gondel habe ich keinen Moment an den Tod gedacht. Außerdem war der Gondoliere äußerst romantisch veranlagt und hat uns sein gesamtes Liederrepertoire vorgetragen.
    Da meine Erinnerungen so anders sind, habe ich die Beschreibung von Thomas Mann (und auch Eure Gedanken dazu) als ganz neu empfunden. Aber ich kann mir sehr gut vorstellen, dass Venedig unter gewissen Umständen auch sehr düstere und unheimliche Seiten hat.
    Und für Aschenbach war es sein Bestimmungsort. Er wollte ihm ja anfangs noch entfliehen, aber sein "Todesengel" in Gestalt des schönen Knaben hat ihn nicht mehr losgelassen.
    Im Grunde genommen muss es aber ein schöner Tod sein, wenn man in einem Strandkorb friedlich entschläft, geleitet von der Gestalt, die man liebt, der man überallhin folgen möchte.
    Leider sieht die Realität sehr oft ganz anders aus, aber das gehört nicht zu dieser wunderschönen Novelle.


    Schönen Abend
    wünscht Euch


    Madeleine

    Einmal editiert, zuletzt von Madeleine ()