März 2008 - F. Scott Fitzgerald: The Great Gatsby / Der große Gatsby

  • Ich bin indessen auch beim Ende angelangt.
    Schön, dass sich Telemachos auch zu unserer Runde gesellt hat! :)
    Die Idee, sich während des Lesens Notizen zu machen, werde ich das nächste Mal auch beherzigen.


    enigma
    Super, dass du dich nochmal durch die deutsche Ausgabe von Schürenberg liest!
    Mich würde sehr interessieren, wie du die sprachlichen Unterschiede zwischen der englischen und der deutschen Ausgabe siehst.
    Ich hatte ja leider nur den Vergleich verschiedener Sätze, fande aber, dass der Unterschied eklatant war.
    Ich würde in Zukunft davon Abstand nehmen, das Buch nochmal auf Deutsch in die Hände zu nehmen.
    Siehst du das auch so, v.a. bzgl. der "ästhetischen Dichte"?
    Und wie war eigentlich der Film von 1974?


    Ich würde gerne nochmal die Frage aufwerfen, ob Gatsby den "american dream" erfüllte oder ob er sich ihm nur näherte.
    Ich bin nämlich der Ansicht, dass Gaisby an diesen Traum scheiterte und ihn nicht für sich erreichte. Und er bezahlte hoch dafür, nämlich mit dem Verlust seiner eigenen Identität (er hat ja die sagenumworbenen Geschichten um seine Herkunft angereichert, indem er sich nicht dem stellte, was über ihn gesagt wurde) und mit dem Verlust einer geliebten Person. Daisy ist zu Ende des Buches unwiederbringlich verloren für ihn. Auch zum Reichtum schaffte er es nur durch krumme Geschäfte und nicht durch ehrliche Arbeit. Der "american dream" wird ja oft verbunden mit den unbegrenzten Möglichkeiten, die man in den USA mit ehrgeiziger, ehrlicher Arbeit hat: Vom Tellerwäscher zum Millionär usw..


    Die Frage nach dem Sympathiefaktor finde ich spannend.
    Für mich ist Gastby nicht sympathisch, denn er steht nicht zu sich selbst. Er versinkt in seiner Einsamkeit und klammert sich verzweifelt an Daisy, um dieser zu entrinnen anstatt sich damit auseinanderzusetzen.. Am erschreckendsten finde ich eben, dass er sich nicht mit sich selber auseinander setzt. Mir scheint es, als lege er vielmehr Wert auf gesellschaftliche Normen (Ruhm+Reichtum) als auf seine eigenen Bedürfnisse. Zwar verfolgt er die Liebe zu Daisy, aber selbst hier wirkt er sehr unbeholfen. Er schickt vermehrt Nick vor, weil er nicht weiß, wie er sich verhalten soll. Schließlich kommt es mir so vor, als schare er die Menschen auf seinen Empfängen um sich, um sich selber zu vergessen. Seine eigene Vergangenheit inszeniert er, anstatt offen und ehrlich den Menschen gegenüber zu ihr zu stehen. Kein Wunder, dass er (fast) alleine stirbt.

  • Hallo Dionne!
    Schön, von Dir zu hören!


    Ich glaube schon, dass Jay Gatsby den amerikanischen Traum verwirklicht hat. Schließlich wurde er sehr reich, mit welchen Mitteln auch immer.
    Dass er sich seiner eigenen Identität nicht stellte, ist ja wieder etwas anderes, das tun auch viele andere nicht.
    Und es ist auch recht realistisch, dass er ein als in seinem Reichtum Einsamer geschildert wird. Da findet man schnell viele sog. "Freunde", die daran Anteil haben wollen.
    Da er ermordet wurde, kann man nicht erwarten, dass andere Menschen bei ihm waren. Sonst hätte der Mörder wahrscheinlich keine Chance gehabt.


    Mir ist er nicht wirklich unsympathisch. Er tut mir fast ein wenig leid. Nur diese Fixierung auf Daisy nehme ich ihm nicht ab. Da hätte er doch sicher viele andere Frauen haben können. Oder wollte er sie gerade deshalb, weil sie unerreichbar für ihn war?


    Jedenfalls öffnen sich viele Aspekte über ein Buch, wenn man mit anderen darüber diskutieren kann, auf die man alleine eher nicht gekommen wäre.
    Mir hat die LR jedenfalls sehr gefallen, und ich hoffe, wir treffen uns noch öfter bei anderer interessanter Lektüre.


    Liebe Grüße, Madeleine.

  • Mir ist er nicht wirklich unsympathisch. Er tut mir fast ein wenig leid. Nur diese Fixierung auf Daisy nehme ich ihm nicht ab. Da hätte er doch sicher viele andere Frauen haben können. Oder wollte er sie gerade deshalb, weil sie unerreichbar für ihn war?


    Ich glaube seine besondere Affinität zu Daisy rührt daher, dass sie ihn abgewiesen hat, weil er ein armer Schlucker war. Nun, wo er Geld hat(mehr als Tom), scheint es für ihn keinen Grund zu geben, warum sie nicht zu ihm kommen sollte. Daran geht er zugrunde, dass sein Lebensinhalt, die Jagd auf Daisy, nicht mit Geldmitteln, wie er geglaubt hatte, zu realisieren ist. Dass eben der American Dream nicht zu einem erfüllten Leben führt, weil er zwischenmenschliche Beziehungen nicht mit einfasst, das scheint mir einer der zentralen Punkte des Romans zu sein.

  • Hat mir gut gefallen, Deine Interpretation, Telemachos!
    Ich finde es nur schade, dass Fitzgerald diesem Charakter des Jay Gatsby nicht mehr Aufmerksamkeit geschenkt hat. Ich hatte überhaupt den Eindruck, dass er sich für den Roman nicht so viel Zeit genommen hat, wie es nötig gewesen wäre, um alle Facetten, die das Thema bietet, ausführlich zu behandeln.


    Und was kann man daraus lernen? Ohne die Liebe ist eben alles nichts.


    Liebe Grüße, Madeleine.

  • Die Schürenberg-Übersetzung habe ich durch, das Buch muss ich übermorgen in die Stadtbibliothek zurückgeben. Den Film habe ich noch nicht gesehen, der muss noch etwas warten :-)


    Telemachos
    Die Frage, ob ich Gatsby sympathisch finde, hatte ich mir so noch nicht gestellt, auch wenn Gatsby im 4. Kapitel (WS:69) Nick fragte, was dieser von ihm halte. Ich kann mir Gatsby nicht wirklich bildlich vorstellen, wie er aussieht; im Roman kann ich mich nicht an Beschreibungen seines Aussehens erinnern - auch wenn sich Robert Redford vom Buch-Cover und aus der Fernehzeitschrift ins Bild drängt. Es bleibt also bei einem recht unscharfen Bild. Es kursieren Gerüchte über ihn, die sich aber nicht bestätigen bzw. die nicht durch Zeugen bestätigt werden. Die Aussagen über ihn von Leuten, die ihn kennen (wie sein Vater oder Meyer-Wolfshiem, aus dem Schürenberg Wolfsheim macht), stimmen miteinander überein und auch mit dem, was Gatsby von sich selber erzählt; Beispiel: sein Oxford-Aufenthalt, von dem er offen sagt, dass es kein Studienaufenthalt gewesen sei. Insgesamt habe ich von ihm den Eindruck, dass er grundehrlich ist, jedenfalls nichts verschleiert oder beschönigt. Seine Liebe zu Daisy trägt schließlich dazu bei, dass ich ihn - wenn ich mich entscheiden muss - sympathisch finde, mehr als nur nicht-unsympathisch. Aber er ist zu schemenhaft beschrieben und die Verkrampftheit bei seinem ersten Wiedersehen mit Daisy finde ich nicht ganz überzeugend.


    Seine Liebe zu Daisy verstehe ich auch nicht als "Fixierung" auf sie, die ich ihm wiederum abnehmem würde, weil ich die Begründung, er hätte er doch sicher viele andere Frauen haben können, nicht schlüssig finde: Es sind nur 5 Jahre zwischen der Trennung und der Wiederbegegnung. Das ist nicht lang, erst recht nicht weil dazwischen ein Krieg liegt, während dem man als Mann ja vielleicht doch seiner Jugendliebe treu bleibt und keine Zeit für andere Abenteuer hat (s. Abbitte/Atonement vom Ian MacEwan) weil man mit Überleben genug zu tun hat. Daisy verschmäht ihn übrigens nicht weil er ein armer Schlucker ist, sondern weil er nicht direkt nach dem Krieg zu ihr zurückkommt (er ist ja aus Versehen nach Oxford versetzt worden) und sie inzwischen ungeduldig wurde und nicht mehr länger warten konnte. Erst nach der Wiederbegegnung beginnt Gatsby allmählich zu merken, dass Daisy den Mut zur Trennung von Tom nicht aufbringt und ihn, Gatsby, im Stich lassen wird. Bis dahin war er sich seiner Liebe für sie, und ihrer für ihn, sicher; das heißt auch, dass er über all die Jahre keinen Bedarf für andere Frauen gehabt hatte. Dass er dann noch den Autounfall auf sich nimmt, dass er nachts vor ihrem Haus steht um sie vor möglichen Handgreiflichkeiten Toms zu schützen, sind weitere Sympathiepunkte ...


    Ich finde auch nicht, dass seine Beschreibung hergibt, Gatsby ginge es um Ruhm (auf seinen Partys steht er praktisch immer neben sich, ist immer irgendwie geistesabwesend und nimmt das Partyfieber gar nicht wahr), eher schon um Reichtum, den er zu benötigen glaubt, um Daisy all die Annehmlichkeiten bieten zu können die sie braucht.


    @Dionne
    Von den vielen schönen Sätzen des Originals habe ich durchweg den Eindruck, dass Schürenberg keinen davon so gut übersetzt hat, dass das Deutsch auch nur annähernd so schön ist. Das ist natürlich für eine Verurteilung der Gesamtübersetzung überhaupt nicht ausreichend. Als ich die deutsche Fassung am Stück las, fiel sie mir nicht allzu unangenehm auf: keine besonderen Vorkommnisse (gut, im achten Kapitel ist da ein Satz, der misslungen ist, s. Materialband, WS:160; das dortige "versichern" muss vielleicht "versickern" heißen), insbesondere keine Höhepunkte, nicht wenig hölzerne Redewendungen. Aber trotzdem kommt inhaltlich wohl doch das meiste rüber. Da das Original nicht nur sprachlich "vom feinsten" ist sondern auch inhaltlich vielschichtig aber doch kaum zu fassen ist, dürfte eine "gute" Übersetzung kaum machbar sein.- Ich werde noch in den nächsten Wochen die Erstübersetzung von Maria Lazar aus dem Jahr 1928 lesen, die ich dann aber in die Bibliothek zurückgeben muss, da keine weitere Verlängerung möglich ist :-)


    Einen Aspekt in der Vielschichtigkeit bemerkte ich erst beim zweiten Durchgang: im letzten Kapitel lässt sich Nick über den Mittleren Westen und seinen Gegensatz zum Osten aus. Ich kenne die USA zu wenig, um das richtig einordnen zu können. Beim ersten Durchgang war mir nur negativ aufgefallen (WS:69), dass Gatsby auf Nicks Frage: "Wo im Mittelwesten?" mit "San Francisco." antwortet. Seit wann ist SF im Mittleren Westen? Gibt das einen Sympathie-Punktabzug für Gatsby?


    Trotzdem und alles in allem, ein bemerkenswertes Buch, so unscheinbar es daher kommt ...

  • Aus dem sechsten Kapitel:


    [hr] [hr]
    FSF:112f 'I'd a little rather not be the polo player,' said Tom pleasantly, 'I'd rather look at all these famous people in - in oblivion.'
    Daisy and Gatsby danced. I remember being surprised by his graceful, conservative fox-trot - I had never seen him dance before. Then they sauntered over to my house and sat on the steps for half an hour, while at her request I remained watchfully in the garden. 'In case there's a fire or a flood,' she explained, 'or any act of God.'
    Tom appeared from his oblivion as we were sitting down to supper together. 'Do you mind if I eat with some people over here?' he said. 'A fellow's getting off some funny stuff.'
    'Go ahead,' answered Daisy genially, 'and if you want to take down any addresses here's my little gold pencil.' ... She looked around after a moment and told me the girl was 'common but pretty', and I knew that except for the half-hour she'd been alone with Gatsby she wasn't having a good time.
    ML:149f "Ich möchte eigentlich doch lieber nicht auf die Dauer den berühmten Polospieler vorstellen", sagte Tom scherzend, "ich möchte alle diese berühmten Leute viel lieber aus meinem Inkognito heraus betrachten."
    Daisy und Gatsby tanzten. Ich erinnere mich noch, wie sehr sein anmutiger und etwas altmodisher Foxtrott mich überraschte - ich hatte ihn nämlich noch nie vorher tanzen sehen. Dann schlenderten sie zu meinem Haus hinüber, wo sie eine halbe Stunde lang auf der Treppe saßen, während ich auf ihr Ersuchen hin im Garten Wache hielt. "Falls es eine Feuersbrunst oder eine Überschwemmung geben sollte," setzte sie hinzu, "oder sonst irgendeine Gottesstrafe."
    Als wir eben miteinander beim Essen saßen, tauchte Tom plötzlich aus seinem Inkognito auf. "Ihr seid doch nicht böse, wenn ich mit ein paar Leuten dort drüben esse?" sagte er. "Ein Bursche erzählt gerade ein paar so nette Witze."
    "Geh nur," sagte Dausy vergnügt, "und wenn du dir ein paar Adressen aufschreiben möchtest, hier hast du meinen goldenen Bleistift ..." Einen Augenblick später schaute sie sich um und sagte mir, daß das Mädchen "hübsch und gewöhnlich" sei, und ich spürte, daß sie sich, mit Ausnahme der halben Stunde, die sie mit Gatsby zusammen war, auch nicht ein bißchen wohlgefühlt hatte.
    WS:109f "Ich möchte doch lieber nicht als 'der Polospieler' vorgestellt werden", sagte Tom gutmütig, "sondern alle diese berühmten Leute nur so ansehen - nur so, ohne daß man von mir Notiz nimmt."
    Daisy und Gatsby tanzten miteinander. Ich weiß noch, wie sehr mich sein anmutiger, etwas altmodischer Foxtrott überraschte. Ich hatte ihn bis dahin noch nie tanzen sehen. Dann stahlen sie sich zu meinem Haus hinüber und saßen dort eine halbe Stunde lang auf der Türschwelle, während ich auf ihre Bitte im Garten Wache hielt. "Falls es eine Feuersbrunst oder eine Überschwemmung geben sollte oder sonst ein Gottesgericht", erläuterte Daisy.
    Tom tauchte aus seiner Vergessenheit auf, als wir uns gerade zum Souper niederließen. "Hast du etwas dagegen, wenn ich mich drüben zu den Leuten setze?" fragte er. "Da ist einer, der das tollste Zeug erzählt."
    "Geh nur hin", antwortete Daisy freundlich, "und wenn du dir eine Adresse notieren willst - hier ist mein kleiner goldener Bleistift."
    Nach einer Weile hielt sie Ausschau und sagte mir, das Mädchen sei "etwas gewöhnlich, aber hübsch"; da wußte ich, daß ihr, abgesehen von der halben Stunde mit Gatsby allein, nicht wohl zumute war.
    [hr] [hr]
    FSF:114 She was appalled by West Egg, this unprecedented 'place' that Broadway had begotten upon a Long Island fishing village - appalled by its raw vigour that chafed under the old euphemisms and by the too obstrusive fate that herded its inhabitants along a short-cut from nothing to nothing. She saw something awful in the very simplicity she failed to understand.
    ML:152 Sie war entsetzt über West Egg, über diesen "unmöglichen Ort", wo man einen neuen Broadway in ein Fischerdorf auf Long Island verlegt hatte - sie war entsetzt über die rohen Triebe, die hier unter den altgewohnten schönen Redensarten sich austobten, über das grausame Schicksal, das die Bewohner dieses Orts immer wieder für eine kurze Weile von nichts zu nichts trieb. Sie sah in der absoluten Primitivität, die sie nicht verstehen konnte, etwas ganz Fürchterliches.
    WS:111f Sie war entsetzt über West Egg, diesen unerhörten 'Treffpunkt der großen Welt', den der Broadway in diesem harmlosen Fischerdörfchen auf Long Island ins Leben gerufen hatte; entsetzt über die Roheit und Gier, die unter den verschlissenen schönen Phrasen zum Vorschein kam, und entsetzt über die fatale Zwangsläufigkeit, mit der seine Bewohner auf kürzestem Wege von einem Nichts ins nächste Nichts getrieben wurden. Diese Beschränktheit flößte ihr Angst ein und machte sie ratlos.
    [hr] [hr]
    FSF:118 Through all he said, even through his appalling sentimentality, I was reminded of something - an elusive rhythm, a fragment of lost words, that I had heard somewhere a long time ago. For a moment a phrase tried to take shape in my mouth and my lips parted like a dumb man's, as though there was more struggling upon them than a wisp of startled air. But they made no sound, and what I had almost remembered was uncommunicable forever.
    ML:157f Bei allem, was er sagte, und mochte es noch so entsetzlich sentimental sein, mußte ich immer nur an eines denken - an eine entschwundene Melodie, ein paar verlorene Worte, die ich einmal vor langer Zeit irgendwo gehört hatte. Einen Augenblick lang bildete sich schon ein Satz in meinem Munde, meine Lippen öffneten sich wie bei einem Taubstummen, als ob noch mehr als der bloße Lufthauch auf ihnen läge. Aber mein Mund blieb lautlos, und für immer entschwand, was die Schwelle meines Bewußtseins beinahe schon überschritten hatte.
    WS:116 Alles, was er sagte, auch noch seine erschreckende Sentimentalität, rührte etwas in mir auf - einen unfaßlichen Rhythmus, Bruchstücke längst vergessener Worte, die ich irgendwo vor langer Zeit gehört hatte. Einen Augenblick wollte ein Satz in meinem Munde Gestalt annehmen, und meine Lippen öffneten sich wie bei einem Taubstummen, als sei es nicht nur der gestauchte Lufthauch, mit dem ich zu ringen habe. Aber die Worte wurden nicht zum Klang, und was in mir an die Grenze des Erinnerns gelangte, blieb unsagbar in alle Ewigkeit.
  • Aus dem achten Kapitel:


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    FSF:162 When I passed the ashheaps on the train that morning I had crossed deliberately to the other side of the car. I supposed there'd be a curious crowd around there all day with little boys searching for dark spots in the dust, and some garrulous man telling over and over what had happened, until it became less and less real even to him and he could tell it no longer, and Myrtle Wilson's tragic achievement was forgotten.
    ML:218f Als ich an diesem Morgen mit der Bahn an dem Aschenhaufen vorbeigefahren war, hatte ich mich absichtlich gleich an die entgegengesetzte Seite des Wagens gesetzt. Ich dachte mir nämlich, daß da sicher den ganzen Tag lang eine neugierige Menge herumstehen würde, daß kleine Jungen im Straßenstaub nach dunklen Flecken suchen würden und daß sicher ein geschwätziger Mensch ununterbrochen erzählte, was geschehen war; so lange, bis es sogar ihm selbst immer weniger und weniger wahrscheinlich vorkam, bis er nicht länger davon sprechen konnte und Myrtle Wilsons tragisches Ende der Vergessenheit anheimfiel.
    WS:160 Als ich an jenem Morgen mit dem Zug an den Aschenbergen vorbeigefahren war, hatte ich absichtlich an der anderen Seite aus dem Fenster geblickt und es vermieden, nach Wilsons Garage Ausschau zu halten. Ich vermutete dort den ganzen Tag eine neugierige Menschenmenge. Kleine Jungen würden im Straßenstaub nach den dunklen Blutflecken suchen, und irgendein geschwätziger Alter würde wieder und wieder erzählen, wie alles gekommen war, bis das Ganze für ihn immer unwirklicher werden und seine Erzählung versichern würde, so daß schließlich Myrtle Wilsons tragisches Ende in Vergessenheit geriete.
    [hr] [hr]
    FSF:168 It was after we started with Gatsby toward the house that the gardener saw Wilson's body a little way off in the grass, and the holocaust was complete.
    ML:228 Erst nachdem wir mit Gatsby auf das Haus zugegangen waren, sah der Gärtner etwas abseits im Grase Wilsons Leichnam liegen; und der Hexenkessel war fertig.
    WS:167 Erst als wir uns mit Gatsby dem Hause zu bewegten, entdeckte der Gärtner ein wenig abseits im Grase die Leiche Wilsons, und damit war das Blutopfer vollbracht.



    Aus dem neunten Kapitel:


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    FSF:182f When we pulled out into the winter night and the real snow, our snow, began to stretch out beside us and twinkle against the windows, and the dim lights of small Wisconsin stations moved by, a sharp wild brace came suddenly into the air. We drew in deep breaths of it as we walked back from dinner through the cold vestibules, unutterably aware of our identity with this country for one strange hour, before we melted indistinguishably into it again.
    That's my Middle West - not the wheat or the prairies or the lost Swede towns, but the thrilling returning trains of my youth, and the street lamps and sleigh bells in the frosty dark and the shadows of holly wreaths thrown by lighted windows on the snow. I am part of that, a little solemn with the feel of those long winters, a little complacent from growing up in the Carraway house in a city where dwellings are still called through decades by a family's name. I see now that this has been a story of the West, after all - Tom and Gatsby, Daisy and Jordan and I, were all Westerners, and perhaps we possessed some deficiency in common which made us subtly unadaptable to Eastern life.
    ML:247f Wenn wir dann in die Winternacht hinausfuhren und der echte Schnee, unser Schnee, draußen in weiten Strecken zu fallen begann und an den Scheiben blinkte und wenn die trüben Lichter der kleinen Bahnhöfe von Wisconsin sich an uns vorbeibewegten, dann schien die ganze Luft plötzlich wie durchdrungen von einer heftigen und wilden Spannung. Und wir atmeten, wie wir so von dem Speisewagen durch die kalten offenen Gänge gingen, diese Spannung in langen Zügen ein, indem wir uns unserer Zusammengehörigkeit mit diesem Lande ganz unsagbar tief bewußt wurden, eine seltsame Stunde lang, bis wir dann wieder unmerklich und selbstverständlich mit ihm verschmolzen waren.
    Das ist mein Mittelwesten - und darunter verstehe ich nicht die Weizenfelder, die Prärien oder die verlorenen schwedischen Städte, sondern die wiederholte aufregende Rückkehr in dieses Land meiner Jugend, die Straßenlaternen, die Schlittenglocken in der frostigen Dunkelheit und die Schatten der Weihnachtskränze, die aus den erleuchteten Fenstern in den Schnee hinausfielen. Ich bin ein Teil dieses Landes, fühle mich seinen langen Wintern verbunden und bin es recht zufrieden, daß ich in einer Stadt, wo jedes Heim Jahrzehnte hindurch den Namen einer Familie trägt, im Haus der Carraways aufgewachsen bin. Und ich erkenne jetzt, daß das alles eigentlich eine Geschichte aus dem Westen gewesen ist, daß nach alledem Tom, Gatsby, Daisy, Jordan und ich doch alle Menschen aus dem Westen waren und daß wir alle vielleicht eine gemeinsame Unfähigkeit besaßen, uns dem Leben im Osten anzupassen.
    WS:182 Wenn wir dann in den Winterabend hinausfuhren, die trüben Lichter kleiner Wisconsin-Bahnhöfe an uns vorbeisausten und der wirkliche Schnee, unser heimatlicher Schnee, sich zu beiden Seiten auf den Feldern hinbreitete und in Flocken am Coupéfenster glitzerte, dann spürte man plötzlich ein scharfes wildes Ziehen in der Luft. Wir atmeten sie in tiefen Zügen, wenn wir vom Speisewagen über die offenen Plattformen zu unserem Abteil zurückgingen. Das war die Stunde, in der uns das Gefühl unsäglichen Einsseins mit diesem Lande seltsam überkam, ehe wir dann wiederum unauffällig mit ihm verschmolzen.
    Das ist mein Mittelwesten - nicht die Weizenfelder, die Prärien oder die verstreuten Schwedenstädtchen, sondern die erregenden Heimkehrzüge meiner Jugend, die Straßenlaternen und Schlittenglöckchen in der frostigen Dunkelheit und die Schatten der Weihnachtskränze vor den erleuchteten Fenstern im Schnee. Mit alledem fühlte ich mich verbunden; außerdem halte ich mir auf die langen strengen Winter etwas zugute und auch darauf, daß ich im Carraway-Haus aufgewachsen bin, in einer Stadt, wo die Häuser noch nach Jahrzehnten den Namen einer Familie tragen. Und jetzt sehe ich auch, daß ich im Grunde eine Geschichte aus dem Westen erzählt habe, denn schließlich stammen wir alle - Tom und Gatsby, Daisy, Jordan und ich - aus dem Westen und hatten wahrscheinlich einen gewissen Defekt miteinander gemein, der uns, genaugenommen, für das Leben im Osten untauglich machte.
    [hr] [hr]
    FSF:186 They were careless people, Tom and Daisy - they smashed up things and creatures and then retreated back into their money or their vast carelessness, or whatever it was that kept them together, and let other people clean up the mess they had made ...
    ML:252f Tom und Daisy, sie waren ja im Grunde genommen so gleichgültig - sie griffen nach Dingen und Menschen und zogen sich dann wieder in ihr Geld oder ihre unendliche Gleichgültigkeit oder was sonst sie zusammenhalten mochte, zurück und ließen andere Leute in der Unordnung, die sie verschuldet hatten, aufräumen ...
    WS:185 Sie waren eben leichtfertige Menschen, Tom und Daisy - sie zerschlugen gedankenlos, was ihnen unter die Finger kam, totes und lebendiges Inventar, und zogen sich dann einfach zurück auf ihren Mammon oder ihre grenzenlose Nonchalance oder was immer das gemeinsame Band sein mochte, das sie so unverbrüchlich zusammenhielt, und überließen es anderen, den Aufwasch zu besorgen ...
    [hr] [hr]
    FSF:187 On my last night, with my trunk packed and my car sold to the grocer, I went over and looked at that huge incoherent failure of a house once more. On the white steps an obscene word, scrawled by some boy with a piece of brick, stood out clearly in the moonlight, and I erased it, drawing my shoe raspingly along the stone. Then I wandered down to the beach and sprawled out on the sand.
    ML:254 In der letzten Nacht, als ich meinen Koffer schon gepackt und mein Auto dem Kaufmann verkauft hatte, ging ich noch einmal hinüber und betrachtete mir das unsinnige und riesige Ungetüm von einem Haus zum letztenmal. Ein schmutziges Wort, das einer der Jungen mit einem Stück Ziegel an die weiße Treppe geschrieben hatte, leuchtete klar im hellen Mondlicht, und ich rieb meinen Schuh so lange daran, bis es verwischt war. Dann ging ich den Strand entlang und legte mich in den Sand.
    WS:186 In der letzten Nacht, als ich meine Koffer gepackt und mein Auto an den Gemischtwarenhändler im Ort verkauft hatte, ging ich noch einmal hinüber und warf einen letzten Blick auf diese gewaltige, sinnlose Mißgeburt von einem Haus. Auf den weißen Stufen stand, im Mondschein deutlich zu lesen, ein unanständiges Wort, das irgendein Junge mit einem Stück Ziegel geschrieben hatte. Ich scheuerte mit meinem Schuh so lange darüber, bis es ausgelöscht war. Dann ging ich hinunter an der Strand und streckte mich im Sande aus.
  • Inzwischen habe ich auch die erste deutsche Übersetzung von Maria Lazar durch, die 1928 im "Verlag von Th. Knaur Nachf." in Berlin W 50 erschien und für 1 Mark zu kaufen war.


    Insgesamt gesehen ist diese Übersetzung nicht besser als die von 1953 und zeigt manchmal gewisse Schwierigkeiten der Übersetzerin entweder mit dem englischen Original oder der deutschen Wiedergabe. Sie benutzt an zwei Stellen Fußnoten, um englische Begriffe zu erklären, statt wie Schürenberg eine deutsche Übersetzung zu suchen: am Anfang des 4. Kapitels erklärt sie "Bootlegger" (ML:87) mit "Amerikanische Bezeichnung für den seit der Prohibition einträglichen Beruf des geheimen Alkoholhandels." und gegen Ende des 5. Kapitels "Drugstores" (ML:154) mit "Drugstore = eine Art Drogerie, in der neben medizinischen Waren auch alkoholische Getränke (neuerdings nur heimlich), Benzin usw. verkauft werden." Auch das Längenmaß "Yard" lässt sie einmal unübersetzt, wo Schürenberg ein "Meter" daraus macht (Angang 2. Kapitel, ML:37 bzw. WS:28), ein anderes Mal übersetzt sie "Elle", bei den Augen von Doctor T. J. Eckleburg:


    FSF:29 - "their retinas are one yard high"
    ML:35 - "ihre Netzhaut allein ist eine Elle lang"
    WS:27: - "allein ihre Pupillen haben einen Meter Durchmesser"


    Oft bleibt sie enger am Original, wie eben - richtigerweise - mit der Netzhaut, oder: die "ashheaps" (FSF:30) sind "Aschehaufen" (ML:37), nicht die "Schutthalde" (WS:28) von Schürenberg; und immer wieder etwas schief und steif (obwohl Schürenberg hier auch nicht viel besser ist):


    FSF:31- "when the proprietor himself appeared in the door of an office, wiping his hands on a piece of waste. He was a blond, spiritless man, anemic, and faintly handsome."
    ML:38 - "da erschien der Eigentümer des Geschäfts selbst in der Tür eines Nebenraumes und wischte sich eben die Hände an irgendeinem Fetzen ab. Er war ein blonder, anämischer, unlebendiger Mensch, kaum hübsch zu nennen."
    WS:29 - "Da erschien, seine Hände an einem Lappen abwischend, der Eigentümer selbst in der Tür seines Büros, ein leidlich gut aussehender blonder, energieloser Mann, der offenbar an Blutarmut litt."


    Besser an der Erstübersetzung finde ich, dass man ihr ihr Alter ansieht, Lazar benutzt heute "veraltete" Ausdrücke: damals war eine "pneumatic mattress" (FSF:167) eben noch keine Luftmatratze, sondern eine "pneumatische Matratze" (ML:226), oder als im 5. Kapitel Gatsby kurz einen Telefonanruf beantwort und dann auflegt: "He rang off" (FSF:101), was damals vielleicht wirklich so hieß: "Er läutete ab" (ML:133). Und in der Telefonvermittlung saßen noch "Beamte". Andererseits bedeutete "jemanden anrufen" damals nicht automatisch "antelefonieren":


    FSF:27 - "I decided to call him." (Als Nick abends von seinem Haus aus das erstemal Gatsby sah)
    ML:34 - "Ich beschloß, ihn anzurufen."
    WS:26 - "Ich entschloß mich, ihn anzusprechen."


    An wenigstens einer Stelle aber blitzt bei Lazar ein ungleich besseres Sprachgefühl durch als bei Schürenberg: s. Materialordner, 5. Kapitel:


    FSF:94 - "Amid the welcome confusion of cups and cakes"


    Die vielen K-Laute, die beiden knackigen Einsilber hinter dem u-betonten, weich verschliffenen "confusion" und dem schwungvoll vornbetonten "welcome", sind kaum zu übersetzen. Schürenberg schlägt mit der Brechstange zu und hinterlässt den Trümmerhaufen des "willkommenen Durcheinander mit den Teetassen und den Kuchenstücken" (WS:91), während Lazar immerhin sich etwas löst vom Wort hin zum Laut des "willkommenen Wirrwarr von Tassen und Kuchen" (ML:123). Sie traut sich zwar nicht das freier übersetzte "Kaffee und Kuchen" zu, wählt aber das viel besser passende Wirrwarr. "Chaos" ist vielleicht zu stark, aber "das willkomene Chaos von Kaffee und Kuchen" käme wenigstens lautlich etwas näher an die viele K's und den Originalrhythmus heran ...


    Bei Gelegenheit lese ich auch noch die neue Übersetzung von 2006. Vorher aber sehe ich mir den Film an, und zwar erst die Fassung von 1949 auf Englisch, die ich kürzlich auftat (pando.com machts möglich), dann die von 1974 auf Deutsch. Aber damit lasse ich mir noch ein paar Wochen Zeit.