Fernando Pessoa: Das Buch der Unruhe des Hilfsbuchhalters Bernardo Soares

  • Hallo zusammen!


    Ich habe nun dieses Buch in der neuesten Ausgabe (Amman/Fischer) gelesen. Isenschmid nennt es in der Verlagswerbung ein Jahrhundertbuch, und ich muss ihm recht geben.


    Pessoa, der für seine verschiedenen Textsorten verschiedene Schriftsteller-Ichs ausgesucht hat, hat für das Buch der Unruhe den Hilfsbuchhalter Bernardo Soares auserkoren. Soares schreibt tagebuchartige Sequenzen, meist sehr kurze. Es ist tatsächlich ein sehr unruhiges und unsystematisches Sinnieren über die Welt, den Menschen, die Liebe und viele andere Phänomene. Das Wetter (Regen, Sonnenschein und vor allem Gewitterausbrüche) spielt immer wieder in Soares' Gedankenwelt hinein. Ausser ein paar Personen an Soares' Arbeitsplatz kommen praktisch keine Menschen vor, v.a. keine Frauen. Oder die dann nur als Konstrukte, Phantasmen. Soares ist ein Einzelgänger in der Grossstadt Lissabon - ein lebender Toter, wie er sich selber nennt.


    Immer wieder versucht Soares in seinen Aufzeichnungen, Unbeschreibliches zu beschreiben, indem er Paradoxa auf Paradoxa häuft, und letztlich nur Wittgenstein bestätigt: "Worüber man nicht sprechen kann, darüber soll man schweigen." Soares schweigt, dies aber äusserst beredt.


    Ein Jahrhundertbuch? Ja. Es gehört in die Klasse des Ulysses, der Recherche du temps perdu, des Gehülfen - hat von allen etwas und ist doch völlig eigenständig.

    Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen? - Karl Kraus

  • Hallo sandhofer,



    Ein Jahrhundertbuch? Ja.


    einverstanden, allerdings mit kleinen Einschränkungen. Mir ging die weinerliche Dekadenz zum Teil ein wenig auf die Nerven. Als Reflektionen eines Einsamen ist das "Buch der Unruhe" natürlich äußerst lesenswert, wenn auch nur in kleinen Dosen. Sprachlich bewegt Pessoa sich auf höchstem Niveau, so dass ich ihm den dekadenten Touch gern verzeihe. Der Vergleich mit Werken wie "Ulysses" und "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit" wird gern gezogen. Auch Musils "Mann ohne Eigenschaften" taucht für gewöhnlich als Messlatte für Pessoas Werk auf. Neu ist mir in Deiner Aufzählung der Vergleich mit Robert Walsers "Gehülfen". Darauf wäre ich nicht gekommen. Vielleicht lohnt es sich, Walser unter diesem Gesichtspunkt noch einmal aufzublättern ...


    Danke für die interessante Anregung!


    Es grüßt


    Sir Thomas

  • Hallo!



    einverstanden, allerdings mit kleinen Einschränkungen. Mir ging die weinerliche Dekadenz zum Teil ein wenig auf die Nerven. Als Reflektionen eines Einsamen ist das "Buch der Unruhe" natürlich äußerst lesenswert, wenn auch nur in kleinen Dosen. Sprachlich bewegt Pessoa sich auf höchstem Niveau, so dass ich ihm den dekadenten Touch gern verzeihe. Der Vergleich mit Werken wie "Ulysses" und "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit" wird gern gezogen.


    Diesen Vergleich halte ich für etwas überzogen. Man kann aber darüber diskutieren :breitgrins:


    CK


  • Diesen Vergleich halte ich für etwas überzogen. Man kann aber darüber diskutieren :breitgrins:


    Insofern als ich Ulysses, da zu intellektuell geschrieben, nur bedingt für ein ganz grosses Werk halte ... :breitgrins: - das Buch der Unruhe bringt mit der absoluten Subjektivität und Handlungsarmut m.M.n. mehr :zwinker:

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  • Liebe Pessoa-Freunde,


    nach der wunderbaren "Leoparden"-Leserunde habe ich seit langem mal wieder zum "Buch der Unruhe" gegriffen. Irgendwie fühlte ich mich durch Lampedusa an Pessoa erinnert. "Das Buch der Unruhe" in einem Stück zu lesen, war mir bisher versagt - und wird es auch weiterhin bleiben. Nach 20 - 30 Seiten geht mir jedesmal der etwas larmoyante Stil Pessoas leicht auf den Wecker. Dies ist deshalb auch nicht der Versuch, die gescheiterte Leserunde beleben zu wollen. Ich wollte lediglich einen neuen Ordner vermeiden.


    Fazit: In kleinen, appetitlichen Häppchen ist es immer wieder ein Genuß, der traurigen Stimme Pessoas zu lauschen.


    Viele Grüße


    Sir Thomas

  • Ich wollte lediglich einen neuen Ordner vermeiden.


    Zum einen lieben wir neue Threads - zum andern gab's den schon ... ;) :winken:


    Und "gescheitert" ist die Leserunde noch lange nicht; der Vorschlag ruht vorläufig. Es gab hier schon Vorschlägen, die sich nach 3, 4 Jahren erst realisierten ... :breitgrins:

    Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen? - Karl Kraus


  • Die einzelnen Texte oder Textfragmente sind nummeriert, was den Austausch vereinfacht. Ein umfangreicher Anhang mit Briefen und weiteren Texten Pessoas sowie Nachworte der Übersetzerin und Egon Ammanns runden diese Ausgabe ab. Die Übersetzung stammt von Inés Koebel.


    Gut, dass Du das erwähnst. Es wäre mir sonst nicht aufgefallen ... :breitgrins:


    LG


    Tom


  • Hallo


    ich weiß nicht ob Pessoas Stil larmoyant zu nennen ist. Vielleicht ist er einer der letzten Romantiker, vielleicht ein Seher, vielleicht ein Verzweifelter, vielleicht ein sich selbst Unbequemer, vielleicht ist er auch zuviel um nur eines zu sein, ich weiß es nicht zu sagen.
    Ich habe ein Jahr lang gewartet um mit dem Buch zu beginnen, vielleicht in der Art wie ich damals lange gewartet habe, um Nietzsche endlich zu lesen, die Erwartungshaltungen sind oft groß und dann...


    Pessoa ist ein Einzigartiger, wenn man sich auf ihn einlässt sollte man wissen, es ist niemals ein Buch - auf einem "Ritt" zu lesen, da gebe ich obigen Kommentaren in dieser Richtung vollkommen recht, aber es ist immer ein Buch das man mehrmals lesen wird.
    Und nun überlege ich: Ist Pessoa ein Atheist oder ein Auserwählter? Ist Pessoa ein Trauriger oder in sich Getrösteter? Ist Pessoa ein Verlorener oder einer dieser Begnadeten, die er in einer Passage selbst erwähnt:


    "Wie alle großen Verfluchten werde ich immer fühlen, das denken mehr wert ist als leben."


    Ja, ich jedenfalls meine - er zählt zu diesen Großen, zählt für mich zu den Bestraften, den Erleuchteten, den Leidenden die um ihr auserwähltes Schicksal wussten. Unanbdingbar.


    Und wenn Pessoa schreibt:


    "Die Literatur ist die angenehmste Art, das Leben zu ignorieren."


    So steckt dahinter eine große (für uns einfache) Wahrheit, die gerade die Userinnen und User dieses Ausnahmeforums am besten nachvollziehen können.


    Pessoa lesen heißt für mich auch, während des Lesens sich wiederfinden, sich besser verstehen lernen, mit sich und den Menschen wieder behutsamer umgehen, kurz - sein Selbst dann wieder einmal von den gefährlichen Schlacken seines "Unterichs" zu befreien.


    Nun denn, was ich in Pessoa hinein oder herauslese, das mag ein anderer Leser wieder ganz anders erleben, und das ist dann doch gut so. Ich jedenfalls habe auf meinem Lesetisch schon den nächsten Pessoa liegen: Antonio Moira, die Rückkehr der Götter. Und ich freue mich besonders darauf, dann wieder ein Buch lesen zu dürfen für das man viel, sehr viel Zeit benötigt und das man gewiss immer wieder einmal lesen wird.


    Entschuldigt bitte meinen grenzenlosen Enthusiasmus, aber man freut sich eben, das es Menschen wie Pessoa, wie Hölderlin, wie Goethe, wie Benn, wie... gibt. Schriftsteller dann, die uns das Leben auf diesem seltsamen Planeten ein wenig, oder ein wenig mehr, verstehbarer und damit erträglicher machen!


    Liebe Grüße,


    Peter

  • Hallo Peter,


    schön, mal wieder etwas von Dir zu lesen - und dann auch noch Gedanken über Pessoa! Ich hätte es sehr begrüßt, wenn Du an unserer mittlerweile abgeschlossenen, teilweise recht stockenden Leserunde teilgenommen hättest. Wenn ich mich allerdings recht erinnere, ziehst Du das "egomanische" Lesen vor, nicht wahr?


    Viele Grüße an die Ostseeküste (stimmt das noch?)


    Tom

  • à propos JAHRHUNDERTBUCH -
    ...es gab mal ein kleines Taschenbuch, herausgegeben von der unsäglichen Iris Radisch - aber das Vorwort muss man ja nicht lesen - "Mein Jahrhundertbuch, in dem viele Autoren ein solches Werk des zwanzigsten Jahrhunderts benannten (ISBN 3-518-45554-0)...
    Leider wurde Pessoa nicht genannt (ich hätte ihn mit erwähnt),
    aber u.a.
    Robert Musil, Mann ohne Eigenschaften
    einige Werke von Kafka, Proust, Hopkins, Sartre, Camus, T. Mann, Brecht usw.,
    sogar ein paar philosophische Werke wie Heideggers "Sein und Zeit" oder "Dialektik der Aufklärung" von Horkheimer/Adorno...
    (ich persönlich hätte noch unbedingt Johnsons "Jahrestage" und Peter Weiss' "Die Ästhetik des Widerstands" genannt)...


  • Hallo Tom,


    ja, Ostsee stimmt noch!
    Mit den Leserunden zu solch psychologisch etwas "anderer gearteten" Autoren ist es immer so ein seltsam Ding, über einen Abschnitt könnte man ganze Bücher schreiben und ein anderer wieder ist einfach nur ein romantische Reminiszens an sich selbst. (Mal fragen - ob man noch lebt.)


    Ähnlich wie bei Nietzsche, vielleicht sollte man ein literarischer "Freak" sein, um das alles durchzuhalten.


    Aber Pessoa kommt wieder, auch und gerade in diesem Forum!


    Liebe Grüße,


    Peter