Mai 2007 - Rabelais: Gargantua und Pantagruel

  • [...] Panurge langweilt mich, Kapitel 16 mutet wie eine kindische Aufzählung von Pennälerstreichen an [...]


    Ich erinnere mich, dass ich ähnlich auf eines der Vorbilder von Rabelais reagiert habe, den Ulenspiegel. Zum Glück ändert ja Rabelais seine Konzeption von Buch zu Buch und gerade Panurge wird im nächsten Buch ein völlig anderer sein ... :zwinker:

    Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen? - Karl Kraus

  • Hallo zusammen,


    habe mich regelrecht dazu überwunden das zweite Buch anzufangen und muss zugeben, dass ich überhaupt kein Vergnügen am Lesen habe(bin am 12. Kapitel). Gargantua konnte ich noch so manches abgewinnen, doch schon bei der Bescheibung der Geburt von Pantagruel konnte ich nur gähnen. Als es wieder mit all den seitenlangen Aufzählungen des gargantuaischen Stammbaumes weiteging, dachte ich, nein, nicht schon wieder und von da an habe ich nur noch quer weitergelesen.


    Habe ihn jetzt mal wieder zur Seite gelegt da ich Rabelais im Moment nur mit Lesestress verbinde und das soll ja kaum der Sinn einer meiner liebsten Beschäftigungen sein, werde weiterhin eure Kommentare verfolgen, vielleicht übermannt mich irgendwann die Lust, hoffentlich nicht erst ad kalendas graecas :zwinker:


    liebe Grüße
    donna

  • Hallo donna!


    Habe ihn jetzt mal wieder zur Seite gelegt da ich Rabelais im Moment nur mit Lesestress verbinde und das soll ja kaum der Sinn einer meiner liebsten Beschäftigungen sein, werde weiterhin eure Kommentare verfolgen, vielleicht übermannt mich irgendwann die Lust, hoffentlich nicht erst ad kalendas graecas :zwinker:


    Schade. Manchmal ist es halt nicht die richtige Zeit für ein Buch.


    Persönlich halte ich das Tiers Livre für das beste. (Falls Dich das zum Weiterlesen ermuntern könnte :zwinker: .) Rabelais kommt nach dem Gargantua zusehends weg von seinen Ulenspiegeleien und Münchhausiaden; die Thematik des Riesentums wird z.B. auch völlig vernachlässigt - in den späteren Werken gleicht Pantagruel viel mehr dem Artus der klassischen höfischen Epen, der im Hintergrund bleibt und seine Leute die Abenteuer vollziehen lässt, während er nur kommentiert. Lukian als Quelle bzw. Vorbild tritt ebenfalls zurück; bzw., wo er erhalten bleibt, werden die Geschehnisse alchimistisch-symbolisch überhöht.

    Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen? - Karl Kraus

  • Hallo zusammen,


    ich bin jetzt im 20. Kapitel des 3. Buchs. Dieses Buch ist stark von Dialogen zwischen Pantagruel und Panurge geprägt, die die hohe Bildung Rabelais hervorheben und von diesem Aspekt her interessant sind, allerdings auch recht langatmig sind. Die Münchhausengeschichten und der teilweise starke Blödsinn des zweiten Buchs hatten mir weitaus besser gefallen.


    Zwischen Pantagruel und Panurge gibt es völllig unterschiedliche Auslegungen von Prophezeihungen und zur Weissagung zweckentfremdeten Texten, vor allem Panurge bringt Auslegungen an, die wohl seiner Wunschvorstellung, aber dem glatten Gegenteil der Aussage des Textes entsprechen. Ich kann mir gut vorstellen, dass Rabelais dadurch auf die teilweise recht unterschiedlichen Bibelauslegungen der Reformatoren in seiner Zeit und die dadurch entstandenen Streitigkeiten anspielt.


    Viele Grüße,
    Zola

  • Ich kann mir gut vorstellen, dass Rabelais dadurch auf die teilweise recht unterschiedlichen Bibelauslegungen der Reformatoren in seiner Zeit und die dadurch entstandenen Streitigkeiten anspielt.


    So, wie wohl auch auf z.T. recht abstruse Auslegungen auch der Scholastiker bzw. der Sorbonne, vermute ich.


    Das Tiers Livre ist recht handlungsarm; da gebe ich Dir recht. Dennoch mochte ich es im Nachhinein irgendwie am besten. Rabelais der Denker ist hier zur Höchstform aufgelaufen.

    Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen? - Karl Kraus

  • Hallo!


    Bin nun im dritten Buch bis zum 15. Kapitel vorgedrungen und finde die geschilderten Auseinandersetzungen doch sehr erfrischend. Ich denke, man könnte sie versuchsweise auf den Nenner bringen, dass Rabelais hier an sehr alltägliche Dinge (etwa die auch heute noch aktuelle Heiratsfrage) mit einem ironischen scholastischen Aufwand herangeht. Wobei sich diese Ironie meines Erachtens vor allem auf die Formalia erstreckt (Thesen und Antithesen etwa oder die Belegwut mit antiken Autoritäten) und weniger auch auf alle Inhalte. So sind einige Argumente ja durchaus beherzigenswert :smile:


    Jedenfalls kommt die Komplexität des Alltags gerade durch die lange Aufzählung sich widersprechender Punkte doch sehr hübsch zur Anschauung.


    Interessant fand ich auch im ersten Kapitel die Ausführungen darüber, wie man eroberte Länder "richtig" reagiert, nämlich ohne übertriebene Tyrannei. Die Diskussion über Schulden und Gläubiger enthält doch einige bereits sehr beachtliche Einsichten wie das Wirtschaftsleben funktioniert. Rabelais scheint seine Zeit analytisch scharf im Griff zu haben.


    CK

  • Hallo!



    Ich erinnere mich, dass ich ähnlich auf eines der Vorbilder von Rabelais reagiert habe, den Ulenspiegel.


    Genau hier liegt aber m. E. ein entscheidender Unterschied. Die Eulenspiegeleien sind - auch - Sozialkritik, dienen häufig dazu, seltsame Verhaltensweisen darzustellen, sind ein augenzwinkerndes Wörtlichnehmen von Redensarten und verweisen - wenn auch nicht immer geistreich - auf die Fallstricke von Sprachkonventionen. Hingegen sind den von mir monierten Scherzen Panurges nur mit sehr viel gutem Willen solche Interpretation zu unterlegen; wenn geschildert wird, wie jemandem Juckpulver in den Kragen geschüttet wird, bleiben meine Gesichtszüge ebenso ungerührt wie bei den Aufführungen der unzähligen Comediens in Sat1, RTL und Pro7. Den Zustand der Vertrottelung, Atze Schröder witzig zu finden, habe ich noch nicht erreicht.


    Trotzdem werd ich wohl weiterlesen, irgendwie hoffe ich, dass das hier gelobte dritte Buch mich noch entschädigen wird.


    Grüße


    s.


  • Trotzdem werd ich wohl weiterlesen, irgendwie hoffe ich, dass das hier gelobte dritte Buch mich noch entschädigen wird.


    Wollte gerade sagen, dass sich das im dritten Buch doch deutlich ändert. Sozialkritik war aber doch auch in den anderen Büchern präsent (Kirche, Universitäten, Justizsystem ...).


    Was mich generell noch beeindruckt, ist die unglaubliche Dichte mit der Rabelais schreibt: Die Fülle an Namen, Anspielungen etc. Das wäre heute im Zeitalter des Internet schwer zu reproduzieren. Mit den Möglichkeiten damals halte ich das doch für sehr beachtlich.


    CK

  • Hallo zusammen,


    ich habe das dritte Buch gestern fertiggelesen. Es hat mir nach und nach immer besser gefallen. Der Bezug auf antike Autoren und Philiosophen ist unter Berücksichtigung der damaligen Möglichkeiten an deren Werke heranzukommen doch sehr beeindruckend. Wie Xenophanes schon schrieb ist auch die scholastische Herangehensweise an die Heiratsproblematik sehr belustigend.



    So. Le Quart Livre ist auch beendet. Aber wie gesagt, ich warte jetzt mit Posten, bis Ihr weiter seid. Nur so viel: Rabelais bringt es noch in jedem Buch zustande, die Erwartungshaltung des Lesers zu enttäuschen. Was er aus Panurge im Quart Livre gemacht hat .... :entsetzt:


    Da bin ich mal gespannt. Panurge finde ich als "Hosenlatz-gesteuerten" Schelm eine sehr lustige Figur, mit der Rabelais seinen Spott auf die Sorbonne und die scholastischen Streitereien und Besserwissereien seiner Zeit hervorragend zum Ausdruck bringen kann.


    Ich werde jetzt eine kleine Pause für die "Flüchtlingsgespräche"-Leserunde einlegen.


    Viele Grüße,
    Zola

  • Hallo!


    Ich schließe auf und las eben auch das 3. Buch zu Ende. Gefiel mir bisher am besten. Ich hätte nicht gedacht, dass Rabelais mit dem Ehethema praktisch den kompletten Text bestreitet. Dieser satirische erkenntnistheoretische Rundumschlag nebst eingestreuten Anekdoten war doch eine vergnügliche Lektüre (trotz gewisser Längen). Es ist ja eigentlich schon eine Art philosophischer Thesenroman, auch wenn die Kernaussage weniger in bestimmten Thesen liegt als im Vorführen der diversen zum Scheitern führenden Methoden über die sich Rabelais lustig macht.


    Mir fiel bei der Lektüre immer wieder Montaigne ein. Während dieser seinen Skeptizismus durch elegante Essais an die Leserschaft bringt, wählt Rabelais eine präbarock-saftige Textkompilation.


    Meine Leseplanung sieht jetzt so aus, dass ich den letzten Teil bis Ende Juli abgeschlossen haben will.


    CK

  • Hallo zusammen,



    Mir scheint, da habein ein paar aufgegeben :zwinker: ?


    Nein, ich habe mich leider mit anderer Lektüre und noch einer weiteren Leserunde etwas verschätzt. Ich werde aber auf jeden Fall noch das vierte und fünfte Buch lesen. Spätestens nach meinem Urlaub ab Ende September wieder. Ich gebe nicht auf :breitgrins:


    Viele Grüße,
    Zola

  • Hallo!


    Hier eine erste Zwischenbilanz von meiner Seite, bevor es bei mir weitergeht:


    "Höchste Zeit, einige Worte über diese ungewöhnlichen Bücher zu schreiben, die mich seit Mai mit Unterbrechungen beschäftigen. Bisher las ich die ersten drei von fünf Büchern. Sie gehören mit zu den ungewöhnlichsten meiner Leseerlebnisse. Als quer durch die Jahrtausende lesender Zeitgenosse entwickelt man ja gerne eine gewisse Blasiertheit und glaubt sich vor grundsätzlichen Überraschungen gefeit. Was hier Rabelais (1494-1553) jedoch zu Papier brachte, sprengt in mehreren Dimensionen bekannte Kategorien.
    Natürlich schreibt auch Rabelais nicht im luftleeren Raum, weshalb sich eine Fülle von literatur- und kulturgeschichtlichen Bezügen herstellen lassen. Er bezieht sich so nicht nur auf eine Fülle von antiken Quellen und auf die Tradition des mittelalterlichen Ritterromans. Zusätzlich spielen auch zeitgenössische intertextuelle Verweise eine maßgebliche Rolle. Das fängt beim erfolgreichen Volksroman "Gargantua" an, den Rabelais als thematische Grundlage verwendet, und hört bei zahllosen Anspielungen auf die Methoden und Ergebnisse des Gelehrtentums seiner Zeit nicht auf.
    Eine Inhaltsangabe läßt dieser sprachlichen Monstrosität läßt sich kaum geben. Rabalais setzt eine Familie von Riesen in ein teils zeitgenössisches Frankreich und in eine teils fantastische Welt. Die Riesen Gargantua (Vater) und Pantagruel (Sohn) erleben nun an lose erzählerische Muster orientiert ("Entwicklungsroman": Kindheit, Adoleszenz ...; Aventiuren eines Ritters; Volksmärchen) eine Reihe von grotesken Abenteuern. Diese können von derb-obszöner Komik sein aber auch voll von bissiger Satire gegenüber den Zuständen seines Landes (Kirche, Klöster, Universitäten, Aberglaube). Höherer Blödsinn findet sich eben so wie das rhetorisch brillante Pläydoyers für einen Renaissance-Humanismus (Brief Gargantuas an Pantagruel im achten Kapitel des zweiten Buches). En passent sei erwähnt, dass das zweite Buch "Pantagruel" das erste Buch der Serie ist. Danach erst schrieb er "Gargantua", das die Vorgeschichte erzählt, und deshalb in den modernen Ausgaben immer an erster Stelle steht, entgegen der Chronologie der Entstehung.
    Die Einzigartigkeit dieses Werks besteht in der Sprache seines Autors. Mein Französisch ist nicht so perfekt, um das selbst in jeder Feinheit überprüfen zu können. Französische Philologen versichern jedoch, dass der Umfang der von Rabelais verwendeten Sprache in jeder Hinsicht einzigartig in der franzöischen Literatur sei. Er bedient sich nicht nur aller Sprachstufen von Obszönitäten aus der Gosse bis hin zur gelehrten Sprache der Scholastiker. Er transzendiert alle diese Sprachregister zugleich durch eine Fülle von kreativen Neologismen. Rabelais nimmt dabei keine Rücksicht auf Lesbarkeit: Die Sätze sprudeln in einer so dichten und Fülle aus ihm hervor, dass es für den modernen Leser nicht immer einfach ist. Dazu tragen auch lexikograpische Orgien bei (lange, witzige Aufzählungen aller Art). Diese barocke Fülle macht andererseits auch wieder den größten Reiz von "Gargantua und Pantagruel" aus.
    Selbstverständlich erschöpft sich die Leistung des Rabelais nicht allein im Sprachlichen und Formalen. Er führt bezogen auf die Unsitten seiner Zeit eine so spitze Feder, das man seinen Mut nur bewundern kann. Er feuert nicht nur polemische Breitseiten auf die von der Spätscholastik dominierte Pariser Universität ab. Auch Kritik an klerikalen Kindereien kommt nicht zu kurz. Er karikiert an den Haaren herbei gezogene Kriegsursachen und die Aufgeblasenheit der "besseren Gesellschaft". "Gargantua und Pantagruel" findet sich auf praktisch jeden Kanon der Weltliteratur. Das war einer der Gründe, warum ich mich dieses Werks jetzt annahm. Das belegt einmal mehr, das eine kritische Orientierung an kanonisierten Büchern nicht schadet: Man wird durch tolle Entdeckungen belohnt."


    CK

  • Hallo!


    Lese dieses Wochenende endlich das 4. Buch: Bisher gut zwei Drittel. Nach dem "theoretischen" dritten Buch, ist dieses nun sehr abenteuerlich und handlungsreich: eine turbulente Reise zu See. Inklusive vieler in diesem Genre vorkommenden Stoffe, wie seltsame Inselbewohner. Nebenbei bemerkt fragte ich mich bei der Lektüre, ob Swift Rabelais gelesen hat ...


    Selbstverständlich spielt Rabelais mit diesen Genrekonventionen in seiner anarchistischen Art. Bei der Lektüre stößt man immer wieder auf sehr interessante Details. Etwa wenn Pantagruel im 4. Kapitel an Gargantua vieles an "Tieren, Pflanzen, Vögeln, Steinen" von der Reise schicken will, so erinnert das an die späteren wissenschaftlichen Expeditionen etwa eines Cook.


    Der beschriebene seltsame Karneval könnte Bachtin zu seinen literaturtheoretischen Überlegungen angeregt haben.


    Interessant fand ich auch die diversen Prologe, wo Rabelais sehr explizit auf die Reaktionen der vorherigen Bände eingeht und sich gegen den Vorwurf der Ketzerei verteidigt. Diese Reaktion in einem Buch auf die Reaktion eines Buches :breitgrins: treibt dann ja Cervantes im "Don Quijote" auf die Spitze.


    CK

  • Hallo!


    Ich nutzte diesen katholischen Reisefeiertag heute, um auch noch das 5. Buch zu beenden. Werde gelegentlich ein ausführlicheres Fazit ziehen. Die Lektüre hat jedenfalls mein literarisches Wissen wesentlich erweitert.


    Geplant ist noch die Lektüre von etwas Sekundärliteratur, womit ich auch schon begonnen habe.


    Damit habe ich nun auch Luft für die "Jahrestage" :smile:


    CK