Goethe: Wilhelm Meisters Wanderjahre


  • Wenn man kein spezielles Interesse für den alten Goethe entwickelt hat, lasst man von den Wanderjahren wirklich lieber die Finger. (Die Komposition von Lang-Epen war so gar nicht Goethes Ding ...)


    Hmmm, --- vielleicht waren die „Wanderjahre“ ja gar nicht als Lang-Epos gedacht, sondern als Rahmenhandlung, die durch kurze Erzählungen, Novellen, Anekdoten, Märchen u.ä. immer wieder unterbrochen und in andere Richtungen gelenkt wird?


    Gruß


    Hubert


    PS: Bevor dieser Beitrag in zwei oder mehr Jahren mit der Frage, wie ich darauf komme, ausgegraben wird (und ich dann vielleicht gerade wieder einmal dabei bin, mich mit der neuesten Homer-Forschung zu beschäftigen und deshalb keine Lust habe über den alten Goethe und 1001Nacht zu diskutieren): in „Goethe, Scheherazade und die Erzählungen aus Tausendundeiner Nacht“ vertritt Hannelies Koloska m.M.n. glaubhaft diese These. Einen Link dazu habe ich im Forum „Leserunden - Materialien“ im Thread „Februar 2007: „Tausendundeine Nacht““ heute hinterlegt:
    http://klassikerforum.de/forum/index.php?thread/2164.0
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    Edit sandhofer: Die sich hier anbahnende Diskussion zu Goethes Wilhelm Meister habe ich abgetrennt und ihr einen eigenen Thread gegönnt. OK?
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  • Hmmm, --- vielleicht waren die „Wanderjahre“ ja gar nicht als Lang-Epos gedacht, sondern als Rahmenhandlung, die durch kurze Erzählungen, Novellen, Anekdoten, Märchen u.ä. immer wieder unterbrochen und in andere Richtungen gelenkt wird?


    Selbst dann halte ich es für ein kompositorisches Ungeheuer. Hannelies Koloska nennt es Goethes "Vorliebe zur freizügigen Komposition bei der Prosaerzählung", aber wir meinen wohl im Grunde genommen dasselbe: Goethe hatte keine Ahnung (oder er foutierte sich, wie es ein Genie nur kann, königlich darum), wie ein Prosawerk gezimmert werden sollte.


    Das andere Thema von Koloskas Text (Goethe quasi als Arabist und Islamkenner) scheint in der letzten Zeit, wohl durch die aktuellen Umstände bestimmt, ein Thema geworden zu sein. Dass er an vielem, fast allem, interessiert war und Gefallen gefunden hat, halte ich für unbestreitbar. Koloskas Aussage: "Was sollte ihm, dem Meister der Verseschmiede, an diesen abenteuerlichen, amourösen, phantastischen und manchmal gar trivial anmutenden Geschichten gelegen sein? Der Klassiker der Klassik, das Genie, der Universalgelehrte - ein Liebhaber Scheherazades?" ist entweder Aufmerksamkeit heischende Geste des Redners zu Beginn der Oratio - oder schlicht Unsinn. Das Goethe-Bild, das sie hier unterstellt, ist seit sicherlich zwei Forschergenerationen schon überholt und auch im "breiten Publikum" wohl nicht mehr existent. Natürlich hat sich Goethe für allerhand Triviales und nicht so Koscheres interessiert. Ihm deswegen eine allzu grosse Affinität zum Islam zuzuschreiben, halte ich bei einem Manne, dem das Religiöse nur wichtig war, insofern es mit dem Praktisch-Sittlichen zusammengehörte, dann aber doch für übertrieben.


    Grüsse


    Sandhofer

    Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen? - Karl Kraus


  • Natürlich hat sich Goethe für allerhand Triviales und nicht so Koscheres interessiert. Ihm deswegen eine allzu grosse Affinität zum Islam zuzuschreiben, halte ich bei einem Manne, dem das Religiöse nur wichtig war, insofern es mit dem Praktisch-Sittlichen zusammengehörte, dann aber doch für übertrieben.


    Hallo sandhofer,


    bei dieser Aussage stimme ich Dir voll und ganz zu. Auch ich kann bei Goethe keine, über allgemeines Interesse hinausgehende, Vorliebe für den Islam entdecken, aber ist es nicht unbestritten, dass Goethe schon in seiner Kindheit durch Erzählungen seiner Mutter und Großmutter mit den Geschichten aus Tausendundeiner Nacht bekannt wurde und dass man von kindlichen ersten Erfahrungen mit Weltliteratur sein ganzes Leben geprägt wird? Und wenn Goethe 1794 an Schiller schreibt, "...überhaupt gedenke ich aber wie die Erzählerin in der Tausend und Einen Nacht zu verfahren", warum wollen wir dann dem Meister nicht glauben?


    Grüße


    Hubert


    PS: Zu Deiner ersten Frage: ok!

  • [...] aber ist es nicht unbestritten, dass Goethe schon in seiner Kindheit durch Erzählungen seiner Mutter und Großmutter mit den Geschichten aus Tausendundeiner Nacht bekannt wurde [...]


    Das möchte ich auch nicht bestreiten. Jedenfalls wohl mit den ... sagen wir: weniger gesalzenen.


    und dass man von kindlichen ersten Erfahrungen mit Weltliteratur sein ganzes Leben geprägt wird?


    Uff, da öffnest Du ein weites Feld ... Das, meines Wissens, immer noch nur spärlich beackert worden ist, auch wenn schon Arno Schmidt gefordert hat, dass gerade die Kinder- und Jungendlektüre eines Schriftstellers genauer untersucht werden müsste.


    Und wenn Goethe 1794 an Schiller schreibt, "...überhaupt gedenke ich aber wie die Erzählerin in der Tausend und Einen Nacht zu verfahren", warum wollen wir dann dem Meister nicht glauben?


    Einem Menschen, der seine Autobiografie "Dichtung und Wahrheit" untertitelt :zwinker:? Die Botschaft hör' ich wohl ...


    Im Ernst: Dass Goethe so verfahren wollte, glaube ich ihm sofort. (Um genau zu sein: Ich glaube ihm, dass er im Moment, wo er an Schiller schreibt, selber daran glaubt. Allerdings steckt m.M.n. in vielen solchen und ähnlichen Bemerkungen Goethes an Schiller auch so etwas wie ein Drang danach, sich und dem literaturtheoretisch und überhaupt theoretisch überlegenen Schwaben zu beweisen, dass man selber auch über Literatur nachgedacht hätte. Vieles von diesen Goethe'schen Gedanken ist allerdings wohl mehr erfühlt als durchgedacht. Aperçu :zwinker: . Im Moment gültig, fünf Minuten später in der schriftstellerischen Praxis schon über den Haufen geworfen.)


    Wie allerdings die Erzählerin seiner Meinung nach tatsächlich verfuhr, wäre bereits eine Frage. Und ob er selbst dieser seiner persönlichen Ansicht darüber, wie die Erzählerin verfuhr, tatsächlich gerecht werden konnte, noch eine.


    Grüsse


    Sandhofer


    PS. Damit da keine Irrtum entsteht: Ich liebe die Wanderjahre. Trotz kompositorischer Schwächen. :smile:

    Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen? - Karl Kraus

  • Ein Zufall, dass ich gerade eben die Wanderjahre lese. Und mein Interesse ist riesig, leider enthält meine Ausgabe keine Kommentare, dafür aber ein Nachwort, worin auch sehr ausführlich gerade über die kompositorische Schwäche geschrieben wird.


    Ich denke, ihr meint, die Komposition sei schwach, weil sich viele - Handlungen usf. mehr oder weniger unzusammenhängend darin finden lassen. Das erinnert mich an Herodots Geschichtswerk. Man nennt die in sich geschlossenen Novellen, Anekdoten, Märchen, usf. bei Herodot - "Logoi". Ein Logos, eine Geschichte, sozusagen. Und so befinden sich wohl in den Wanderjahren viele Logoi, nicht wahr? Ich bin erst recht am Anfang, aber das habe ich wohl schon mitbekommen. ;)


    "Ich liebe die Wanderjahre. Trotz kompositorischer Schwächen."


    Bisher liebe ich sie auch. Nicht TROTZ kompositorischer Schwächen, sondern ihrer UNGEACHTET. Weil ich die Wanderjahre nicht als einen ROMAN lese. Ich lese sie als eine Fundgrube von wunderschönen Gedanken.


    Lieben Gruß.

  • Und einige dieser Logoi lese ich nur widerwillig. Die Liebesgeschichte "Wer ist der Verräter" hätte ich gerne überlesen. Aber das erste Kapitel des zweiten Buches, wieder ein "Logos", ist etwas Wundervolles. Es enthält vielleicht eine Predigt, oder eine durch und durch zunächst religionswissenschaftliche, dann christlich-theologische Abhandlung, die mich einfach begeistert. Was über FURCHT und EHRFURCHT und ihren Zusammenhang mit Religionen geschrieben wird, ist wohl das beste Sermon, das ich bisher aufgenommen habe.


    Lieben Gruß.


  • aber ist es nicht unbestritten, dass Goethe schon in seiner Kindheit durch Erzählungen seiner Mutter und Großmutter mit den Geschichten aus Tausendundeiner Nacht bekannt wurde und dass man von kindlichen ersten Erfahrungen mit Weltliteratur sein ganzes Leben geprägt wird?


    Gibt es einen Beleg für die These, Goethes Mutter – von seiner Großmutter ganz zu schweigen – habe Gallands Übersetzung der »Märchen aus den 1001 Nächten« gekannt und ihrem Sohn weitererzählt? Wilpert behauptet eine eigene Lektüre schon vor 1780, wohl mit Rückbezug auf Katharina Mommsen. Ich kann auf die Schnelle für eine solche frühe Lektüre gar keine Belege finden, noch viel weniger für die hier als selbstverständlich angenommene Vermittlung durch Mutter bzw. Großmutter.