Januar 2007 - Musil: Der Mann ohne Eigenschaften

  • Liebe Manjula, lieber Bloom,


    Die Leserunde lief leider nicht ganz wie geplant, was sicher auch mit der Grösse und Komplexität des Werkes zusammenhängen mag. Man könnte in der Tat so viel diskutieren und zu zergliedern suchen, dass ich die Tastatur eher scheute. Dafür bitte ich nochmals um Entschuldigung.


    Im Schlussfazit stimme ich mit Dir Manjula überein, der MoE ist mit Sicherheit ein lohnendes Buch, in meinen Augen sogar mehr. Es ist ein sprachlich weitestgehend souveränes und innovatives Buch, das stellvertretende für einen ganzen Zeitraum/Epoche stehen kann. Deswegen in der Tat ein Jammer, dass Musil den Roman nicht vollenden konnte, wenn das denn überhaupt möglich gewesen wäre...


    Die Kapitel des Romans sind nahezu immer geistreich und meistens auch interessant :zwinker:, wirken gelegentlich aber neben der Begeisterungsfähigkeit ebenso nervenzehrend und ermüdend. Dies auch aufgrund ihrer gelegentlichen intellektuellen Anforderung. Nebenbei verfügt Robert Musil jedoch auch über viel Humor, Ironie und nicht zuletzt Selbstironie und ein formidables sprachliches Gespür. Der Roman ist in seiner unmenschlichen Fülle zunächst äusserst erdrückend, man unterläuft meines Erachtens auch als Leser der Gefahr der Orientierungslosigkeit. Doch birgt der Roman ohne Zweifel vielerlei Schätze, gute Charaktere, auch wenn sie jeweils typisiert gezeichnet sind, originelle Dialoge und nicht zuletzt eben so viele geistreiche Reflexionen. Diese mögen ab und zu nicht unbedingt zum Kontext passen und aus er Form des Romans herausfallen, bereichern den Roman aber durch die erfreuliche Vielfalt an Motiven und Themen, die einen hervorragenden Spiegel der Zeit um 1913 in Wien abgeben. Ich habe einmal versucht eine kleine Übersicht zu Themen / Motiven zusammenzustellen:


    • Menschliche Empfindungen vs. Technik, Traum vs. Fortschrittsoptimismus
    • Wirklichkeit vs. Möglichkeit
    • Sinnsuche, Widersprüchlichkeit der Menschheit
    • Seele vs. Zivilisation
    • Seele und Wirtschaft vereinen (Arnheim)
    • Auflösung des Ich, fehlende Individualität, neues Kollektiv
    • Geist, Divergierung von Geist und Körper
    • Geistige Ordnung der Gedanken möglich (Stumm von Bordwehr)
    • Geldwirtschaft vs. Religion
    • Kunst


    • Patriotismus, Nationalismus
    • Militarismus
    • Nation-building, Zerfall des Grossreiches
    • Österreich-Ungarn vs. Preussen (PA, Arnheim)
    • Blockierendes Beamtentum
    • Defizitäre Männlichkeit (mit der grossen Ausnahme Ulrich)
    • Bürgerliche Doppelmoral
    • Adel vs. Bürgertum
    • Intellektuellenbegriff
    • Antisemitismus, Rassentheorien (Hans-Sepp und seine Gruppe)


    • Psychiatrisches und Verbrechen (Moosbrugger)
    • Wissensgesellschaft
    • Triebe
    • Hysterie, Wahn (Clarisse)
    • Bärte (Ulrich modern bartlos)


    Als Roman lässt sich dieses Werk nur schwerlich definieren, es scheint eher ein Konvolut, ein Wust (im positiven Sinne) von Begriffen, Figurenkonzepten, Essays, in dem Sinne wirklich eine Multimeditation - um Deinen Ausdruck zu gebrauchen Bloom -zu sein.


    Nachgerade begeistert haben mich die bemerkenswerten Passagen über die Rolle des Geistes mit einer für mich tiefen Wahrheit der Aussage:


    „Mann kann die Dichter lesen, die Philosophen studieren, Bilder kaufen und nächteweise
    Gespräche führen: aber ist es Geist, was man dabei gewinnt? Angenommen, man gewönne
    ihn: aber besitzt man ihn dann? Dieser Geist ist so fest verbunden mit der zufälligen Gestalt
    seines Auftretens! Er geht durch den Menschen, der ihn aufnehmen möchte, hindurch und lässt
    nur ein wenig Erschütterung zurück. Was fangen wir mit all dem Geist an? […] Löst er sich in
    Partikel auf?“


    „aber er dachte in diesem Augenblick an das sonderbare Erlebnis ‚Geist’ wie an eine Geliebte,
    von der man zeitlebens betrogen wird, ohne sie weniger zu lieben“


    Das ist doch herrlich!? Ingesamt ist Robert Musils Roman Der Mann ohne Eigenschaften ein sehr überzeugender Roman, einer der wichtigsten wohl der deutschen Literatur, das darf man sagen, obzwar er Fragment blieb und bleiben musste. Dass er einer zweiten, dritten, vierten Lektüre bedarf, steht sicherlich ausser Frage. Vielleicht das nächste mal wieder gemeinsam, dann aber mit längerem Atem und ohne Zeitdruck.


    Liebe Grüsse,
    Imrahil

    "Die Kunst des Nachdenkens besteht in der Kunst..., das Denken genau vor dem tödlichen Augenblick abzubrechen. - Thomas Bernhard, Gehen

  • Moin, Moin!


    Ich möchte auf das neue Buch von Michael Maar <a href="http://www.amazon.de/exec/obidos/ASIN/3937834206/">Leoparden im Tempel</a> hinweisen, in dem er sich essayistisch neben Proust, Kafka, Thomas Mann, Borges, Nabokov, Canetti, Lampedusa, Andersen, Rowling, Chesterton, Barnes und Powell auch Robert Musil <a href="http://www.dradio.de/dkultur/sendungen/kritik/614487/">widmet</a> (<a href="http://ondemand-mp3.dradio.de/file/dradio/2007/04/16/dkultur_200704161433.mp3">mp3</a>).

  • Hallo!



    Das ist doch herrlich!? Ingesamt ist Robert Musils Roman Der Mann ohne Eigenschaften ein sehr überzeugender Roman, einer der wichtigsten wohl der deutschen Literatur, das darf man sagen, obzwar er Fragment blieb und bleiben musste. Dass er einer zweiten, dritten, vierten Lektüre bedarf, steht sicherlich ausser Frage. Vielleicht das nächste mal wieder gemeinsam, dann aber mit längerem Atem und ohne Zeitdruck.


    Das ist doch ein schönes Fazit. Ich kann versichern, dass vier Lektüren nicht ausreichen: Die habe ich bereits hinter mir und seit einiger Zeit große Lust auf die Fünfte :zwinker:


    CK

  • Guten Abend allerseits und hallo Imrahil,


    schön, von Dir zu lesen :winken: Aber entschuldigen musst Du Dich nun wirklich nicht, der MoE macht es einem nicht leicht und ist vielleicht tatsächlich nicht leserundengeeignet (habe ich Archiv gesehen, dass schon eine Leserunde versandet ist).


    Deine Zusammenstellung der Hauptthemen finde ich sehr interessant. Dass Musil es schaffte, dies alles zu verweben, ist schon faszinierend. Wie gesagt, schade, dass der Roman unvollendet ist, es wäre spannend zu wissen, wie er letztendlich alles verknüpft hätte. Du hattest mal ganz am Anfang geschrieben, dass keine der Figuren verloren gehe und tatsächlich taucht Leona, die ich schon fast vergessen hatte, gegen Schluss noch einmal auf; ich könnte mir vorstellen, dass Musil die Fäden, die jetzt teils lose erscheinen, am Ende doch alle zusammengeführt hätte.


    Noch eine neugierige Frage: Du musstest das Werk für die Uni lesen, oder? Habt Ihr denn MoE dann noch ausführlich besprochen? Ich könnte mir da endlose Diskussionen vorstellen...


    Liebe Grüße
    Manjula

    [size=10px] &quot;Kunst soll keine Schulaufgabe und Mühseligkeit sein, keine Beschäftigung contre cœur, sondern sie will und soll Freude bereiten, unterhalten und beleben, und auf wen ein Werk diese Wirkung nicht übt, der soll es liegen lassen und sich zu andrem wenden.&quot; [/size]

  • Hallo Manjula,


    Nein, es kam leider zu keiner ausführlichen Besprechung, da es sich um eine Vorlesung handelte, nicht um ein Seminar. Gleichwohl führte die Vorlesung zu einigen erhellenden Erkenntnissen. Es steht aber ausser Frage, dass der MoE Stoff für mehrere Seminare böte ;-)


    Imrahil

    &quot;Die Kunst des Nachdenkens besteht in der Kunst..., das Denken genau vor dem tödlichen Augenblick abzubrechen. - Thomas Bernhard, Gehen

  • Hallo,


    im Abstand zum Torturleseerlebnis möcht ich mich nochmal kurz melden und Dostoevskij herzlich danken für den Hinweis auf die "Leoparden". Die Lektüre des Essais über Musil war für mich der erhellenste Aspekt meiner Beschäftigung mit ihm. So einsam scheine ich nun auch nicht mit meiner Abneigung zu sein, was MoE betrifft. Wenigstens partiell!