Liebe Manjula, lieber Bloom,
Die Leserunde lief leider nicht ganz wie geplant, was sicher auch mit der Grösse und Komplexität des Werkes zusammenhängen mag. Man könnte in der Tat so viel diskutieren und zu zergliedern suchen, dass ich die Tastatur eher scheute. Dafür bitte ich nochmals um Entschuldigung.
Im Schlussfazit stimme ich mit Dir Manjula überein, der MoE ist mit Sicherheit ein lohnendes Buch, in meinen Augen sogar mehr. Es ist ein sprachlich weitestgehend souveränes und innovatives Buch, das stellvertretende für einen ganzen Zeitraum/Epoche stehen kann. Deswegen in der Tat ein Jammer, dass Musil den Roman nicht vollenden konnte, wenn das denn überhaupt möglich gewesen wäre...
Die Kapitel des Romans sind nahezu immer geistreich und meistens auch interessant :zwinker:, wirken gelegentlich aber neben der Begeisterungsfähigkeit ebenso nervenzehrend und ermüdend. Dies auch aufgrund ihrer gelegentlichen intellektuellen Anforderung. Nebenbei verfügt Robert Musil jedoch auch über viel Humor, Ironie und nicht zuletzt Selbstironie und ein formidables sprachliches Gespür. Der Roman ist in seiner unmenschlichen Fülle zunächst äusserst erdrückend, man unterläuft meines Erachtens auch als Leser der Gefahr der Orientierungslosigkeit. Doch birgt der Roman ohne Zweifel vielerlei Schätze, gute Charaktere, auch wenn sie jeweils typisiert gezeichnet sind, originelle Dialoge und nicht zuletzt eben so viele geistreiche Reflexionen. Diese mögen ab und zu nicht unbedingt zum Kontext passen und aus er Form des Romans herausfallen, bereichern den Roman aber durch die erfreuliche Vielfalt an Motiven und Themen, die einen hervorragenden Spiegel der Zeit um 1913 in Wien abgeben. Ich habe einmal versucht eine kleine Übersicht zu Themen / Motiven zusammenzustellen:
• Menschliche Empfindungen vs. Technik, Traum vs. Fortschrittsoptimismus
• Wirklichkeit vs. Möglichkeit
• Sinnsuche, Widersprüchlichkeit der Menschheit
• Seele vs. Zivilisation
• Seele und Wirtschaft vereinen (Arnheim)
• Auflösung des Ich, fehlende Individualität, neues Kollektiv
• Geist, Divergierung von Geist und Körper
• Geistige Ordnung der Gedanken möglich (Stumm von Bordwehr)
• Geldwirtschaft vs. Religion
• Kunst
• Patriotismus, Nationalismus
• Militarismus
• Nation-building, Zerfall des Grossreiches
• Österreich-Ungarn vs. Preussen (PA, Arnheim)
• Blockierendes Beamtentum
• Defizitäre Männlichkeit (mit der grossen Ausnahme Ulrich)
• Bürgerliche Doppelmoral
• Adel vs. Bürgertum
• Intellektuellenbegriff
• Antisemitismus, Rassentheorien (Hans-Sepp und seine Gruppe)
• Psychiatrisches und Verbrechen (Moosbrugger)
• Wissensgesellschaft
• Triebe
• Hysterie, Wahn (Clarisse)
• Bärte (Ulrich modern bartlos)
Als Roman lässt sich dieses Werk nur schwerlich definieren, es scheint eher ein Konvolut, ein Wust (im positiven Sinne) von Begriffen, Figurenkonzepten, Essays, in dem Sinne wirklich eine Multimeditation - um Deinen Ausdruck zu gebrauchen Bloom -zu sein.
Nachgerade begeistert haben mich die bemerkenswerten Passagen über die Rolle des Geistes mit einer für mich tiefen Wahrheit der Aussage:
„Mann kann die Dichter lesen, die Philosophen studieren, Bilder kaufen und nächteweise
Gespräche führen: aber ist es Geist, was man dabei gewinnt? Angenommen, man gewönne
ihn: aber besitzt man ihn dann? Dieser Geist ist so fest verbunden mit der zufälligen Gestalt
seines Auftretens! Er geht durch den Menschen, der ihn aufnehmen möchte, hindurch und lässt
nur ein wenig Erschütterung zurück. Was fangen wir mit all dem Geist an? […] Löst er sich in
Partikel auf?“
„aber er dachte in diesem Augenblick an das sonderbare Erlebnis ‚Geist’ wie an eine Geliebte,
von der man zeitlebens betrogen wird, ohne sie weniger zu lieben“
Das ist doch herrlich!? Ingesamt ist Robert Musils Roman Der Mann ohne Eigenschaften ein sehr überzeugender Roman, einer der wichtigsten wohl der deutschen Literatur, das darf man sagen, obzwar er Fragment blieb und bleiben musste. Dass er einer zweiten, dritten, vierten Lektüre bedarf, steht sicherlich ausser Frage. Vielleicht das nächste mal wieder gemeinsam, dann aber mit längerem Atem und ohne Zeitdruck.
Liebe Grüsse,
Imrahil