Januar 2007 - Musil: Der Mann ohne Eigenschaften

  • Ein gutes neues Jahr wünsche ich Allen.


    Es mag ungehörig sein ,die Eröffnung der Leserunde nicht dem Vorschlagenden zu überlassen, jedoch ist sie ja eingeläutet, und ein neues Lahr muss ja nicht korrekt angefangen werden. Schließlich muss man sich noch bessern können ;-)



    Ein unachtsamer Schritt hat es mir erlaubt schon jetzt die beiden ersten Teile von MoE komplett zu lesen. Mein, zugegeben sehr persönliches Urteil: Das ist kein Roman, sondern eine Multimeditation.
    In den ersten Abschnitten entwickelt sich noch ein Handlungsfaden, solange die Charaktere eingeführt werden gibt es viele Stellen mit erfrischender, boshafter Ironie, jedoch zunehmend verliert sich der Text in langatmigen Betrachtungen und Erörterungen, die nur mühsam durch ein schwaches Korsett aus Ortswechsel zusammengeführt wird Es ist bestimmt so, dass die Entschlusslosigkeit und Unbeweglichkeit den Charakter der Vorkriegsjahre in Östereich-Ungarn trifft, doch ich bin, durch die ausufernde Metaphorik und die Beschränkung auf die Ideenwelt der Oberklasse, einfach überfordert. Hier wird eine Sammlung von Erzählungen und Essais zu einem monströsen Text in Teile aufgelöst und wahllos wieder zusammengesetzt. Ich kann mir gut vorstellen, dass die Liebhaber der großen philosophischen Entwürfe, (besonders Nietzsche ??? ) diesen Roman spannend finden und mit Begeisterung lesen, doch fehlt m. E. der Diskurs über die historische Auseinandersetzung in weiten Teilen, der dem Roman erst seine Bedeutung als Spiegelung dieser untergehenden Gesellschaft eine Bedeutung geben würde. Gegen den Zauberberg ist MoE nur ein sanfter Hügel.


    Mir bleibt nur der gute General Stumm für mein Lesevergnügen ,aber vielleicht ist er ja auch der Geist, der meinem Auffassungsvermögen entspricht :-(
    Da ich mich schon in den Sattel geschwungen habe und die Attacke im Gange ist, werde ich mich auch noch durch den dritten Teil arbeiten und hoffen, dass die anderen Leser die sich hier äußern, meine Beurteilung noch in Frage stellen und ich vor der Größe dieses Romans kapitulieren kann..


    Aber was ist schon ein Winter in Wien, gegen einen Frühlingstag in Dublin ;-)


    Bloom

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  • Guten Abend,


    hier ein paar Materialien:


    - ein Vortrag auf der Homepage der Humboldtgesellschaft zum MoE
    - eine Rezension von Milan Kundera
    - und zum Schluss noch der wikipedia-Eintrag (bewusst am Schluss, denn darüber steht "Dieser Artikel oder Abschnitt bedarf einer Überarbeitung. Näheres ist auf der Diskussionsseite angegeben. Hilf bitte mit, ihn zu verbessern, und entferne anschließend diese Markierung" :zwinker:


    sandhofer: danke fürs Eröffnen


    Grüße
    Manjula

    [size=10px] "Kunst soll keine Schulaufgabe und Mühseligkeit sein, keine Beschäftigung contre cœur, sondern sie will und soll Freude bereiten, unterhalten und beleben, und auf wen ein Werk diese Wirkung nicht übt, der soll es liegen lassen und sich zu andrem wenden." [/size]

  • Guten Abend,


    Bloom, Du hast schon die ersten beiden Teile gelesen? :ohnmacht: Und ich war schon stolz, bis Seite 79 gekommen zu sein. Zu Deinem Eintrag kann ich deshalb leider noch nicht viel sagen, außer: er macht mich umso neugieriger auf das Buch.


    Na, ich poste trotzdem mal meine bisherigen Eindrücke. Die Handlung baut sich bis jetzt ganz langsam auf (wenn es denn eine gibt - Deinem Eintrag nach eher nicht :zwinker:). Welche Position die vorgestellten Personen wie Clarisse, Walter, Bonadea und Moosbrugger einnehmen, ist noch unklar. Der Text liest sich jedoch flüssig und gefällt mir bisher gut. Ich habe nicht das Gefühl, ein "altes" Buch zu lesen, an einigen Stellen zeigen sich erstaunliche Bezüge zum aktuellen Zeitgeschehen: bei der Schilderung, wie die Presse Moosbruggers brutales Vergehen aufnimmt, musste ich z.B. an die betroffen-sensationsheischende Berichterstattung über Kindstötungen, Kampusch etc. denken.


    Ich lese übrigens die Ausgabe aus dem Rowohltverlag.


    Liebe Grüße
    Manjula

    [size=10px] "Kunst soll keine Schulaufgabe und Mühseligkeit sein, keine Beschäftigung contre cœur, sondern sie will und soll Freude bereiten, unterhalten und beleben, und auf wen ein Werk diese Wirkung nicht übt, der soll es liegen lassen und sich zu andrem wenden." [/size]

  • Hallo!



    In den ersten Abschnitten entwickelt sich noch ein Handlungsfaden, solange die Charaktere eingeführt werden gibt es viele Stellen mit erfrischender, boshafter Ironie, jedoch zunehmend verliert sich der Text in langatmigen Betrachtungen und Erörterungen,


    Langatmig? Das wäre das letzte Wort, das mir in den Sinn käme. Ich halte diese Überlegungen im Gegenteil für so geistreich und brillant, dass Musil damit die komplette zeitgenössische Konkurrenz (und nicht nur die) in die Tasche steckt. Sein Versuch die "Mystikfrage" mit einer rational-luziden Herangehensweise beschreiben und analytisch zu beantworten gehört meiner Meinung nach zum Besten, was über dieses heikle Thema geschrieben wurde.


    CK

  • Salut zusammen,


    Ebenfalls ein gutes neues Jahr! Schön konnte die Leserunde nun starten und es wird sicherlich nicht schaden, dass wir alle schon einige Seiten gelesen haben, denn einfach zu fassen ist diese Lektüre meines Erachtens nicht. Ich habe nun die ersten 40 Kapitel gelesen.


    Ich stimme Dir darin zu Bloom, dass man MoE schwerlich als Roman definieren kann, es ist eher ein Konvolut, ein Wust (im positiven Sinne) von Begriffen, Figurenkonzepten, Essays, in dem Sinne eine Multimeditation. Demgegenüber mag der Zauberberg (den ich im übrigen nach meinen bisherigen Leseerfahrungen für einen der bemerkenswertesten Romane des 20. Jhd. halte) kompakter, stringenter und klarer sein. Aber es sind ja nicht wirklich lose Happen die Musil miteinander verbindet: All seine Ausführungen stehen für einen gewissen Zeitgeist in einem gewissen Raum, Kakanien, die K&K-Monarchie. Und die Figuren werden ebenfalls nicht liegengelassen, sondern immer wieder aufgenommen und gegebenenfalls weiterentwickelt (da bin ich mir noch nicht so sicher). Musil hat also bei diesem Riesenprojekt den Überblick nicht verloren.


    Zitat

    Hier wird eine Sammlung von Erzählungen und Essais zu einem monströsen Text in Teile aufgelöst und wahllos wieder zusammengesetzt.[


    Das scheint mir nicht so zu sein. Mag sein, dass die Essays ziemlich frei eingestreut sind, aber die verschiedenen Figurenfäden finden letztlich ja doch immer wieder zusammen.


    Zitat

    Aber was ist schon ein Winter in Wien, gegen einen Frühlingstag in Dublin


    Ich habe Ulysses noch nicht gelesen und kann daher einen Vergleich nicht anstreben. Trotzdem werden MoE, Ulsysses und A la recherche du temps perdue von Proust in Kanones und literaturwissenschaftlichen Texten stets in einem Atemzug genannt. Was Musil angeht, halte ich die hohe Meinung bisher für berechtigt. Allein die vielen geistreichen Gedanken, Beobachtungen und Formulierungen die der Text enthält, gerade die Stelle über den Geist im 40.Kapitel finde ich hervorragend.


    Was haltet ihr übrigens von den Figuren? Alle scheinen sie ein gewisses Konzept, einen Typ zu vertreten und dennoch sind sie in meinen Augen mehr als das, auch wenn Walter stets (Wagner) spielt und Clarisse Nietzsche liest :zwinker:


    Zitat

    Der Text liest sich jedoch flüssig


    Das geht mir allerdings anders Manjula, ich komme nicht schnell voran, die Lektüre erfordert schon selten grosse Konzentration bei mir. Gleichwohl verngnüglich!


    Dies meine ersten Eindrücke, vielleicht können wir demnächst ja noch mehr ins Detail gehen, da gäbe es doch einige interessante Stellen.


    Imrahil

    "Die Kunst des Nachdenkens besteht in der Kunst..., das Denken genau vor dem tödlichen Augenblick abzubrechen. - Thomas Bernhard, Gehen

    Einmal editiert, zuletzt von Imrahil ()

  • Hallo zusammen,


    ja, Imrahil, meinen ersten Eindruck von der leichten Lesbarkeit musste ich auch revidieren. Der Text ist sehr dicht und komplex. Die Konzentration, die ich ihm schenken muss, lohnt sich aber!


    Ich bin zwischenzeitlich im 43. Kapitel angekommen. Die Geschichte um die Parallelaktion gewinnt langsam an Kontur; es ist natürlich schon etwas spaßig, dass ausgerechnet ein Preuße hier den entscheidenden Schwung verleihen soll. Die Spannungen im Vielvölkerstaat Österreich-Ungarn werden bisher nur angedeutet, ich bin gespannt, ob und wie diese weiter dargestellt werden. Was mich an der Parallelaktion etwas wundert, ist, dass keiner der Beteiligten in Erwägung zieht, dass der Kaiser das Jubiläumsjahr evtl. nicht erleben könnte - er war ja nicht gerade der Jüngste. Ich bin jedenfalls sehr neugierig, was die weitere Handlung angeht.


    Zitat von "Imrahil"

    Trotzdem werden MoE, Ulsysses und A la recherche du temps perdue von Proust in Kanones und literaturwissenschaftlichen Texten stets in einem Atemzug genannt. Was Musil angeht, halte ich die hohe Meinung bisher für berechtigt. Allein die vielen geistreichen Gedanken, Beobachtungen und Formulierungen die der Text enthält, gerade die Stelle über den Geist im 40.Kapitel finde ich hervorragend.


    Ulysses habe ich auch noch nicht gelesen, aber die Leserunde zu "In Swanns Welt" ist bei mir noch ganz frisch. Der Stil ist mE nicht vergleichbar, aber beide Autoren überraschen und begeistern mich mit ihrer Sprachgewalt. Was mir an Musil besonders gefällt, sind die bissigen Stellen, die er ab und an einstreut, wie z.B.


    Zitat

    Es ist ja sehr natürlich, zu denken, dass der Mensch, der sich von fachlich gebildeten Ärzten behandeln lässt, wenn er krank ist, und nicht von Schafhirten, keinen Grund hat, wenn er gesund ist, sich von hirtenähnlichen Schwätzern behandeln zu lassen, wie er es in seinen öffentlichen Angelegenheiten tut...


    oder über Graf Leinsdorf:


    Zitat

    [er war] zeitlebens gehindert, in einem Buch etwas anderes zu erkennen als Übereinstimmung oder irrende Abweichung von seinen eigenen Grundsätzen...


    Und noch ein Zitat:


    Zitat

    Diotimas Gesellschaften waren berühmt dafür, dass man dort an großen Tagen auf Menschen stieß, mit denen man kein Wort wechseln konnnte, weil sie in irgendeinem Fach zu bekannt waren, um mit ihnen über die letzten Neuigkeiten zu sprechen, während man den Namen des Wissenbezirks, in dem ihr Weltruhm lag, in vielen Fällen noch nie gehört hatte.


    Also ist es offensichtlich Augenwischerei zu glauben, die Welt sei erst in letzter Zeit so kompliziert und undurchschaubar geworden :zwinker:


    Liebe Grüße
    Manjula

    [size=10px] "Kunst soll keine Schulaufgabe und Mühseligkeit sein, keine Beschäftigung contre cœur, sondern sie will und soll Freude bereiten, unterhalten und beleben, und auf wen ein Werk diese Wirkung nicht übt, der soll es liegen lassen und sich zu andrem wenden." [/size]

  • Guten Morgen,


    mal wieder eine Zwischenmeldung. Ich bin in Kapitel 56 angelangt und finde die Entwicklung der Parallelaktion sehr amüsant. Diotimas Vorschläge in Kapitel 44 erinnern mich fatal an die Handlungsweise der heutigen Politiker: erst mal 2,3 oder auch 10 Ausschüsse bilden, dann wird das ganze schon laufen. Und in Kapitel 56 wird dann beschrieben, wie es läuft:


    Zitat

    Ein Apparat war da, und weil er da war, musste er arbeiten, und weil er arbeitete, begann er zu laufen, und wenn ein Automobil in einem weiten Feld zu laufen beginnt, und es säße selbst niemand am Steuer, so wird es doch einen bestimmten, sogar sehr eindrucksvollen und besonderen Weg zurücklegen.


    Tja, nur wohin? Zur Asservation wahrscheinlich :zwinker:


    Musil greift auch wieder das Thema der immer komplizierter werdenden Welt auf, z.B. als er Walter in Kap. 54 klagen lässt, es gebe keine Bildung mehr im Goetheschen Sinn. Oder in Kapitel 49 in Arnheims Aussagen über die Kunst: „Allgemeine Zerrissenheit, Extreme ohne Zusammenhang.“ Und mit diesen Worten beschreibt Musil eine Welt, die fast 100 Jahre von uns entfernt ist – faszinierend.


    Sehr gut finde ich auch die plastischen Beschreibungen, z.B. von Fischels Eheleben in Kapitel 51:


    Zitat

    Gemeinsame Schlafräume aber bringen einen Mann, wenn sie verfinstert sind, in die Lage eines Schauspielers, der vor einem unsichtbaren Parkett die dankbare, aber schon stark abgespielte Rolle eines Helden darstellen muss, der einen fauchenden Löwen vorzaubert. Seit Jahren hatte sich Leos dunkler Zuschauerraum dabei weder den leisesten Applaus noch das geringste Zeichen von Ablehnung entschlüpfen lassen…


    Welch elegante und gleichzeitig bissige Schilderung eines eingeschlafenen Ehelebens.


    Und diese Stelle in Kapitel 45 hat mir auch sehr gefallen:


    Zitat

    Man kann stehn oder gehn, wie man will, das Wesentliche ist nicht, was man vor sich hat, sieht, hört, will, angreift, bewältigt. Es liegt als Horizont, als Halbkreis voraus, aber die Enden dieses Halbkreises verbindet eine Sehne, und die Ebene dieser Sehne geht mitten durch die Welt hindurch. … Und da er (der Mensch) durchs Leben dringt und Gelebtes hinter sich lässt, bilden das noch zu Lebende und das Gelebte eine Wand, und sein Weg gleicht schließlich dem eines Wurms im Holz, der sich beliebig winden, ja auch zurückwenden kann, aber immer den leeren Raum hinter sich lässt.


    Mir gefallen diese immer wieder zwischen die eigentliche Handlung eingestreuten Gedanken, die viel Stoff zum Nach-Denken geben. Ich bin mir schon fast sicher, dass dies ein Buch ist, das ich alle paar Jahre wieder lesen und immer wieder Neues entdecken kann.


    Viele Grüße
    Manjula

    [size=10px] "Kunst soll keine Schulaufgabe und Mühseligkeit sein, keine Beschäftigung contre cœur, sondern sie will und soll Freude bereiten, unterhalten und beleben, und auf wen ein Werk diese Wirkung nicht übt, der soll es liegen lassen und sich zu andrem wenden." [/size]

  • Hm, ich fühle mich etwas einsam – Imrahil, Bloom, seid Ihr schon fertig, habt Ihr noch Lust zum Diskutieren?


    Die letzten paar Kapitel (ich bin gerade im 71.) waren zugegebenermaßen schwere Kost für mich. Musils Gedanken zu Idealen und Utopien sind nicht leicht durchschaubar, ich glaube, das muss sich alles noch etwas bei mir setzen. Über Sätze wie


    Zitat

    Philosophen sind Gewalttäter, die keine Armee zur Verfügung haben und sich deshalb die Welt in der Weise unterwerfen, dass sie sie in ein System sperren


    könnte man lange diskutieren.


    Aber ich habe noch eine für mich sehr erstaunliche Entdeckung gemacht, und zwar über Musils Einfluss auf andere Schriftsteller. In Kapitel 67 findet sich die Stelle:


    Zitat

    Mit dem großen Kleid , seinen Rüschen, Puffen, Glocken. Glockenfällen , Spitzen und Raffungen hatten sie sich eine Oberfläche geschaffen, die fünfmal so groß war wie die ursprüngliche und einen faltenreichen, schwer zugänglichen, mit erotischer Spannung geladenen Kelch bildete, der in seinem Inneren das schmale weiße Tier verbarg, das sich suchen ließ und fürchterlich begehrenswert machte.


    Die Formulierungen kamen mir bekannt vor und nach einigem Nachdenken kam ich darauf, dass in dem Familienroman "Das Mädchen Senta" von Marie Louise Fischer folgende Formulierung vorkommt:


    Zitat

    Sie lag vor ihm in einem durchsichtigen Negligé voller Rüschen, Spitzen und Raffungen, das einen faltenreichen, schwer zugänglichen und gerade deshalb mit erotischer Spannung geladenen Kelch bildete, der in seinem Inneren das schmale weiße Tier mit dem brennendroten Haar verbarg, das sich nur ahnen und suchen ließ.


    So hat der MoE sogar Eingang in Trivialliteratur gefunden (ich hoffe, ich werde für den Besitz dieses Buchs hier nicht gesteinigt :zwinker:).


    Viele Grüße
    Manjula

    [size=10px] "Kunst soll keine Schulaufgabe und Mühseligkeit sein, keine Beschäftigung contre cœur, sondern sie will und soll Freude bereiten, unterhalten und beleben, und auf wen ein Werk diese Wirkung nicht übt, der soll es liegen lassen und sich zu andrem wenden." [/size]

  • Liebe Manjula,


    Möchte mich für mein Schweigen entschuldigen. Ich musste (und muss) ein paar andere Bücher zwischenschalten (Uniprüfungen), werde aber nächste Woche die Lektüre wieder aufnehmen können und mich wieder melden, bin bis dato ca. bei Kapitel 80 angelangt.


    Liebe Grüsse,
    Imrahil

    "Die Kunst des Nachdenkens besteht in der Kunst..., das Denken genau vor dem tödlichen Augenblick abzubrechen. - Thomas Bernhard, Gehen

  • Hallo Imrahil,


    kein Problem, ich bin auch noch nicht viel weiter. Melde Dich einfach, wenn Du wieder Zeit und Muße hast, eine Leserunde soll ja nicht in Streß ausarten (davon haben wir sonst doch schon genug).


    Liebe Grüße und ein schönes Wochenende :winken:
    Manjula

    [size=10px] "Kunst soll keine Schulaufgabe und Mühseligkeit sein, keine Beschäftigung contre cœur, sondern sie will und soll Freude bereiten, unterhalten und beleben, und auf wen ein Werk diese Wirkung nicht übt, der soll es liegen lassen und sich zu andrem wenden." [/size]

  • Hallo,


    mit schlechtem Gewissen melde ich mich wieder. Wenn man sich an einer gemeinsamen Lesung beteiligt, sollte man sich auch nicht vor der Diskussion drücken, doch MoE lässt mich hilflos zurück. Dieses Buch ist für mich wie ein voll gestopfter Briefkasten, der lediglich Prospekte und Rechnungen enthält. Wir widerstrebt es weiter MoW einen Roman zu nennen, so wie ich ein aufgeblasenes Gerippe auch nicht Lebewesen nennen würde. Vor Wochen hatte ich schon den ersten Band der Rowohlt-Ausgabe, der bis zum 39.Kapitel des 2. Buches geht, fertig gelesen und ich habe nicht die Absicht, die unbearbeiteten Kapitel und Fragmente des 2. Bandes zu lesen. Meine Haltung hat sich nicht geändert. Im 2. Buch sah ich am Anfang eine Neuorientierung; die ersten Kapitel versprachen eine stärkere Orientierung an der Handlung, und die Einführung von Ulrichs Schwester schuf eine gewisse Spannung, da in ihrem Leben Widersprüche zu Veränderungen führen mussten. Musil gelang es aber auch hier, daraus einen lebensfremden Balanceakt zu machen, den Agathe auf einer Bibliotheksleiter mit schwergewichtigen, weitgehend ungenannten, Werken vollführt.
    Mir bleibt als einzige positive Erinnerung das Skelett der „Parallelaktion“ mit Musils Sarkasmus. Natürlich ist sie eine Burleske und Charakterisierung eines erstarrten Systems, in dem jeder Ansatz von Dynamik durch die Hilflosigkeit und Entscheidungshemmung der maßgebenden Figuren erstickt. Deshalb kann auch der Aspekt eines möglichen Ablebens des alten Kaisers nicht in den Sinn der „Akteure“ kommen, da sich alles um seine autokratische Herrschaft dreht und er der Einzige ist, der überhaupt entscheiden kann (bedenken wir auch, dass er immerhin bis 1916 durchgehalten hat). Etwas von ihm klingt im 2. Buch in der Figur von Ulrichs Vater an, einer ebenfalls autokratischen Figur napoleonischen Zuschnitts, familienfremd, der nach seinem Tod die Kinder (Volk) versorgt aber orientierungslos zurücklässt.
    Der Vergleich von MoE mit dem Zauberberg und Ulysses deutet auf eine Hilflosigkeit des Feuilletons hin. Es liegt ein mächtiges Fragment eines bedeutenden Dichters vor, durchwebt mit geheimnisvollen Bezügen die kaum jemand bewältigen kann, und man muss es würdigen. Wir erleben diese Hilflosigkeit der Kritiker gerade bei den Besprechungen des neuen Romans von Thomas Pynchon.
    Während sich die beiden anderen genannten Romane mit der verwickelten Welt beschäftigen, sie quasi modelieren, überträgt Musil die Komplexität der Welt auf das Leben. Das Leben ist aber nicht komplex sondern einfach (jedenfalls für die meisten Menschen und die meiste Zweit über), wenn es auch nicht leicht ist, und das wird im MoE verwechselt. Musil hat das Projekt MoE, auch nach langen Jahren, nicht abgeschlossen, und ich habe den Verdacht, er war auch etwas hilflos, hat sich verzettelt, oder er hatte Angst vor dem Ende. Das Ende wäre spätestens im August 1914 gekommen, und davor darf man ja auch Angst haben


    Ich entschuldige mich für mein langes Schweigen


    Bloom

  • Hallo zusammen


    mit schlechtem Gewissen melde ich mich wieder. [...]
    Ich entschuldige mich für mein langes Schweigen


    da schließe ich mich doch mal an - irgendwie scheint der MoE generell ein schlechtes Gewissen hervorzurufen. Dass ich mich solange nicht gemeldet habe, liegt zum einem an mangelnder Zeit, aber leider auch daran, dass ich mit dem Buch nur im Schneckentempo vorankomme (gestern habe ich das 91. Kapitel beendet). Wie Dir, Bloom, fällt es mir schwer, etwas zu dem Buch zu sagen, da eine Handlung fast nicht vorhanden ist und die Philosophien, Ideen und Gedanken, die statt dessen im Vordergrund stehen, mich einigermaßen ratlos zurücklassen. Evtl. kann man die Größe des Buchs erst abschätzen, wenn man ihn in Gänze kennt? Das jedenfalls möchte ich feststellen und deshalb werde ich ihn auf jeden Fall fertig lesen (auch wenn es noch "etwas" dauern wird).


    Liebe Grüße
    Manjula

    [size=10px] "Kunst soll keine Schulaufgabe und Mühseligkeit sein, keine Beschäftigung contre cœur, sondern sie will und soll Freude bereiten, unterhalten und beleben, und auf wen ein Werk diese Wirkung nicht übt, der soll es liegen lassen und sich zu andrem wenden." [/size]

  • Evtl. kann man die Größe des Buchs erst abschätzen, wenn man ihn in Gänze kennt? Das jedenfalls möchte ich feststellen und deshalb werde ich ihn auf jeden Fall fertig lesen (auch wenn es noch "etwas" dauern wird).


    Liebe Grüße
    Manjula


    Manjula:


    Das ist eines der Probleme mit dem Buch. Es gibt kein Ende und es gibt keine Richtung. Der „Roman“ verdorrt langsam mit jedem Kapitel etwas mehr. Ich weiß nicht, ob du schon in den 2. Band hineingeschaut hast. Er ist fragmentarisch, in einigen Texten redundant und wohl mehr für die wissenschaftliche Erschließung bestimmt. Ich habe einiges überflogen, mehr nicht, und dabei soll es auch bleiben,


    Viel Erfolg und großes Kompliment für deine Zähigkeit


    Bloom

  • Guten Abend,


    übers verlängerte Wochenende hatte ich viel Zeit zum Lesen - ich bin mit dem ersten Buch fertig. Was mir - naja, nicht als einziges :zwinker: - unklar bleibt, ist die Bedeutung von Ulrichs und Gerdas Affäre. Sie ist ja wohl widerstrebend in ihn verliebt, aber was hat ihn dazu getrieben? Warum hat er das Gefühl, er müsse "dieses Beisammensein mit Gerdas zu einem Ende" führen? Überhaupt, die Frauen: Clarisses Verführungsversuch fand ich auch sehr merkwürdig.


    Sehr gut gefallen haben mir dagegen Musils Gedanken über die Beeinflussbarkeit der Menschen und ihre Vorurteile gegen Fremde, z.B. in Kapitel 94:


    Zitat

    nun sind völkische Abneigungen gewöhnlich nichts anderes als Abneigung gegen sich selbst


    oder in Kapitel 116, wo er beschreibt, warum Menschen lügen oder gewalttätig werden. Die Schilderung der Demonstration passt hier auch gut dazu, z.B. in Kapitel 120:


    Zitat

    ...voraussichtlich werden es unter allen die Erregbarsten, Empfindlichsten und Widerstandsunfähigsten sien, das heißt aber auch die Extremen, zu plötzlicher Gewalttat oder rührseligem Edelmut Fähigen, die das Beispiel geben und den Weg öffnen...


    Und einmal musste ich sogar grinsen, nämlich, als Ulrich Diotima als in Gedanken als Riesenhuhn bezeichnet.


    Grüße
    Manjula

    [size=10px] "Kunst soll keine Schulaufgabe und Mühseligkeit sein, keine Beschäftigung contre cœur, sondern sie will und soll Freude bereiten, unterhalten und beleben, und auf wen ein Werk diese Wirkung nicht übt, der soll es liegen lassen und sich zu andrem wenden." [/size]

  • Hallo Manjula,


    wir haben dich einsam zurückgelassen, aber du bleibst tapfer am MoE; ich konnte es nicht mehr ertragen.


    An die Charakterisierung Diotimas als „Riesenhuhn“ kann ich mich nicht mehr erinnern. Doch habe ich von ihr eine sehr klare Vorstellung. Heute würde man sie wohl als „Vollweib“ einordnen, wobei der Ausdruck „Glucke“ durchaus passend und nahe an deinem Zitat wäre.


    Clarissa ist aus meiner Sicht die „Parallelaktion“ ;-) zum Lustmörder. Sie ist eine Lustmörderin, jedoch nicht im Sinne, dass sie aus Lust mordet, sondern sie mordet ihre eigene Lust. Erkennbar ist das auch in ihrer Faszination, an dem Kranken, in dem sie sich spiegelt. Sie wäre aber keine Frau, wenn sie sich nicht vergewissern müsste, dass sie für Männer attraktiv ist, und sie erprobt das an dem Mann von dem sie erwarten kann, dass er ihr widersteht, weil Ulrich als MoE über den Dingen schwebt und auch als Freund ihres Mannes gewisse Hemmungen hat. Ihn kann sie gefahrlos bewundern, während sie andere Männer, die sich zu ihr hingezogen fühlen, verachtet.
    Ulrich und Gerda; Geschwisterliebe ist natürlich ein Tabu, soweit mir bekannt ist, auch heute noch strafbar, wenn sie sich sexuell ausdrückt. Verstanden habe ich die Beziehung in MoE nicht. Gerda ist bei allem Anspruch auf Selbstständigkeit unsicher und leichtsinnig in ihren Entschlüssen, was sich in der überstürzten Heirat ausdrückte. Bestimmt durch ihren autokratischen Vater könnte es sein, dass sie in Ulrich eine Vaterfigur sieht und Ulrich mit gleichem Hintergrund eine Beschützerrolle spielt. Zu Psychoanalytiker eigene ich aber nicht und was ich geschrieben habe ist mehr oder minder zusammen gesponnen. Vielleicht können andere aus dem Forum zur Aufklärung beitragen oder die Debatte anheizen.



    Die Bemerkung von StephenDedalus habe ich übrigens auch nicht verstanden. Sicherheitshalber lehne ich zu ihm jede verwandtschaftliche Beziehung ab, auch wenn sich das von unseren Pseudonymen her vermuten ließe ;-)

  • Hallo Bloom,


    das ist nett von Dir, dass Du mir noch Gesellschaft leistest :smile: Sorry, dass ich mich solange nicht gemeldet habe.


    Das "Riesenhuhn" war für die Handlung völlig unwichtig, ich fand nur den Ausdruck in Zusammenhang mit der hochgestochenen Diotima ganz witzig.


    Zitat

    Clarissa ist aus meiner Sicht die „Parallelaktion“ zum Lustmörder. Sie ist eine Lustmörderin, jedoch nicht im Sinne, dass sie aus Lust mordet, sondern sie mordet ihre eigene Lust. Erkennbar ist das auch in ihrer Faszination, an dem Kranken, in dem sie sich spiegelt. Sie wäre aber keine Frau, wenn sie sich nicht vergewissern müsste, dass sie für Männer attraktiv ist, und sie erprobt das an dem Mann von dem sie erwarten kann, dass er ihr widersteht, weil Ulrich als MoE über den Dingen schwebt und auch als Freund ihres Mannes gewisse Hemmungen hat. Ihn kann sie gefahrlos bewundern, während sie andere Männer, die sich zu ihr hingezogen fühlen, verachtet.


    Deine Charakterisierung von Clarisse finde ich schlüssig. Ihre Faszination für den Wahnsinn kommt in den späteren Kapiteln noch sehr deutlich zum Ausdruck; sie schafft es ja auch tatsächlich, Moosbrugger in der Anstalt zu besuchen. Interessant fand ich hier, dass Musil sie wiederholt als "auf dem Weg in den Wahnsinn" bezeichnet; ansonsten lässt er ja alles recht wolkig und den Leser seine eigenen Schlüsse ziehen.


    Zitat

    Ulrich und Gerda; Geschwisterliebe ist natürlich ein Tabu, soweit mir bekannt ist, auch heute noch strafbar, wenn sie sich sexuell ausdrückt. Verstanden habe ich die Beziehung in MoE nicht. Gerda ist bei allem Anspruch auf Selbstständigkeit unsicher und leichtsinnig in ihren Entschlüssen, was sich in der überstürzten Heirat ausdrückte. Bestimmt durch ihren autokratischen Vater könnte es sein, dass sie in Ulrich eine Vaterfigur sieht und Ulrich mit gleichem Hintergrund eine Beschützerrolle spielt. Zu Psychoanalytiker eigene ich aber nicht und was ich geschrieben habe ist mehr oder minder zusammen gesponnen. Vielleicht können andere aus dem Forum zur Aufklärung beitragen oder die Debatte anheizen.


    Ich glaube, dass Gerda zu den Personen gehört, von denen man in den fehlenden Kapiteln noch sehr viel mehr erfahren hätte. Aber auch dann wäre es natürlich schwierig, ihr Handeln einzuschätzen. Auf mich macht sie jedenfalls auch einen sehr unsicheren und unglücklichen Eindruck.


    Zitat

    Die Bemerkung von StephenDedalus habe ich übrigens auch nicht verstanden.


    Das beruhigt mich, mir ging es nämlich genauso.


    So, und jetzt meine Erfolgsmeldung: ich habe den MoE in der Zwischenzeit beendet. Bis zum Schluss habe ich allerdings auch nicht gelesen; nach "Agathes Traum" (in meiner Ausgabe die Seite 1509) wurde mir das Ganze dann doch zu fragmentarisch und stückhaft.


    Ein Fazit zu diesem Buch fällt mir schwer. Ich habe sicher schon einige Werke nicht verstanden, aber es ist mir nie so deutlich geworden wie bei diesem. Das Buch erscheint mir wie ein Mosaik, bei dem nicht nur einige Teile fehlen, sondern (mir jedenfalls) auch noch der Hintergrund; ich merke zwar, dass Musil hier Geschichte, Psychologie, Mystik... verwebt, aber um es einordnen zu können, fehlt mir schlicht das Hintergrundwissen.


    Trotzdem bereue ich nicht, den MoE gelesen zu haben, denn viele Stellen werden mir noch lange zu denken geben; auch hat mir der Stil sehr gefallen, Sätze wie "...die Landschaft war grün und kühl mit blutigen Streifen; die Welt war noch immer niedrig und reichte Clarisse, die auf einer kleinen Anhöhe stand, nur bis an die Knöchel." oder "Ein geräuschloser Strom leichten Blütenschnees schwebte, von einer abgeblühten Baumgruppe kommend, durch den Sonnenschein, und der Atem, der ihn trug, war so sanft, dass sich kein Blatt regte." sind poetisch schön. Und nicht zuletzt waren auch die immer wieder aufblitzenden Seitenhiebe auf die Gesellschaft, Kakanien, den Adel... sehr amüsant.


    Sehr bedauerlich, dass Musil den MoE nicht beenden konnte. Es würde mich schon sehr interessieren, wie er ihn hätte enden lassen, was auch Clarisses Wahnsinn geworden wäre, wie sich Ulrich und Agathe weiterentwickelt hätten, wie die Parallelaktion endgültig versandet wäre, wie der Krieg die Geschichte beeinflusst hätte (eines der fragmentarischen Kapitel spielt ja tatsächlich schon während des Kriegs - ich hatte immer gedacht, dass dieser im MoE gar nicht auftaucht).


    Trotzdem: ein sehr lohnendes Buch. Und eins, das (zumindest in Teilen) schon fest auf der Wiederleseliste steht.


    Liebe Grüße
    Manjula

    [size=10px] "Kunst soll keine Schulaufgabe und Mühseligkeit sein, keine Beschäftigung contre cœur, sondern sie will und soll Freude bereiten, unterhalten und beleben, und auf wen ein Werk diese Wirkung nicht übt, der soll es liegen lassen und sich zu andrem wenden." [/size]