Hallo zusammen,
wie es scheint, war die Erinnerungsszene ein echter Wendepunkt in Marcels Leben: Kann es sein, dass er sein altes Leiden, das ewige Vorsichherschieben, überwunden hat und nun endlich tätig wird? Vorerst macht er sich zwar nur Gedanken über seine Arbeit, aber immerhin. Und diese Gedanken sind mal wieder hochinteressant zu lesen. So stellt er z.B. fest, dass ohne Leiden keine Kunst möglich ist:
ZitatDas Glück ist einzig heilsam für den Leib, die Kräfte des Geistes jedoch bringt der Schmerz zur Entfaltung.
Über dieses Thema hatten wir ja schon in der Leserunde zum ersten Band diskutiert. Prousts Leben und Werk scheinen diese These ja zu bestätigen. Ob er auch die folgende Feststellung
ZitatOft schreiben Autoren, in deren Tiefen jene geheimnisvollen Wahrheiten nicht mehr auftauchen, von einem gewissen Alter an nur noch mit dem Verstande, der sich in ihnen machtvoll durchgesetzt hat; die Bücher ihres reiferen Alters weisen daher mehr Kraft als die ihrer Jugend auf, doch ist ihnen der gleiche samtene Anschlag nicht mehr eigen.
aus eigener Anschauung geschrieben hat? Aus Sicht des Schriftstellers muss eine solche Sichtweise doch deprimierend sein.
Am schönsten fand ich seine Gedanken über die Leser – jedem seine persönliche Erstausgabe, ist das nicht herrlich? Eigentlich nimmt Proust ja dem Schriftsteller ein bisschen die Deutungshoheit über sein eigenes Werk aus der Hand, wenn er schreibt, dass ein Buch nur ein Art optisches Instrument, ein Spiegel des Lesers sei – das verstehe ich so, dass ein Werk nie DIE EINE Bedeutung hat, sondern unendlich viele, je nach Leser. Vielleicht bemisst sich ja sogar der Wert eines Buchs danach, wie viele Deutungen und Lesarten es zulässt?
Eine Stelle fand ich noch ganz eindrücklich, und zwar als Marcel von den unzähligen Photonegativen spricht, die oft vom Verstand gar nicht entwickelt werden. Ein wunderbares Bild für die vielen Erinnerungen, die wir unbewusst speichern, um sie irgendwann vielleicht einmal abzurufen.
Zitatdie Wartezeit in der Bibliothek der Guermantes ist für den Erzähler und für den Leser ein Rausch an Erinnerungen
„Ein Rausch von Erinnerungen“ – ja, dieser Ausdruck trifft es sehr gut. Marcel wird ja förmlich überspült davon. Als ich Deinen Beitrag las, JMaria, fiel mir ein, wie ich das Buch anfing: da kamen auch ganz viele Erinnerungen hoch, an die ich schon ewig nicht mehr gedacht hatte. Schon da hatte mich diese Erzählweise also in ihren Bann gezogen und genau das bewirkt, worüber Proust erst einige tausend Seiten später schreibt. Dieses Buch ist wie ein Kaleidoskop.
Viele liebe Grüße
Manjula