September 2006 - Marcel Proust


  • Vielleicht - das fällt mir eben erst ein - ist aber dieser Stil auch bewusst als Symbol für den Zustand des Erzählers gewählt? Auch er macht ja den Eindruck des Stillstands; bei seiner Arbeit macht er keine Fortschritte und die Beziehung zu Albertine dreht sich ja auch mehr oder weniger im Kreis. Ich werde mal darauf achten, ob sich der Stil wieder ändert, wenn sich auch sein Leben ändert.


    Hallo zusammen,
    hallo Manjula


    ein interessanter Gedanke und gibt mir den Anreiz darauf zu achten, denn dieses sich im kreisbewegen lullt mich ein.


    Das unbekannte Stück von Vinteuil, das als Septett gespielt wird, zeigt deutlich wie wichtig dem Erzähler die Kunst ist. Die Musik kann ein Stück Unsterblichkeit vermitteln. Vielleicht betrachtet er diesen Gesichtspunkt neidvoll; nämlich dass Musik so viel vollkommener sein kann als die Schriftstellerei in seinen Augen. Deswegen vermutlich auch sein beruflicher Stillstand. Musik spielt DIE große Rolle in dem Proust-Zyklus, das auch in 7 Bänden aufgeteilt ist, wie nun das unbekannte Musikstück von Vinteuil, das bei den Verdurins gespielt wird.


    Mir kam der Gedanke, dass auch bei Thomas Mann die Musik in seinen Werken eine große Rolle spielte. Das Künstlertum an sich das Höchste im Leben von Thomas Mann; die Musik vielleicht etwas anders gehandhabt von ihm als Proust es tat.


    Viele Grüße
    Maria

    In der Jugend ist die Hoffnung ein Regenbogen und in den grauen Jahren nur ein Nebenregenbogen des ersten. (Jean Paul F. Richter)

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  • Hallo zusammen !



    Vielleicht - das fällt mir eben erst ein - ist aber dieser Stil auch bewusst als Symbol für den Zustand des Erzählers gewählt? Auch er macht ja den Eindruck des Stillstands; bei seiner Arbeit macht er keine Fortschritte und die Beziehung zu Albertine dreht sich ja auch mehr oder weniger im Kreis. Ich werde mal darauf achten, ob sich der Stil wieder ändert, wenn sich auch sein Leben ändert.


    Das finde ich auch einen spannenden Gedanken. Könnte ich mir schon vorstellen, dass der Stil den Zustand des Erzählers und des Autors widerspiegelt. Irgendwo las ich auch einen kleinen Satz über Prousts Befinden, mal sehen, ob ich ihn wiederfinde.


    Zitat


    Sehr interessant finde ich übrigens die Entwicklung, die Charlus im Lauf des Werks macht. Am Anfang stellt er sich für Marcel als kühner, etwas grausamer Frauenheld dar. Dieses Bild bekommt immer mehr Risse, und die Szene vor dem Empfang bei Mme Verdurin zeigt ihn als alternden, etwas "tuckigen" (sorry, aber mir fällt gerade kein besserer Ausdruck ein) Homosexuellen, der sich kaum noch im Griff hat. Der Erzähler bedauert - da er ihn für sehr talentiert hält - , dass Charlus nicht Schriftsteller wurde, sonder sein Leben mit "glänzenden Festen und fragwürdigen Zerstreuungen" verplempert. Eigentlich beschreibt er sich damit selbst.


    Diese Entwicklung Charlus' ist mir ebenfalls aufgefallen. Und ich hatte schon auch das Gefühl, dass sich Marcel darin spiegelt. Trotzdem hat er kein Ziel vor Augen und lässt sich in der Gesellschaft treiben. Nur in seinen Gefühlen kann er schwelgen, sonst ist er verblüffend tatenlos.


    Gruß von Steffi

    Gruß von Steffi

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  • Hallo zusammen,


    in einem Satz (bei mir auf S. 368) gibt mMn Proust Einblick in das "Wesen" seines Zyklus:


    Unterdessen hatte man wieder zu spielen angefangen, und das Septett ging seinem Ende entgegen; mehrmals noch kehrte das eine oder andere Thema aus der Sonate wieder, doch jedesmal abgewandelt, in anderem Rhythmus oder mit anderer Begleitung, gleich und dennoch verschieden, so wie die Dinge im Leben wiederkehren; ....


    Da sein Zyklus aus 7 Bänden besteht, seh ich hier schon eine Verbindung.


    Schöne Grüße
    Maria

    In der Jugend ist die Hoffnung ein Regenbogen und in den grauen Jahren nur ein Nebenregenbogen des ersten. (Jean Paul F. Richter)

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  • Hallo !


    Maria, wie du nur immer solche Hinweise findest ! Für mich ist das auch plausibel.


    Gestern konnte ich ein Stückchen weiterlesen :zwinker:
    Charlus reißt auf der Soiree alles an sich und hält groß Hof, aber Mme Verdurin plant eine ihrer Intrigen. Unser Marcel scheint recht beeindruckt von Charlus, mir scheint, dass er Stellung bezieht und eine eigene Meinung hat. Auch die Grenzen werden mir nicht so ganz klar, soll sich das wirklich abspielen oder findet das alles in Marcels Kopf statt ? Sozusagen ein Vorgiff auf seine Bücher ?


    In Bezug auf den Titel gibt es sehr viele Gefangene in diesem Band: Albertine, Marcel, Mme Verdurin, Charlus ... Ist nicht jeder irgendwie gefangen in seinen Vorstellungen und dem Bild, das man von sich selbst hat ?


    Gruß von Steffi

  • Hallo zusammen,




    .... aber Mme Verdurin plant eine ihrer Intrigen.


    "Sie schreckt nicht davor zurück, gleich das Messer anzusetzen..." :breitgrins:


    Zitat von "Steffi"


    In Bezug auf den Titel gibt es sehr viele Gefangene in diesem Band: Albertine, Marcel, Mme Verdurin, Charlus ... Ist nicht jeder irgendwie gefangen in seinen Vorstellungen und dem Bild, das man von sich selbst hat ?


    Der Gedanke gefällt mir gut!


    Zitat von "Steffi"


    Auch die Grenzen werden mir nicht so ganz klar, soll sich das wirklich abspielen oder findet das alles in Marcels Kopf statt ? Sozusagen ein Vorgiff auf seine Bücher ?


    teils - teils *grübel*
    es dreht sich ja alles darum, dass wir nur seine Sicht erleben und da kann sich so einiges anders abgespielt haben. Für den Erzähler Unwichtiges, wird einfach schnell dahin geworfen (wie der Tod Saniettes, dem Armen)... anderes, insbesondere wenn es über Kunst geht, lässt er sich sehr ausführlich darüber aus und kennt in seinen Gedanken wirklich keine Grenzen.. Weil es für seinen Roman wichtig ist.


    Was ich noch schön fand, waren die Rückerinnerungen (während des Septetts) von diversen Erlebnissen an Stätten wie z.B. Combray, Balbec, Donciere usw.
    Durchaus eine Aufforderung des Erzählers sich zu erinnern und sogar nochmals nachzulesen.


    Schöne Grüße
    Maria

    In der Jugend ist die Hoffnung ein Regenbogen und in den grauen Jahren nur ein Nebenregenbogen des ersten. (Jean Paul F. Richter)

  • Guten Morgen,


    irgendwie komme ich zur Zeit nicht so recht vorwärts, ich hoffe, dass sich das bald wieder ändert.


    Die Parallelen Musik - Dichtung sind mir beim Lesen auch aufgefallen. Marcel beschreibt ja auch, dass Vinteuil sich immer wieder "erneuert" und nie altmodisch werden kann. Wohl ein Traum auch für jeden Schriftsteller.



    In Bezug auf den Titel gibt es sehr viele Gefangene in diesem Band: Albertine, Marcel, Mme Verdurin, Charlus ... Ist nicht jeder irgendwie gefangen in seinen Vorstellungen und dem Bild, das man von sich selbst hat ?


    Stimmt, sehr schlüssiger Gedanke.


    Viele Grüße
    Manjula

    [size=10px] "Kunst soll keine Schulaufgabe und Mühseligkeit sein, keine Beschäftigung contre cœur, sondern sie will und soll Freude bereiten, unterhalten und beleben, und auf wen ein Werk diese Wirkung nicht übt, der soll es liegen lassen und sich zu andrem wenden." [/size]

  • Hallo zusammen !


    Na, ich bin froh, dass nicht nur ich bei diesem Band zur Leseschnecke mutiere.


    Im Moment ist es aber wieder sehr amüsant. Nachdem ich den längsten Satz der 'Recherche' überwunden habe: Das aus Träumen entstiegene Kanapee zwischen neuen, sehr wirklichen Sesseln, die kleinen, mit rosa Seide bezogenen Stühle, ... (S. 407 st 3645) ist mal wieder Charlus am Zug. Zusammen mit Brichot und Marcel geht es um den Anteil der Homosexuellen in der Gesellschaft, um Swann und ob er ebenfalls homosexuell war und um Odette. Natürlich weiß Charlus alles besser und auch Marcel (und somit wir) erfahren Neuigkeiten :breitgrins: Ich kann mir diese Gespräche zwischen den, ach so vornehmen Personen auf einer Soiree, in der sogar eine 'Königin' teilnimmt, richtig gut vorstellen.


    Gruß von Steffi

  • Hallo ihr beiden !


    Anhand von Charlus erfahren wir auch noch etwas über dieses "Gefangensein":
    Der Fall einer affektierten alten Frau wie Monsieur de Charlus ... untersteht seinerseits einem größeren Gesetz ... wir sehen an uns nicht den Körper, den die anderen sehen, und 'folgen' unserer Vorstellung, dem Objekt, das uns vorschwebt, den anderen aber unsichtbar bleibt (nur manchmal sichtbar gemacht wird durch einen Künstler in einem Werk ...(S.494 st 3645)


    Proust oder Marcel versuchen also, die innere, persönliche Vorstellung sichtbar zu machen, zu ergründen.


    Im weiteren Verlauf kommt es zu einer großen Szene zwischen Marcel und Albertine. Wie in einem Theaterstück analysiert und plant Marcel seine Trennung von Albertine. Dass er dabei genau auf die Mittel der Lüge zurückgreift, die er Albertine vorwirft, ist schon bezeichnend. Die Idee, sich zu trennen und wieder zu versöhnen, sich zu trennen usw., eine häppchenweise Trennung sozusagen, damit die endgültige Trennung dann nicht so weh tut, finde ich ziemllich schauerlich. Es mag ja von einem egoistischen Standpunkt her einleuchtend sein, doch übersieht Marcel die Empfindungen von Albertine. Aber um die ging es ja auch noch nie. Er behandelt sie wie ein gefangenes Insekt, dass man studiert.


    Gruß von Steffi

  • Guten Abend,


    ja, besonders das zweite passt für mich auch zu Albertines "schwerer Schönheit". Schöne Bilder!


    Dass es bei Dir wieder schneller voran geht, gibt mir Hoffnung :zwinker: Mir geht es momentan so, dass mir das Buch sehr viel Stoff zum Nachdenken gibt, so dass ich es oft zur Seite lege, um über die einzelnen Szenen nachzugrübeln. Das Gespräch zwischen Charlus und Mme de Mortemart fand ich z.B. sehr aufschlussreich. Zum einen ist es recht witzig (als er Elianes Aufforderung, an sie zu denken, wörtlich nimmt; die tanzenden Tees), andererseits lässt es auch ziemlich tief blicken, wie ichbezogen und intrigant "die Gesellschaft" ist: Charlus benutzt Mme Verdurin nur als Vehikel für seinen Protegé, wobei es nicht die Musik ist, die ihn ihm wertvoll macht; auch Mme de Mortemart interessiert sich für Morel lediglich aus Prestigegründen; sie findet nichts dabei, Mme de Valcourt nicht einzuladen und danach anzulügen...Interessant fand ich auch die Reaktion des Peruaners, der ihren Blick auf sich bezieht, und sich für eine nur eingebildete Kränkung heftig an ihr rächen will. Die Rache, die er sich ausdenkt, klingt zwar lachhaft, wäre aber doch geeignet, Mme de Mortemart gesellschaftlich unmöglich zu machen. Kaum zu glauben, wie sehr die handelnden Personen um sich selbst kreisen.


    Viele Grüße
    Manjula

    [size=10px] "Kunst soll keine Schulaufgabe und Mühseligkeit sein, keine Beschäftigung contre cœur, sondern sie will und soll Freude bereiten, unterhalten und beleben, und auf wen ein Werk diese Wirkung nicht übt, der soll es liegen lassen und sich zu andrem wenden." [/size]

  • Hallo zusammen,


    Marcel kommt nach Hause, sieht das beleuchtete Fenster, fühlt sich selbst als Gefangener. Gefangener seine Eifersucht, würde ich mal sagen.


    Das nun verlaufende Gespräch fand ich persönlich als ein weiterer Höhepunkt. Richtig spannend, wie sich Albertines Gefühle überschlagen. Vor Ärger verwendet sie Slang (in die Suppe spucken). Ähnlich wie mit dem vielen lesen von Büchern; sie bedient sich ja aus Marcels Bibliothek. Daraus schließe ich, dass sie ihrem Liebsten nicht langweilig werden möchte und so bemüht sie sich, ihm und der Gesellschaft ebenbürtig zu werden. So auch die Aufdeckung der Lüge, dass sie Mademoiselle Vinteuil durch ihre mütterliche Freundin näher kennt. Doch ich sehe ein einsames Mädchen, mit gewisser Raffinesse, das sich wichtig machen wollte, interessant erscheinen wollte, vorgibt mehr von Musik zu verstehen als eigentlich der Fall ist.


    Doch so nach und nach bemerkt Albertine, dass sie eine Gefangene ist, dass jemand, der sie beobachtet sie besser kennen müsste, als sie sich selbst, wie sie zu ihrer Freundin Andrée sagt.


    Zwar sollte man sich in Erinnerung rufen, dass wir Albertine nur als der Perspektive des Erzählers sehen, doch ich hungere regelrecht nach ein paar kleinen Hinweisen um einen Hauch von Albertine erhaschen zu können. Manchmal zeigt sich ein kleiner Hinweis, finde ich.


    Was es mit dem Begriff „hintenherum“ auf sich hat, glaube ich auch nicht an die Interpretation des Erzählers.


    Steffi,
    die Bilder sind ja wunderbar. Ich kann mir Albertine im 2. Kleid am besten vorstellen :-)


    Schöne Grüße
    Maria

    In der Jugend ist die Hoffnung ein Regenbogen und in den grauen Jahren nur ein Nebenregenbogen des ersten. (Jean Paul F. Richter)

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  • Hallo !


    So, ich habe nun diesen Band beendet. Zwischendrin hatte ich ja meine Schwierigkeiten, da die langen essyaistischen Passagen über Kunst doch manchmal ermüdend waren. Aber dann die letzten 100 Seiten kam ich besser voran und ich bin schon gespannt auf den nächsten Band. Was wird Proust wohl noch alles zu diesem Thema einfallen, welche Seiten könnte er noch nicht beleuchtet haben ?


    Gruß von Steffi

  • Hallo zusammen,


    ich bin nun auch durch. Die letzten 50 Seiten sind durchdrungen von Gedanken an Tod, Abschied, Trauer. Marcels Erkenntnis, dass Liebe Raum und Zeit ist, dem Herzen fühlbar gemacht, hilft ihm auch nicht weiter. Seine Liebe hat weder Raum, noch Zeit sich zu entwickeln. Wie wehmütig ist doch Albertines Satz: "Es ist Frühling geworden, denn offenbar sind die Tauben da." Taubengurren und Hahnenschrei, vergleichbar mit dem ersten und dem letzten Satz aus dem Septett von Vinteuil. Am Ende geht Albertine ohne Abschiedsworte, doch nicht ohne ihr Fenster zu öffnen, an einem der Nächte zuvor. Eine frappante Symbolik.


    So endet nun "Die Gefangene"!


    Ich las nochmals den Anfang des Buches. Anfang wie Schluss erwacht Marcel im Schlafzimmer, doch am Ende keine pfeifende Albertine, keine Küsse, keine noch so kleine Unbeschwertheit. Die Stimmung des Buches hat sich etwas auf mich übertragen, es stimmte mich traurig.


    Im Anhang wird das Buch in Sieben "Tagen" eingeteilt. Tage in Anführungszeichen. Weiß jemand mehr darüber?


    Mich erstaunt es immer wieder, welch ein Wechselbad an Leselust mich Proust durchleben lässt. Auch wenn ich ein paar "Hänger" während des Lesens hatte, so bin ich am Schluß doch wieder fasziniert von seinem Stil und seinem Werk. Besonders beeindruckten mich die Erinnerungen (Tasse Tee, die Tante, der Gute Nacht Kuss, der Weißdorn, Swann usw...) aus den vorigen Bänden, die in der "Gefangenen" explizit auftauchten.


    Zitat von "Steffi"

    Was wird Proust wohl noch alles zu diesem Thema einfallen, welche Seiten könnte er noch nicht beleuchtet haben ?


    Darauf bin ich auch gespannt. Er beleuchtet ja seine Erinnerungen und das Thema Liebe von allen Seiten.


    Wollen wir einen ungefähren Termin für "Die Flüchtige" festlegen?


    http://klassikerforum.de/forum/index.php?thread/2742.0


    Schöne Grüße
    Maria

    In der Jugend ist die Hoffnung ein Regenbogen und in den grauen Jahren nur ein Nebenregenbogen des ersten. (Jean Paul F. Richter)

    Einmal editiert, zuletzt von JMaria ()

  • Guten Morgen,


    ich bin zwar noch nicht fertig, aber doch ein ganzes Stück weitergekommen. Mme Verdurins Intrige, mit der sie Morel und Charlus auseinander bringt, ist ziemlich hinterhältig, zeigt aber, wie gut sie die beiden einschätzen kann, z.B. indem sie das Kreuz der Ehrenlegion erwähnt, das Charlus dann auch prompt anspricht oder indem sie Morels niedrige Herkunft thematisiert (die sie natürlich gar nicht stört!). Was ich hier interessant fand, war, dass Marcel zwar großes Mitleid für Charlus empfindet, aber keinen Versuch macht, die Szene zu vermeiden oder ihn bzw. Morel über die Intrige aufzuklären. Sieht er sich hier als reinen Beobachter und will die Handlung nicht beeinflussen? Oder hat er erst im nachhinein erkannt, welche Auswirkungen dieser Bruch auf Charlus hatte?


    Ziemlich witzig fand ich die Szene, in der Charlus über den Anteil der Homosexuellen spricht und diesen dann auf 70% schätzt.


    Zitat

    Das nun verlaufende Gespräch fand ich persönlich als ein weiterer Höhepunkt. Richtig spannend, wie sich Albertines Gefühle überschlagen. Vor Ärger verwendet sie Slang (in die Suppe spucken). Ähnlich wie mit dem vielen lesen von Büchern; sie bedient sich ja aus Marcels Bibliothek. Daraus schließe ich, dass sie ihrem Liebsten nicht langweilig werden möchte und so bemüht sie sich, ihm und der Gesellschaft ebenbürtig zu werden. So auch die Aufdeckung der Lüge, dass sie Mademoiselle Vinteuil durch ihre mütterliche Freundin näher kennt. Doch ich sehe ein einsames Mädchen, mit gewisser Raffinesse, das sich wichtig machen wollte, interessant erscheinen wollte, vorgibt mehr von Musik zu verstehen als eigentlich der Fall ist

    .


    Ja, dieses Gespräch las sich richtig rasant. Die vielen Lügen, die hier aufgedeckt werden - oder werden sie nur durch neue Lügen ersetzt? Nur an der Stelle, als sie sich selbst unterbricht (...es mir besorgen...) kann man ja sicher davon ausgehen, dass sie die Wahrheit sagt.


    Zitat

    Zwar sollte man sich in Erinnerung rufen, dass wir Albertine nur als der Perspektive des Erzählers sehen, doch ich hungere regelrecht nach ein paar kleinen Hinweisen um einen Hauch von Albertine erhaschen zu können. Manchmal zeigt sich ein kleiner Hinweis, finde ich


    Albertine bleibt in gewisser Hinsicht blaß, eine Projektion der Gefühle von Marcel. Aber ich wüsste auch gern mehr über ihre Sicht der Dinge.


    Ich werde diese Woche sicher fertig werden und bin gespannt, wie mein endgültiger Eindruck der Gefangenen aussieht.


    Schöne Grüße
    Manjula

    [size=10px] "Kunst soll keine Schulaufgabe und Mühseligkeit sein, keine Beschäftigung contre cœur, sondern sie will und soll Freude bereiten, unterhalten und beleben, und auf wen ein Werk diese Wirkung nicht übt, der soll es liegen lassen und sich zu andrem wenden." [/size]


  • Was ich hier interessant fand, war, dass Marcel zwar großes Mitleid für Charlus empfindet, aber keinen Versuch macht, die Szene zu vermeiden oder ihn bzw. Morel über die Intrige aufzuklären. Sieht er sich hier als reinen Beobachter und will die Handlung nicht beeinflussen? Oder hat er erst im nachhinein erkannt, welche Auswirkungen dieser Bruch auf Charlus hatte?


    Hallo Manjula,


    vielleicht hat sich Marcel passiv verhalten, weil man es als "Gefangener" nicht anders kennt. Man sitzt seine Zeit ab und beobachtet höchstens die Mitgefangenen ohne Einfluß zu nehmen. Ob im nächsten Band es ähnlich gehalten wird, dass nicht nur Albertine flüchtig (Die Flüchtige) ist, sondern auch Marcel, Charlus usw. ?


    Viele Grüße
    Maria

    In der Jugend ist die Hoffnung ein Regenbogen und in den grauen Jahren nur ein Nebenregenbogen des ersten. (Jean Paul F. Richter)

  • Hallo !


    Zitat

    Ob im nächsten Band es ähnlich gehalten wird, dass nicht nur Albertine flüchtig (Die Flüchtige) ist, sondern auch Marcel, Charlus usw. ?

    Interessanter Aspekt ! Ich sehe Marcel auf jeden Fall passiv, vielleicht interpretiert er auch seine Aufgabe als Schriftsteller so - beobachten und das beobachtete aufzeichnen. Auch Proust hat sich ja durch seine Krankheit sehr zurückgezogen und passiv verhalten.


    Gruß von Steffi

  • Hallo zusammen,



    Hallo Manjula,


    vielleicht hat sich Marcel passiv verhalten, weil man es als "Gefangener" nicht anders kennt. Man sitzt seine Zeit ab und beobachtet höchstens die Mitgefangenen ohne Einfluß zu nehmen. Ob im nächsten Band es ähnlich gehalten wird, dass nicht nur Albertine flüchtig (Die Flüchtige) ist, sondern auch Marcel, Charlus usw. ?


    [/quote]


    das klingt schlüssig. Eigentlich ist Marcel ja während des gesamten Bands passiv geblieben. Seine einzigen Aktivitäten zielten ja darauf, Albertine einzugrenzen. Kann es sein, dass er viel mehr "gefangen" ist als sie?


    Ich habe das Buch nun auch beendet. Je mehr es auf den Schluss zugeht, um so öfters ist vom Tod die Rede. Einmal beschreibt er die schlafende Albertine wie eine Leiche auf dem Totenbett, ein andermal denkt er beim Aussprechen des Wortes "Tod" spontan an den Tod Albertines. Eine recht morbide Stimmung.


    Weiter beschäftigt ihn die Unmöglichkeit der Liebe allgemein und dem Zusammenleben mit Albertine im Speziellen: Verspürt er Zuneigung zu ihr, macht seine Eifersucht ihm das Leben zur Hölle; schafft er es aber, die Eifersucht zurückzudrängen, wird sie ihm so langweilig, dass er sie nicht mehr sehen mag. Hier ist dann doch ein Unterschied zu Swann: Er war doch zunächst durchgängig eifersüchtig, hat es dann aber doch geschafft, mit Odette zusammen zu leben.


    Sehr schön fand ich, wie Maria, die vielen Anspielungen auf die früheren Bände: die Großmutter, Eulalie, der Tee und die Madeleines, der Weißdornbusch, Combray allgemein (wenn es allerdings auch durch die Gedankenverbindung zu Mademoiselle Vinteuil getrübt wird), ...Insgesamt habe ich auch diesen Band sehr gerne (wenn auch langsam) gelesen; er war allerdings deutlich schwermütiger als die bisherigen.


    Eine Frage habe ich jetzt noch:


    Zitat

    Was es mit dem Begriff „hintenherum“ auf sich hat, glaube ich auch nicht an die Interpretation des Erzählers.


    Diese Formulierung kommt in meiner Ausgabe nicht vor (oder habe ich sie überlesen?). War es in dem Zusammenhang, als Marcel Albertine Geld anbietet, damit sie Verdurins einladen kann? Hier antwortet Albertine in meiner Übersetzung, wenn sie schon Geld hätte, sei es ihr lieber "ich wäre einmal frei und könnte es mir besorgen...", woraufhin sie den Satz abbricht und Marcel zutiefst verwirrt.


    Ich wünsche Euch eine schöne Woche!


    Viele Grüße
    Manjula

    [size=10px] "Kunst soll keine Schulaufgabe und Mühseligkeit sein, keine Beschäftigung contre cœur, sondern sie will und soll Freude bereiten, unterhalten und beleben, und auf wen ein Werk diese Wirkung nicht übt, der soll es liegen lassen und sich zu andrem wenden." [/size]

  • Hallo Manjula,


    in meiner Ausgabe heißt es:

    „Besten Dank! Wenn ich denke, dass ich auch nur einen Sou für die beiden Alten ausgeben soll, dann wäre mir schon lieber, ich wäre einmal frei und könnte es mir hintenherum...“ Auf der Stelle wurde ihr Gesicht purpurrot, sie sah todunglücklich aus und hielt eine Hand vor den Mund...
    (Suhrkamp St 3645, S. 483)


    Zwei Seiten lang analysiert Marcel diesen Ausdruck. Erst die harmlose Version mit „heimlich oder verschlagen“. Dann kommt ihm der Gedanken des „besorgen lassen“ (S. 486)



    So sah ich, dass sie nicht einfach gesagt hatte „hintenherum“, sondern „es mir hintenherum“. Wie grässlich, das also wäre ihr lieber gewesen! Doppelt grässlich, denn selbst die letzte Straßendirne, die sich dafür hergibt oder es will, benutzt dem Mann gegenüber, der darauf eingeht, nicht diese abscheuliche Wendung.


    Im Nachwort wird dazu gesagt:


    Proust spielt mit dem Ausdruck „se faire casser le pot“ (sich sodomisieren, das heißt anal penetrieren lassen). .... berichtet Jean Cocteau von einem vulgären Burschen, der bei Proust einquartiert war (es muß sich um Henri Rochat handeln). „Nur dieser Bursche“, meinte Cocteau, „wäre imstande, den abscheulichen Ausdruck zu verwenden, den Proust Albertine in den Mund legt (casser le pot). Wie naiv Marcel doch ist. Er denkt nicht daran, dass eine Frau oder gar ein junges Mädchen (das dazu noch die Frauen liebt) einen solchen Ausdruck nicht verwenden kann. .... Die Überlegung hat auch Eva Rechel-Mertens nicht angestellt, als sie die fragliche Stelle mit „es mir besorgen lassen“ übersetzt. Das ist zwar elegant, doch versteht man nicht, weshalb etwas weiter unten die letzte Straßendirne sich nicht dazu hergeben und weshalb sie den Ausdruck nicht verwenden sollte....


    ich finde die ganzen Überlegungen etwas verwirrend. Albertine war sehr verletzt, was sie kurz vor ihrem Ausbruch zugibt und fiel dann in diese ordinäre Sprache.


    Zitat von “Manjula“

    Weiter beschäftigt ihn die Unmöglichkeit der Liebe allgemein und dem Zusammenleben mit Albertine im Speziellen: Verspürt er Zuneigung zu ihr, macht seine Eifersucht ihm das Leben zur Hölle; schafft er es aber, die Eifersucht zurückzudrängen, wird sie ihm so langweilig, dass er sie nicht mehr sehen mag. Hier ist dann doch ein Unterschied zu Swann: Er war doch zunächst durchgängig eifersüchtig, hat es dann aber doch geschafft, mit Odette zusammen zu leben


    Ein guter Gedanke. Der Vergleich mit Swann bietet sich an. Swann riskierte sogar einen Bruch mit den Verdurins, was Marcel nicht einfallen würde.


    Schöne Grüße
    Maria

    In der Jugend ist die Hoffnung ein Regenbogen und in den grauen Jahren nur ein Nebenregenbogen des ersten. (Jean Paul F. Richter)

  • Hallo Manjula !


    Zitat

    Weiter beschäftigt ihn die Unmöglichkeit der Liebe allgemein und dem Zusammenleben mit Albertine im Speziellen: Verspürt er Zuneigung zu ihr, macht seine Eifersucht ihm das Leben zur Hölle; schafft er es aber, die Eifersucht zurückzudrängen, wird sie ihm so langweilig, dass er sie nicht mehr sehen mag. Hier ist dann doch ein Unterschied zu Swann: Er war doch zunächst durchgängig eifersüchtig, hat es dann aber doch geschafft, mit Odette zusammen zu leben.


    Du hast recht - auch für mich war das ein Hauptthema und du hast es super zusammengefasst.


    Immer wieder denke ich, dass die ganzen Personen in der Recherche ja auch in gewisser Weise Abbildungen von Bekannten/Freunden Prousts sind. Wenn ich mir dann das Verhältnis Marcels zu Albertine ansehe, denke ich, dass Proust nicht unbedingt ein schönes Leben hatte, zumindest im Bezug auf die Liebe.


    Gruß von Steffi

  • Hallo zusammen,


    ein TV-Tipp:


    Arte
    Freitag 25.07.08 // 22.25 Uhr // Marcel Proust: Ein Schriftstellerleben. Doku
    Sonntag 10.08.08 / 13 Uhr // Wiederholung


    Gruß
    Maria

    In der Jugend ist die Hoffnung ein Regenbogen und in den grauen Jahren nur ein Nebenregenbogen des ersten. (Jean Paul F. Richter)