September 2006 - Marcel Proust

  • Wenn ich darf:


    Manjula schrieb:


    Stimmt - die Frauen sind die Objekte der Begierde. Vielleicht ergibt sich das aus dem damaligen Rollenbild, denn ich denke, Proust sieht seinen "Auftrag" mehr im Beschreiben der damaligen Zeit als in Kritik und Gesellschaftserneuerung.


    + die Tatsache, dass er ja eigentlich nur die männliche Seite wirklich kannte? (Einerseits, weil er ja selber ein Mann war; andererseits, weil er das "Besessensein" ja nur von Mänenrn und für Männer kannte?) Die weibliche Besessenheit vielleicht gar nicht darstellen konnte?

    Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen? - Karl Kraus

  • Ich habe mir in Berlin beide Bände der Mädchenblüte geholt und bin so allein nicht dahinter gestiegen. Ich hoffe, dass ich antiquarisch die "restlichen" Bände finde und dann irgendwann noch mal einen Versuch starten kann. So einfach will ich die verlorene Zeit nicht aufgeben. Streckenweise wars ja interessant, aber dann doch wieder zu viel Brödlerisches.

  • Hallo Holger !


    Zitat

    und bin so allein nicht dahinter gestiegen.


    Kann ich gut nachvollziehen. Deshalb ist das Gemeinsame Lesen einfach besser. Wir sind ja mittlerweile beim dritten Band und dort am Ende des ersten Drittels. Falls du uns noch einholen kannst, bist du herzlich willkommen.


    Voraussichtlich werden wir dann eine etwas längere Pause machen, bis wir gegen Ende des Jahres uns den vierten Band vornehmen.


    Gruß von Steffi

  • Hallo !


    sandhofer schrieb:

    Zitat

    + die Tatsache, dass er ja eigentlich nur die männliche Seite wirklich kannte? (Einerseits, weil er ja selber ein Mann war; andererseits, weil er das "Besessensein" ja nur von Mänenrn und für Männer kannte?) Die weibliche Besessenheit vielleicht gar nicht darstellen konnte?


    Ja, was allerdings viele Autoren nicht davon abhält, gerade das zu beschreiben. Insofern ist Proust mit seiner Sicht sehr ehrlich und versteigt sich nicht in Phantasien. Das macht ihn mir noch um einiges sympathischer !


    Gruß von Steffi

  • Hallo zusammen


    Zitat von "Steffi"

    Beim Auftritt von Legrandin fiel mir auf, dass er eine Figur ist, die man nicht recht fassen kann. So wie es im Leben viele Menschen gibt, die man hin und wieder sieht, von denen man aber nicht sehr viel weiss, eine rasche Einschätzung vielleicht (bei Legrandin ist es Snobismus) und die man bis zum nächsten Auftritt wieder vergisst. Proust gelingt es dadurch, die Wirklichkeit exakt und lebendig zu schildern.


    Dazu fand ich sehr schön, was der Erzähler über Legrandin sagt:


    Ich verließ Legrandin nicht einmal mit einem Gefühl der Verstimmung. Gewisse Erinnerungen sind wie gemeinsame Freunde, sie verstehen sich darauf, Versöhnungen zuwege zu bringen; inmitten der von Butterblumen übersäten Wiesen, wo Ruinen aus der Feudalzeit sich türmten, verband die schmale Holzbrücke Legrandin und mich genauso wie die beiden Ufer der Vivonne.


    Zitat von "Steffi"

    Ich befinde mich bereits im Salon von Madame de Villeparisis, die sich theatermäßig als Malerin drapiert. Herrliche Beschreibungen mit viel Witz und feiner Ironie. Wenn sich die Frauen damals so aufführten, ist es kein Wunder, dass sich die Herren den Halbweltdamen zuwandten. Auch Bloch taucht auf, unsympathisch wie eh und je und eine völlig zugespachtelte Dame mit Marie-Antoinette-Frisur.


    *lach* - gut beschrieben.


    Zitat von "Manjula"

    Mir fällt gerade auf, dass dieses "Besessensein" bisher nur bei Männern auftritt, während die Frauen eher kühl und fast berechnend sind. Sieht Proust die Männer als "anfälliger" an, ist das eine Kritik an den Frauen? Oder eher eine Kritik an der Gesellschaft? Frauen wie Odette und Saint-Loups Geliebte sind ja eigentlich gezwungen, so berechnend zu handeln - eine Beziehung "aus Liebe" könnten sie sich ja nicht leisten.


    Die Damen manipulieren ihre Geliebten sehr gut. Ein bißchen Hysterie (vielleicht auch gespielte), Erpressung und Erregung, schon ist der "Besessene" wieder ganz kleinlaut.


    Und mit Händen und Füßen begann sie Zeichen zu geben, daß sie mit den Nerven am Ende sei.


    Stelle ich mir so vor, dass Rachel mit den Händen wedelt und mit den Füßen auf den Boden taktet. Sehr gefährlich. :elch:


    Im Theater fiel mir das Schminken auf: "Überstülpung des Gesichts eines Schauspielers mit einem zweiten Gesicht, aus Schminke und Karton, aus der Überstülpung der persönlichen Seele mit dem Part einer Rolle" ... (S. 238) . Am Ende des Stücks wird alles vom Schweiß zersetzt und abgewischt. Der Erzähler zweifelt an der Wirklichkeit des Ich und denkt über das Geheimnis des Todes nach.


    Besonders verwirrt war Marcel als er von Robert Saint-Loup erfährt, dass er ihn damals von der Kutsche aus doch erkannt hat. Darüber war ich dann doch überrascht. Ein neuer Zug in Saint-Loup's Verhalten?


    witzig fand ich das Verhalten der Zuschauer, als Saint-Loup dem Journalisten eine Ohrfeige gibt. Keiner will es gesehen haben :breitgrins:
    Das war einmalig beschrieben.


    Viele Grüße
    Maria

    In der Jugend ist die Hoffnung ein Regenbogen und in den grauen Jahren nur ein Nebenregenbogen des ersten. (Jean Paul F. Richter)

  • Hallo Holger !


    In Swanns Welt


    Wir haben unsere Einteilung nach der 7-bändigen Ausgabe gemacht. "In Swanns Welt" müsste demnach aus "Combray" und "Eine Liebe Swanns" bestehen.


    Ich lese die durch Keller revidierte Übersetzung. Die Anmerkungen sind für mich sehr hilfreich, auch weil es etliche Anspielungen auf Personen gibt und man nicht immer weiß, ob es sich um lebende oder fiktive Personen handelt.


    Gruß von Steffi

    Gruß von Steffi

    Einmal editiert, zuletzt von Steffi ()

  • Hallo,


    wahrscheinlich Eulen nach Athen.....
    ich hab aber grade etwas gelesen, das Euch vielleicht in der Leserunde interessieren könnte.


    Dieter Wellershoff: Der verstörte Eros. Zur Literatur des Begehrens.
    Beginnend mit Werther, endend mit Houllebecq und Ellis. Hauptsächlich geht es um die biographische Relevanz in den jeweiligen Werken, plus Kulturgeschichtlichem. Ein Kapitel ist einer sehr eindrucksvollen Schilderung Prousts, und seinen Beziehungen gewidmet, sozusagen im Abgleich mit der Verlorenen Zeit. Und das ist durchaus erhellend, manches liest sich anschließend etwas anders, finde ich wenigstens.


    Und es fällt mir noch ein: Céleste Albaret: Monsieur Proust.
    Ein Bericht seiner langjährigen Haushälterin, die bis zu seinem Tod bei ihm war.


    Wenn ich nicht hilfreich war, so hoffe ich wenigstens nicht gestört zu haben :redface:


    :winken:
    g.

  • Hallo Holger !


    Hier findet sich noch Information über die verschiedenen deutschen Ausgaben und Übersetzungen. Warum es so viele unterschiedliche Aufteilungen gibt, verstehe ich auch nicht. Das Original hatte ja wohl tatsächlich 7 Bände.


    Gruß von Steffi

  • Warum es so viele unterschiedliche Aufteilungen gibt, verstehe ich auch nicht. Das Original hatte ja wohl tatsächlich 7 Bände.


    Na ja - die Aufteilung erfolgt in den meisten Fällen wohl aus praktischen Gründen. Die einzelnen Bücher sollten alle ungefähr gleich dick sein, nicht allzu dick ...


    Das Original umfasst 7 Bücher:


    1. Du côté de chez Swann (à compte d’auteur chez Grasset en 1913, puis dans une version modifiée chez Gallimard en 1919)
    2. À l'ombre des jeunes filles en fleurs (1919, chez Gallimard; reçoit le prix Goncourt la même année)
    3. Le côté de Guermantes (en 2 tomes, chez Gallimard (1921-1922)
    4. Sodome et Gomorrhe I et II (chez Gallimard, 1922-1923)
    5. La prisonnière (posth. 1925)
    6. Albertine disparue (posth. 1927) (titre original : La Fugitive)
    7. Le Temps retrouvé (posth. 1927) - (Quelle)


    Davon, wie man sieht, 3 und 4 in jeweils 2 Bänden erschienen ...

    Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen? - Karl Kraus


  • Ich befinde mich bereits im Salon von Madame de Villeparisis, die sich theatermäßig als Malerin drapiert. Herrliche Beschreibungen mit viel Witz und feiner Ironie. Wenn sich die Frauen damals so aufführten, ist es kein Wunder, dass sich die Herren den Halbweltdamen zuwandten :breitgrins: Auch Bloch taucht auf, unsympathisch wie eh und je und eine völlig zugespachtelte Dame mit Marie-Antoinette-Frisur.


    Hallo zusammen,


    und diese Salonplaudereien, das beherrscht Proust doch wirklich wunderbar. Seid ihr schon auf Odette gestossen? Sie wird sehr spannend vom Erzähler eingeführt.


    viele Grüße
    Maria

    In der Jugend ist die Hoffnung ein Regenbogen und in den grauen Jahren nur ein Nebenregenbogen des ersten. (Jean Paul F. Richter)

  • Hallo zusammen,


    Charlus hat ebenfalls seinen Auftritt im Salon. Sein Hut, wenn es denn sein Hut gewesen sein sollte, trug die herzogliche Krone der Guermantes. Bedeutet das, er wäre gern an der Stelle seines Bruders, dem Herzog von Guermantes? Darüber kann man spekulieren.


    Madame Villeparisis ist entsetzt, als sie erfährt, dass der Erzähler mit Charlus das Fest verlassen möchte. Sie nötigt ihn, doch schnell zu gehen, solange der Baron ihm den Rücken zu dreht. Zu spät. Charlus und der Erzähler verlassen den Salon der Villeparisis und Charlus macht dem Erzähler einen Vorschlag, der wirklich absurd und krank ist. Eine Veranstaltung mit Juden: psalmensingende Mädchen, Bloch der sich mit seiner Mutter prügeln soll, oder die Nachstellung David und Goliath mit Bloch und seinem Vater. Echt krank.


    Die Erwiderung des Erzählers nimmt dem ganzen die Schärfe:


    Ich teilte ihm mit, dass Madame Bloch jedenfalls nicht mehr am Leben sei ...


    Doch als der Vater von Bloch die Straße herunter kommt, möchte Charlus nicht vorgestellt werden, das ist unter seiner Würde.


    Diese ganze Dreyfus-Affäre ... hat nur eine Schattenseite, nämlich dass sie die Ordnung der Gesellschaft auflöst... durch den Zustrom aller dieser Herren und Damen von und zu Kamel, Kamelle und Kamelmeier.... (S. 406)


    Viele Grüße
    Maria

    In der Jugend ist die Hoffnung ein Regenbogen und in den grauen Jahren nur ein Nebenregenbogen des ersten. (Jean Paul F. Richter)

  • Hallo !


    Zitat

    Charlus hat ebenfalls seinen Auftritt im Salon. Sein Hut, wenn es denn sein Hut gewesen sein sollte, trug die herzogliche Krone der Guermantes.


    Zu Charlus bin ich noch nicht gekommen, aber diese Hüte ziehen sich wohl durch die gesamte Gesellschaft. Die einen stellen sie im Zimmer ab, Verdurin (?) schnappt sich einen vom Vorzimmer, um so zu tun, als sei er gerade gekommen usw. Sehr lustig :breitgrins:


    Gruß von Steffi


  • Hallo Steffi,
    ich glaube, das war Norpois. Er hielt sich doch im Arbeitszimmer von der Madame Villeparisis auf und tat dann so als ob er erst ankam *Grins*


    Die Hüte sind eine witzige Angelegenheit. :breitgrins:


    Viele Grüße
    Maria

    In der Jugend ist die Hoffnung ein Regenbogen und in den grauen Jahren nur ein Nebenregenbogen des ersten. (Jean Paul F. Richter)

  • Hallo zusammen,


    Ich habe im Proust-ABC nachgeschaut und folgendes über den „Hut“ gefunden:


    Zitat:
    Während die Schuhe als unteres Ende der Garderober für das Verdrängte stehen, verbildlicht der Hut als das obere die Deckelung durch gesellschaftlichen Zwang wie auch die Maske der sozialen Identität. ....Ein wichtiger Hutbesitzer des Romans ist Charlus, dessen Hut öfter die Spannungen zwischen ihm und dem Erzähler austragen muß: Als dieser den Baron nach einer Soiree darauf aufmerksam macht, dass er den falschen Hut mitnimmt, reagiert er äußerst aggressiv... Zitat_Ende


    Anscheinend kommt später noch eine Begebenheit noch größerer Aggressivität von seitens Charlus, weil der Erzähler nicht auf seine Avanchen eingeht. Wir können darauf gespannt sein.


    Über „Schlaf“ heißt es auszugsweise im Proust-ABC:
    „So schwanken denn auch die Schilderungen des Schlafes im Roman zwischen permanenter Sehnsucht nach der wohltuenden Geistesverwirrung und der Angst vor dem Übertritt in das Reich einer unkontrollierten, selbstvergessenen Kreatürlichkeit.... Die Schlaflosigkeit wird zum Passionsweg, der in die Erlösung durch die Kunst mündet, der Künstler zum Helden, der das Außergewöhnliche schafft, indem er das Normale opfert...“


    Den letzten Satz werden wir vermutlich erst am Ende des Zyklus so richtig verstehen.
    Es wird noch einiges über den Schlaf im Proust-ABC aufgezählt; Combray, das Zubettgehen, die Schlaflosigkeit usw.


    Viele Grüße
    Maria

    In der Jugend ist die Hoffnung ein Regenbogen und in den grauen Jahren nur ein Nebenregenbogen des ersten. (Jean Paul F. Richter)

  • Hallo Maria,


    Zitat

    ich glaube, das war Norpois.


    Stimmt ! Verdurin ist der, dessen Frau den Kreis um Odette leitet. Ich habe mal im Proust-Lexikon die darin aufgeführten Personen des Romans gezählt, über 200 !


    Danke über die Information bezüglich der Hüte :breitgrins: Solche "Verwechslungen" können ja heute nicht mehr passieren ! Ich freue mich immer wieder an diesen kleinen Hinweisen von Proust.


    Ich habe gestern etwas aufgeholt :zwinker: Charlus und der Erzähler verlassen die Gesellschaft.
    Lustig und zugleich sehr typisch war die Verabschiedung Blochs. Die Gastgeberin tut so, als ob sie schläft. Auch ein kleiner Hinweis auf die Problematik, die mit der Dreyfus-Affäre angesprochen wird. Und wie sich Norpois dabei windet :breitgrins: Ein geborener Diplomat !


    Gruß von Steffi

  • Hallo zusammen,



    Ich befinde mich bereits im Salon von Madame de Villeparisis, die sich theatermäßig als Malerin drapiert. Herrliche Beschreibungen mit viel Witz und feiner Ironie. Wenn sich die Frauen damals so aufführten, ist es kein Wunder, dass sich die Herren den Halbweltdamen zuwandten :breitgrins: Auch Bloch taucht auf, unsympathisch wie eh und je und eine völlig zugespachtelte Dame mit Marie-Antoinette-Frisur.


    Diese Szene fand ich auch herrlich. Bei "Marie Antoinette" hört man förmlich das Make-Up abbröckeln. Und dieser Zickenkrieg zwischen ihr und Madame de Villeparisis, wer nun die illustreren Gäste hat - köstlich.


    Zitat von "JMaria"

    witzig fand ich das Verhalten der Zuschauer, als Saint-Loup dem Journalisten eine Ohrfeige gibt. Keiner will es gesehen haben
    Das war einmalig beschrieben


    Ja, das könnte ich mir gut als Slapstick vorstellen. Überhaupt bringt mich dieser Teil der Recherche oft zum Schmunzeln. Auf die Stelle mit den Hüten bin ich schon gespannt!


    Die Schriftstellerkarriere des Erzählers ist momentan auf Eis gelegt, oder? Und auch sonst hat er wohl keine beruflichen Ambitionen. Nennt man so jemanden nicht einen Bonvivant? :zwinker:


    Liebe Grüße
    Manjula

    [size=10px] "Kunst soll keine Schulaufgabe und Mühseligkeit sein, keine Beschäftigung contre cœur, sondern sie will und soll Freude bereiten, unterhalten und beleben, und auf wen ein Werk diese Wirkung nicht übt, der soll es liegen lassen und sich zu andrem wenden." [/size]