Mai 2006: Wolfgang Koeppen - Tauben im Gras

  • Hallo ihr Lesehungrigen und Diskussionswütigen,


    da die Tauben-im-Gras-Leserunde kaum noch erwartet werden kann, will ich mich auch nicht länger zieren und zitiere noch einmal den hinteren Buchumschlag, um uns einzustimmen:

    Zitat

    Wer vergessen hat, wie es 1945 um uns stand, der lese Tauben im Gras… und er wird schmecken, wie das war: Hunger, Schwarzmarkt, Lebensgier, Stolz und Anbiederung vor Besatzungsmächten, Mut, Feigheit, allgemeine Haltlosigkeit…


    Gertrude Stolte-Adelt, WDR


    Ich hoffe, ich werde euch folgen können…


    BEVOR ICH ES VERGESSE: AUCH SPÄTEINSTEIGER(INNEN) UND GASTBEITRÄGE SIND GERN GESEHEN IN DIESER LESERUNDE. Ich habe nämlich bemerkt, dass dieses Buch auch anderen Forengeistern bekannt ist und sie es wertschätzen. Also, ihr seid eingeladen!


    Ich wünsche euch ein schönes langes und sonniges Lesewochenende!


    FA

    Daß man gegen seine Handlungen keine Feigheit begeht! daß man sie nicht hinterdrein im Stiche läßt! - Der Gewissensbiß ist unanständig. - Friedrich Nietzsche - Götzen-Dämmerung, Spruch 10

  • Hallo zusammen
    mein Beitrag von gestern ist futsch und ich speichere meine Einträge ja nicht ab. :sauer:


    Jetzt müßt ihr weiter machen. Ich brauch einen neuen Ansatzpunkt um mich aufzurappeln. Ich sitze immer recht lange an einem Beitrag, mir fließen die Worte nicht so schnell von der Tastatur und bin dementsprechend geknickt.


    LG
    Maria

    In der Jugend ist die Hoffnung ein Regenbogen und in den grauen Jahren nur ein Nebenregenbogen des ersten. (Jean Paul F. Richter)

  • Hallo,


    ich bin neu hier und an diesen Roman habe ich mich noch nicht herangetraut. Es wäre natürlich interessant das Wagnis ;-) nicht alleine einzugehen. Vorher möchte ich aber gerne wissen welcher Zeitraum für die Lektüre zu erwarten ist. Gibt es darüber Vorstellungen ?


    Gruß
    W.S.

  • Kopf hoch Maria und bitte schreibe deine Gedanken noch einmal, um der Leserunde einen guten Start zu geben!


    Hallo Bloom, willkommen im Klassikerforum und in der Tauben-im-Gras-Leserunde! Ich würde sagen, wir lassen uns einfach treiben, das Lesetempo wirs sich schon ergeben.


    Grüße, FA

    Daß man gegen seine Handlungen keine Feigheit begeht! daß man sie nicht hinterdrein im Stiche läßt! - Der Gewissensbiß ist unanständig. - Friedrich Nietzsche - Götzen-Dämmerung, Spruch 10

  • Hallo zusammen !


    Ach, Maria, das ist ja schade :sauer: Bestimmt fallen dir deine Gedanken wieder ein und du postest dann, nachdem der erste Frust vorbei ist, nochmal.


    Hallo Bloom, willkommen in der Leserunde. Wir (JMaria, FA und ich) lesen alle sehr gemütlich, d.h. ich denke 1-2 Wochen werden es mindestens. Üblicherweise postet man alle paar Tage mal, damit auch die anderen wissen, wo in etwa man ist und sich im Lesetempo darauf einstellen können. Ich finde es eigentlich immer schade, wenn der Abstand zu groß wird, aber natürlich kannst du auch im Nachhinein mitschreiben.


    Ich habe nun die ersten 25 Seiten gelesen - es gibt ja keine Kapiteleinteilung, deshalb müssen wir uns mit Seitenzahlen behelfen. Zugegebenermaßen bin ich etwas verwirrt, denn Koeppen bietet bisher keine erzählte Geschichte sondern Momentaufnahmen einer Nachkriegstadt, ich nehme mal an es ist München ? Er verwendet starke Metaphern und zitiert auch immer Zeitungsschlagzeilen, die sich hauptsächlich auf den Ost-West-Konflikt konzentrieren. Bisher scheint alles recht depressiv, fast sarkastisch beobachtet er die Entwicklung, allerdings wie durch einen Spiegel fast unberührt von den menschlichen Schicksalen.


    Ich könnte mir vorstellen, dass eine solche Verwirrung spürbar gewesen sein könnte. Schließlich war der Mensch ja für den Krieg verantwortlich, da ist eine gewissen Abkehr vom menschlichen durchaus nachvollziehbar. Glück oder Fröhlichkeit gibt es nicht.


    Zum Motto von Gertrude Stein steht in dem älteren Koeppen-thread interessantes von JMaria und Hubert:
    http://www.klassikerforum.de/f…7873a5b016c9e60cab7149fb6


    Gruß von Steffi

  • Hallo,


    zunächst danke für die freundliche Aufnahme in das Forum.


    gestern Abend habe ich angefangen, langsam und vielleicht nicht mit der Sorgfalt, die der Roman erfordert. Ich will mich bessern ;-)


    Mir sind zuerst zwei Dinge aufgefallen:


    1. Der Stil erinnert mich an den "Ulysses" von Joyce, ich meine die Übersetzung von Wollschläger


    2. Ich weiß fast nichts von der Nachkriegszeit, wenigstens was die Lebenseinstellung der Menschen zu dieser Zeit betrifft.


    Von einer Erleichterung, einer Aufbruchsstimmung, einer Bereitschaft zur Auseinandersetzung mit der Vergangenheit und den Tendenzen der Gegenwart finde ich in den Figuren der ersten Episoden nichts. Sie sind eher rückwärtsgewandt oder getrieben.
    Schreibt hier ein resignierender, müder Autor seine Wut heraus ?


    Koeppens Lebensgeschichte würde das verständlich machen und ich bin gespannt, wie sich die Verhältnisse im Buch entwickeln und meine Sicht auf diese Zeit.


    Meine Version ist die Suhrkamp-Sonderausgabe in der die drei Nachkriegsromane von K. zusammen abgedruckt sind. Es ist sehr angenehm für mich, dass die einzelnen Episoden von Textbild her sauber abgedrennt sind und vielleicht nummeriere ich sie durch, damit eventuelle Verweise unabhängiger sind.


    Bloom

  • Hallo zusammen


    Zitat von "Steffi"


    Ich habe nun die ersten 25 Seiten gelesen - es gibt ja keine Kapiteleinteilung, deshalb müssen wir uns mit Seitenzahlen behelfen. Zugegebenermaßen bin ich etwas verwirrt, denn Koeppen bietet bisher keine erzählte Geschichte sondern Momentaufnahmen einer Nachkriegstadt, ich nehme mal an es ist München ? Er verwendet starke Metaphern und zitiert auch immer Zeitungsschlagzeilen, die sich hauptsächlich auf den Ost-West-Konflikt konzentrieren. Bisher scheint alles recht depressiv, fast sarkastisch beobachtet er die Entwicklung, allerdings wie durch einen Spiegel fast unberührt von den menschlichen Schicksalen.


    Ich könnte mir vorstellen, dass eine solche Verwirrung spürbar gewesen sein könnte. Schließlich war der Mensch ja für den Krieg verantwortlich, da ist eine gewissen Abkehr vom menschlichen durchaus nachvollziehbar. Glück oder Fröhlichkeit gibt es nicht.


    Glück oder Fröhlichkeit gibt es nicht. Das ist der Punkt. Es gibt höchstens Ablenkung. Filme wie der "Erzherzog" der gedreht wird oder "Hannelore" aus dem Dreigroschenheftchen den Frau Behrend liest.


    Mir kommt es so vor, als ob die Menschen eher einen III.Weltkrieg erwarteten, als einen dauerhaften Frieden. Das zeigen ja die Schlagzeilen, die verkündet werden. Die kursivgestaltete Schrift hat auf mich die Wirkung eines Zeitungsjungen, der Botenschaften beim Zeitungsverkauf brüllt.


    Messalina, könnte aus einem James Joyce Roman entsprungen sein, ebenso Emilia und natürlich Odysseus, schon der Name!


    Was meint ihr, wann beginnt der Roman? Mit Philipp, der im Hotel wach lag? Somit könnte der Tag um Mitternacht beginnen. Oder vor der Frühmesse, dann vielleicht 5 Uhr morgens, wenn man den Abschnitt mit dem Erzherzog nimmt. Ich bin mir wirklich nicht sicher. Tendiere aber zu Mitternacht.


    Vor 2 Tagen schrieb ich, dass mich der Beginn des Romans an Siegfried Lenz erinnerte:


    Flieger waren über der Stadt, unheilkündende Vögel.


    erinnert mich an "Es ist Habichte in der Luft".


    Das zeigt bereits an, dass Gefahr droht und zeugt von depressiver Stimmung.


    Zitat


    Zum Motto von Gertrude Stein steht in dem älteren Koeppen-thread interessantes von JMaria und Hubert:
    http://www.klassikerforum.de/f…7873a5b016c9e60cab7149fb6


    Gruß von Steffi


    danke für den Link. Interessant den Thread durchzulesen und die Eindrücke von damals nochmals zu lesen.


    dieses "alas" in dem Zitat von Getrude Stein klingt doch auch eher Stoßseufzerhaft.


    was war noch? achja, manche Konflikte von damals reichen bis in unsere heutige Zeit herein. Alles dreht sich um Öl und Öl ist immer ein Krieg wert.


    Krieg um Öl.... Flugzeugträger im Persischen Golf...


    könnte eine Schlagzeile von heute sein, nicht wahr.


    Wie gefallen euch die bereits eingeführten Personen, z.B. Philipp, Emilia, Dr. Behude, Odysseus Cotton, Frau Behrend ....


    Jede Person startet seinen Tag von einem bestimmten Ort und ich bin gespannt wo sie am Ende sein werden und ob sie sich zwischen durch begegnen.


    Steffi, auch wenn der Name München nie fällt, spielt der Roman tatsächlich in München.


    @Bloom
    herzlich Willkommen im Forum und hier in der Leserunde auch von mir :winken:


    Zitat von "Bloom"


    Von einer Erleichterung, einer Aufbruchsstimmung, einer Bereitschaft zur Auseinandersetzung mit der Vergangenheit und den Tendenzen der Gegenwart finde ich in den Figuren der ersten Episoden nichts. Sie sind eher rückwärtsgewandt oder getrieben.
    Schreibt hier ein resignierender, müder Autor seine Wut heraus ?


    ach nein, ich kann mir Koeppen nicht wütend vorstellen. Er zeigt, weist auf Dinge und Mißstände hin, aber hält sich doch aus seiner Geschichte heraus. Ich spüre ihn eher freundlich-distanziert.

    Gruß
    Maria

    In der Jugend ist die Hoffnung ein Regenbogen und in den grauen Jahren nur ein Nebenregenbogen des ersten. (Jean Paul F. Richter)

  • Hallo zusammen!


    Hier ist ja richtig was los, das freut mich!


    Ich habe gestern Abend einen ersten Eindruck erlesen und niedergeschrieben. Nur die Müdigkeit ließ mich auf Seite 20 stoppen, meine Augen konnten den Zeilen dieses spannenden, anklagenden und doch nüchternden Buches nicht mehr folgen… Ich werde nichts mehr an dem Text ändern und stelle ihn zu euren in die Leserunde. Teilweise ergänzt er eure Beiträge, teilweise auch nicht, ich schrieb ihn, ohne eure ersten Beiträge zu kennen...


    Das Vorwort zur 2. Auflage liest sich wie das Motto des Buches, der Entwurf zum Buch und umreißt sehr scharf den Grundgedanken. Die Feststellung von Wolfgang Koeppen, dass sich Menschen zu seiner Bestürzung von ihm gekränkt fühlten, ließ mich schmunzeln. Jemand, der sich wie Koeppen, die Wut und Enttäuschung vom Leib schrieb, musste und wollte den Deutschen den Spiegel vor das verzerrte Gesicht halten. Sicher er handelte nur als Schriftsteller, aber er hatte sicher getroffen. Mein erster Eindruck, jede(r) Deutsche kurz nach dem Krieg musste sich mehr oder weniger von “Tauben im Gras” angesprochen fühlen…


    Die ersten Seiten wurden kraftvoll, bisweilen derb, dennoch in sehr ausgefeilter Prosa geschrieben. Kein Wort ist da zuviel und doch wurde eine seh-, fühl- und riechbare Atmosphäre von Koeppen geschaffen, die eindringlich ist und unter die Haut geht. Klischees, wie man sie aus manchen Filmen von und über diese Zeit kennt, kommen nicht vor. Die ganze Prosa hat etwas gewaltiges und dichtes, sie entströmt wie erhitzte Druckluft aus einem langsam geöffneten Ventil eines Kessels, der vieles über Jahre in sich aufgenommen hat und an die Umgebung abgeben will und muss. Eine zischende Prosa…


    Der erste Absatz ist wahrlich unheilsverkündend, aber lag der Dritte Weltkrieg zu dieser Zeit nicht bedrohend in der Luft? War der lange und Ressourcen vergeudende kalte Krieg nicht eine ständige Untergangsbedrohung, die, genau wie die deutsche Vergangenheit, die deutsche Geschichte und oft die eigene Vergangenheit der Menschen, mit täglichem Willen verdrängt werden musste? War der Mensch nicht seit dem Ersten Weltkrieg und besonders seit dem Zweiten Weltkrieg längst in der Gewalt kaum noch beherrschbaren Vernichtungpotentials und schlimmer noch, war er nicht seit dem Einsatz von Senfgas im maschinellen Grabenkrieg der Westfront, den Gaskammern der Konzentrationsager der Nazis, dem Abwurf von amerikanischen Atombomben über Hiroshima und Nagasaki, den Bombenteppichen im Koreakrieg usw. längst auch fähig und willens diese einzusetzen? Der zweite Absatz mit den Verkündigungen der Zeitungen über das Öl usw. spannt den Bogen bis in die Gegenwart und – ich fürchte dies – auch in die Zukunft. Wie Koeppen aber diese Angst und deren versuchte Verdrängung beschreibt, finde ich meisterhaft bewältigt. Die kurzen, stakkatoartigen Zeitungsüberschriften, die von Koeppen eingeworfen wurden, sprechen dabei für sich und lassen den geschichtlichen Rahmen auch für die, die nicht zu dieser Zeit lebten, erfassen, was dass Buch auch meiner Generation leichter zu lessen macht. Einige Sätze sind in ihrer Anklage kaum zu übertreffen, wie z.B.:

    Zitat

    …Das Zeitungspapier roch nach heißgelaufenen Maschinen, nach Unglücksbotschaften, gewaltsamen Tod, falschen Urteilen, zynischen Bankrotten, nach Lüge, Ketten und Schmutz. Die Blätter klebten verschmiert aneinander, als näßten sie Angst. Die Schlagzeilen schrien:… Die Illustrierten lebten von den Erinnerungen der Flieger und Feldherren, den Beichten der strammen Mitläufer, den Memoiren der Tapferen, der Aufrechten, Unschuldigen, Überraschten, Übertölpelten…


    Die Deutschen wussten zu dieser Zeit überhaupt noch nicht im Ganzen - wie Hermann Hesse feststellte – was sie sich und der Welt angetan hatten…


    Was hat sich aber an dem von Koeppen für das Nachkriegsdeutschland beschriebenen bis heute in der Welt geändert? Wenig. Nur dass wir im Trugschluss der uns umgebenen Demokratie besser mit der Angst umzugehen lernten und unsere Verdrängung geschult wurde. Was steht aber heute in den Zeitungen und Illustrierten unserer Welt? Was ist mit dem weltweiten Massenvernichtungspotential? Das Fazit für mich: “Tauben im Gras” ist ein immer noch brandaktueller Roman!


    Vorerst genug und Grüße, FA

    Daß man gegen seine Handlungen keine Feigheit begeht! daß man sie nicht hinterdrein im Stiche läßt! - Der Gewissensbiß ist unanständig. - Friedrich Nietzsche - Götzen-Dämmerung, Spruch 10

  • Zitat von "Friedrich-Arthur"

    Die ersten Seiten wurden kraftvoll, bisweilen derb, dennoch in sehr ausgefeilter Prosa geschrieben. Kein Wort ist da zuviel und doch wurde eine seh-, fühl- und riechbare Atmosphäre von Koeppen geschaffen, die eindringlich ist und unter die Haut geht.



    Hallo zusammen,


    auch etwas, was er mit James Joyce gemeinsam hat. Ich kann mir vorstellen, dass die Selbstbefriedigungsszene Emilias (S. 30), einen Skandal auslöste.


    Gruß
    Maria

    In der Jugend ist die Hoffnung ein Regenbogen und in den grauen Jahren nur ein Nebenregenbogen des ersten. (Jean Paul F. Richter)

  • http://www.dieterwunderlich.de/Koeppen_tauben.htm#com


    http://www.br-online.de/kultur…olfgang-koeppen/index.xml


    http://www.nthuleen.com/papers/632paper.html


    Vorerst genug, der letzte Text ist nämlich ganz schön detailliert und umfangreich und zeigt darüber hinaus, warum "Tauben im Gras" immer noch so aktuell ist.


    Grüße, FA

    Daß man gegen seine Handlungen keine Feigheit begeht! daß man sie nicht hinterdrein im Stiche läßt! - Der Gewissensbiß ist unanständig. - Friedrich Nietzsche - Götzen-Dämmerung, Spruch 10

  • Hallo !


    Ja, an Ulysses liessen mich die ersten Seiten auch denken - vielleicht auch die Erzähöperspektive, so distanziert und doch irgendwie so nah durch die inneren Monologe.


    Maria: stimmt, fast genau der Anfang von Lenz' "Es sind Habichte in der Luft" - ob das eine Reminiszenz an Koeppen war ?


    Die intensiven Bilder hat FA ja gut beschrieben, jedoch glaube ich, dass dieses Vernichtungs- und Depressionsgefühl nur wenige Menschen hatten und vielleicht mehr auf der intelektuellen Seite bestand. Im allgemeinen waren die Menschen sicher froh, den Krieg heil überstanden zu haben und mussten sich um naheliegendere Dinge wie Wohnung und Zukunft kümmern. Auch dies spricht Koeppen ja an (Zuzugsgesetz aufgehoben) und ihm missfällt diese Ebene sichtlich. Ihm wäre es wohl lieber gewesen, wenn sich jeder sofort aktiv mit der Politik auseinandergesetzt hätte, aber alles blieb ja - wie er in seinen beiden anderen Romanen dieser Trilogie aufzeigt - mehr oder weniger alles beim alten.


    Zitat

    Wie gefallen euch die bereits eingeführten Personen, z.B. Philipp, Emilia, Dr. Behude, Odysseus Cotton, Frau Behrend ....


    Mit den Personen kann ich noch recht wenig anfangen, dafür nin ich noch nicht weit genug. Emilias Ausbruch, als sie in der einquartierten Villa wegen ihres Vermögensverlustes herumrandalierte, finde ich ziemlich egoistisch, wohl auch mit einem gewissen Standesdünkel erzogen. Eine gewisse Häme über ihre Situation konnte ich ersprüren. Philipp, könnte er ein bißchen an Koeppen erinnern, als lesewütiger Schriftsteller kommt er mit der neuen Situation nicht zurecht. Odysseus Cotton - wieder so ein sprechender Name von Koeppen - wirkt wie von einem anderen Stern mit seinem Kofferradio.


    Gruß von Steffi

  • Hallo FA,


    danke für die umfangreichen links. Den letzten werde ich mir erst nach der Lektüre zu Gemüte führen - er ist in der Tat sehr umfangreich und detailliert und ich fürchte, er würde schon zuviel vorwegnehmen.


    Gruß von Steffi

  • Hallo zusammen,


    hallo Steffi und Maria,


    ich stimme dir zu. Koeppens etwas enttäuschte Sichtweise sieht vieles negativ, vielleicht, weil er Intellektueller war. Aber so ganz unrecht hatte er nicht. Er sah in der Festigung der von ihm beschriebenen Verhältnisse vielleicht, dass sich die Chancen, die der Neuanfang bot, nicht genutzt wurden, dass die Menschen nicht, oder ungenügend von den Kriegsjahren gelernt haben (hier besonders im Bezug Vergangenheitsbewältigung, Rassissmus, Re-Militarisierung, Herrschaft des Geldes usw.). Vielleicht war Betonung der Verhältnisse sein Versuch, die Menschen zum Umdenken zu beeinflussen. Es ging Koeppen wohl mehr um die Frage, wie den Alltag und den Neubeginn gut und besser zu gestalten, als um Vergangenheitsbewältigung. Die Antworten gab er nicht, dagegen deckt er die Verhältnisse schonungslos auf, überzeichnet und bewusst provizierend. Das ist auch eine Möglichkeit. Aber die Kräfte des Schriftstellers sollte man dabei nicht zu hoch bewerten. Schriftstellerei im Sinne von "Tauben im Gras" ist auch ein Kampf gegen die Windmühlen sich unkontrolliert festigender Verhältnisse. Wir werden sehen, was sich weiter ergibt...


    Schöner Austausch hier, muss ich feststellen!


    Grüße, FA

    Daß man gegen seine Handlungen keine Feigheit begeht! daß man sie nicht hinterdrein im Stiche läßt! - Der Gewissensbiß ist unanständig. - Friedrich Nietzsche - Götzen-Dämmerung, Spruch 10

  • Nach den ersten 17 Episoden bin ich noch nicht in den Roman eingedrungen. Bis jetzt wirkt der Text auf mich wie ein Prolog in dem der Rahmen und der Raum für die eigentliche Handlung beleuchtet wird. Ähnliches ist mir bei dem Film „Zelig“ von Woody Allen passiert. Da saß ich eine halbe Stunde nach Beginn des Films und wartete noch immer auf den Beginn der Geschichte und war dabei schon mitten drin ;-)
    Im Gegensatz zum Filmerlebnis bleibt bis jetzt beim Lesen die Faszination für die Figuren aus. Es kommt mir vor, als würde ich die Charaktere alle schon kennen und könnte vorausahnen wie sie reagieren.
    Die vielen und gedrängten sprachlichen Bilder, die Koeppen verwendet schaffen aus meiner Sicht eine beklemmende Atmosphäre . Lediglich die beiden „underdogs“ O.Cotton und der Dienstmann bringen einen Hauch von Slapstick in das Geschehen. Vielleicht mischen sie ja noch den ganzen Haufen depressiver Figuren auf

  • Hallo zusammen,


    Auf der S. 40 bei meiner Suhrkamp Taschenbuchausgabe, begegnen sich ein paar Parteien (?)


    Der roten Ampel nähert sich Odysseus Cotton; Emilia steht bereits an der roten Ampel und über die Kreuzung fährt ein neues 'Gesicht', nämlich Mr. Edwin in dem Auto des Konsuls.


    es kreuzen sich ihre Wege ohne sich zu kennen.


    Zitat von "Bloom"


    Die vielen und gedrängten sprachlichen Bilder, die Koeppen verwendet schaffen aus meiner Sicht eine beklemmende Atmosphäre . Lediglich die beiden „underdogs“ O.Cotton und der Dienstmann bringen einen Hauch von Slapstick in das Geschehen. Vielleicht mischen sie ja noch den ganzen Haufen depressiver Figuren auf.


    Das empfinde ich auch so, besonders der 1. Teil deiner Aussage.


    Zitat von "Steffi"


    Ihm wäre es wohl lieber gewesen, wenn sich jeder sofort aktiv mit der Politik auseinandergesetzt hätte, aber alles blieb ja - wie er in seinen beiden anderen Romanen dieser Trilogie aufzeigt - mehr oder weniger alles beim alten.


    ich kenne noch nicht die anderen Romane aus der Trilogie des Scheiterns, aber ich bin sehr gespannt darauf.


    Zu deinen obigen Worten. Ich kenne nicht so genau die Geschichte der 60iger Jahre, aber war es nicht so, dass sich diese Situation, die Koeppen in seiner Trilogie anprangert, sich in den Demonstrationen der 60iger Jahre gipfelte? Ich weiß darauf leider keine Antwort.


    Zitat von "Friedrich-Arthur"


    Das Fazit für mich: “Tauben im Gras” ist ein immer noch brandaktueller Roman!


    ganz deiner Meinung.


    Viele Grüße
    Maria

    In der Jugend ist die Hoffnung ein Regenbogen und in den grauen Jahren nur ein Nebenregenbogen des ersten. (Jean Paul F. Richter)

  • Lese ich anders oder schreibt Koeppen nach einigen Episoden anders ?


    Mittlerweile bin ich bei Episode 30 angelangt (nach meiner Zählung) und der Roman kommt in fluss. Die Anfangsabschnitte waren zäh, Koeppen ließ mehr seinem Frust und seiner Leidenschaft für Metaphorik freien Lauf, und behandelte seine Protagonisten (falls es die überhaupt gibt) wie Werkzeuge dafür. Nun beginnen sie sich zu befreien und mehr ihren Angelegenheiten nachzugehen, Die, denen es etwas besser geht beschäftigen sich mit den existentiellen Aspekten (Messalina: Wer treibt es mit wem ,Odysseus: Wie betrügt man z.B.) , die, denen es nicht gut geht mit ihren Träumen mit denen sie zurück in die „Gute alte Zeit“ fliehen (Emilia zu ihrem großbürgerlichen Umfeld, Behuda in die Zeit, als Arzt noch etwas besonderes war z.B.) . Draußen bleibt Philipp, das Gespenst vor dem W.Koeppen Angst hat und fürchtet ihm einmal zu begegnen wenn er in einen Spiegel schaut. Er, der keinen Roman schreiben kann, der es hasst, als „Lohnarbeiter“ Drehbücher zu verfassen und der nichts zusammenhalten kann, noch nicht mal mit Patentkleber, für den er sich schämt. Er ist, aus meiner Sicht die dunkle Seite Koeppens, und wir wissen, K. ist diesem Gespenst begegnet, allerdings erst nachdem er die Romane geschrieben hatte, denen er seinen hohen Rang in der deutschen Literatur verdankt.
    Die Menschen im Roman bewegen sich an der langen Leine, handeln nicht mehr als und doch ist die Erörterung, die Koeppen über Diskriminierung in das Telefongespräch von Washington mit seinem Vater einfügt ein originelles Detail


    Jedenfalls ist nun Spannung im Text

  • Hallo zusammen,
    hallo Bloom !


    Ja, ich empfinde es genauso - plötzlich, ich glaube, es war ab der Begegnung an der Kreuzung, kommt die Geschichte in Schwung. Die Kreuzungsszenen waren elegant gemacht, er schrieb nie, dass es sich wirklich um diesselbe Straße handelt, erst als Behude mit dem Fahrrad auf das Auto von Edwin trifft (oder umgekehrt) setzt sich die Assoziation der Gemeinsamkeit in Gang. Die Straße hat ja auch etwas aufbruchhaftes.


    Die Schilderung Washingtons' ließ mich an die 70er Jahre denken. Ich komme aus einer Stadt, in der amerikanische Soldaten stationiert waren, meine Schwester war mit einem weissen GI befreundet und erzählte von einigen Rausschmissen aus Gastwirtschaften und vielen schiefen Blicken.


    Zitat

    und der nichts zusammenhalten kann, noch nicht mal mit Patentkleber,

    Das hast du schön gesagt, diese Assoziation von dem Kleber hatte ich nicht, aber es stimmt ! Philipp ist schon sehr faszinierend und auch die komplexeste Person bisher. Ein bißchen finde ich die Ähnlichkeit mit dem späteren Koeppen auch gruselig, ob er sich damals schon so gesehen hat oder ob es ein unbewußtes Erkennen seiner selbst war ?


    Gruß von Steffi

  • Hallo zusammen!


    Hier mein gestern Abend vorgeschriebener Beitrag:


    Wie bloom schon feststellte, das Geschehen gewinnt beim Zusammentreffen vorher getrennter Handlungsstränge an Beschleunigung, die Motive der Protagonisten werden deutllicher. Die Personen leben also nicht hier und dort in der Stadt, sondern sie sind teils zufällig, teils notwendig miteinander verpflochten. Das Aufeinadertreffen ist mit Leichtigkeit geschrieben, aber es setzt Motive frei…


    Es gibt einige echte Stilperlen im Satzbau und einige sehr treffende Aussagen, kühle Feststellungen zum Teil. Wie Koeppen die Stellung der Frau vor und im Dritten Reich und auch noch danach kurz feststellte:

    Zitat

    ...Konnten sie uns nicht in Frieden lassen? Frau Behrend hatte den Krieg nicht gewollt. Der Krieg verseuchte die Männer.

    zeigt die Ausdruckskraft dieses Autors. Kürzer und dabei zwei Aussagen treffend kann ein Satz wohl nicht geschrieben werden. Die Last die besonders die Frauen in Kriegen zu tragen haben und die Verrohung der Männer in den Kriegen… In:

    Zitat

    …Der eigene Bauch am Nächsten. Die Welt war hart. Soldatenwelt. Soldaten packten hart zu. Bewährung…

    stecken auch mehrere Aussagen und Anklagen. Sätze die aus einem Wort bestehen… und am Ende dieses Abschnittes ein wichtiger Satz für diesen Roman:

    Zitat

    …Gefährlich war das Leben, voll Fallgruben der Weg der Anständigen…

    Koeppen kam immer wieder auf das Motiv zurück, wie anständig und stolz bleiben, wenn der Magen knurrt?…


    Diskussionen, die zur Zeit über den Bombenkrieg geführt werden, nahm Koeppen in seinem Buch auch vorweg. Er beschrieb die Zerstörungen, den Schutt, die Wunden und lässt sie auch von Amerikanern betrachten und darüber nachdenken. Er betrachtet aber auch den Zustand der Einrichtungen, wie das Gesundheitswesens und der Schulbildung und spart auch da nicht mit Kritik, stellte diese aber auch in den geschichtlichen Zusammenhang… Beim deutschen Schulsystem lese ich heraus, dass Koeppen es resigniert betrachtete und beschrieb - was auch Nietzsche schon tat – und dass Koeppen damit nicht unrecht hat, wie die gegenwärtigen öffentlichen Diskussion zeigen…


    Immer wieder kehrte Koeppen zurück zum Rassissmus und dessen dämonische Zähigkeit. Dabei nutzt er besonders die Beziehungen und das Erscheinen schwarzer amerikanischer Soldaten. Nach all dem Rassissmus und Morden des Zweiten Weltkrieges, nach dem Vernichtungskrieg im Osten, dem Völkermord an Juden und Zigeunern, dach den Euthanasieentartungen, dem systematischen Auslöschen von Regimekritikern und –gegnern, Andersdenkenden usw. sollte man annehmen, die Deutschen hätten eine grundlegende Lehre gezogen, aber viele scheinbar nicht. Ich sehe hier eine Kernaussage des Buches: die Deutschen waren immer noch bewusste oder unbewusste Rassisten, zumindest ein bedeutender Teil der Bevölkerung. Koeppen erachtete sie als immer noch totalitär und demokratieunfähig. Dies stimmte zur Zeit kurz nach dem Krieg sicher noch. Heute sieht es besser aus, jedoch immer noch nicht gut. Es gibt gefährliche Tendenzen; der Rassissmus ist keineswegs überwunden und stellenweise trägt er sein häßliches Gesicht wieder offen, unverblümt und ungeniert auf der Straße zur Schau. Das Wort der Salonfähigkeit von Rassissmus macht die Runde. Die Zahl der rechtsextremen Überfälle auf Andersfarbige und Andersdenkende wächst, einige Gebiete Deutschlands geben an Ausländer begründete Reisewarnungen heraus… Koeppens Buch ist immer noch aktuell, so wie auch Theodor W. Adornos “Minima moralia”…


    Koeppen schrieb auch über seine Betrachtungen über das Land über dessen Kultur (und Kultur überhaupt) und dachte darüber nach, was von Carl Maria von Weber, Richard Wagner, Gottfried Benns Gedichten, Martin Heideggers Philosophie, Marcel Prousts “A la recherché du temps perdu”, dem Papageienbuch, den Upanischaden, Giorgano Bruno, Botticelli, dem Dichter Heinrich Heine, Wilhelm Busch, Johann Wolfgang von Goethe, Winckelmann, August Graf von Platen, Franz Kafka, Rainer Maria Rilkes Elegien, Thomas Mann, Heinrich Kleist, Friedrich Hölderlin, Hugo von Hofmannsthal usw. geblieben ist und bleiben wird. Er sah auch mit der amerikanischen Besatzung, das Aufkommen deren großer Schriftsteller Hemingway, Faulkner, Wolfe, o’Neil und Wilder. Die modernen, selbstbewussten Amerikaner im alten zerfallenden faulenden abendländischen Europa, zwei aufeinanderprallende Welten… Ich denke, Koeppen trauerte, Hermann Hesse gleich, über den Zerfall der abendländischen Kultur, die große Kulturvernichtung, die der Zweite Weltkrieg auch war, an die schwindende Kraft und den schwindenden Einfluss der Klassiker und erinnert zur Tröstung an die alten Glanzzeiten alteuropäischen Denkens, Dichtens und Schaffens…


    Damit vorerst genug und Grüße, FA

    Daß man gegen seine Handlungen keine Feigheit begeht! daß man sie nicht hinterdrein im Stiche läßt! - Der Gewissensbiß ist unanständig. - Friedrich Nietzsche - Götzen-Dämmerung, Spruch 10

  • Hallo FA,


    deine Aussage über den Rassismus finde ich sehr hart. Bisher lese ich so etwas nicht in Koeppens Roman. Es sollte natürlich nicht vergessen werden, dass der Krieg damals noch nicht so lange her war und die Amerikaner von Feinden zu Siegern und Besetzern wurden, was sicher auch für die Bevölkerung nicht einfach war. Dann noch nach und nach herauszufinden oder sich bewußt zu werden, an welchen Gräueltaten man sozusagen als Volk beteiligt war ...


    Ich habe noch viele Erzählungen von dieser Zeit von meiner Oma in Erinnerung, deren Bruder war im Internierungslager nach dem Krieg mit Typhus angesteckt worden und starb, ihr Vater, ein Sozialdemokrat, wurde grundlos von den Amerikanern interniert, wochenlang war er verschwunden und nur durch massive Hilfe seitens der Kirche wurde er freigelassen, die Bevölkerung "musste" den Siegern zujubeln, als sie triumphierend durchs Dorf fuhren usw.


    Gruß von Steffi