Feuchtwanger: Exil (Wartesaal III)

  • Hallo,


    ich habe gestern Kapitel 22 gelesen, hier tritt Jacques Tüverlin kurz auf, er trifft auf Erich Wiesener und bringt seine Verachtung für ihn zum Ausdruck. Tüverlin war ja Feuchtwangers alter ego und die Beschreibung seines Äußeren würde auch auf Feuchtwanger pasen(z.B. der vorstehende Oberkiefer).


    Mir ist nicht ganz klar, was uns der Autor mit dieser Szene sagen möchte. Einen tieferen Sinn muß sie ja haben. Möchte Feuchtwanger hier noch etwas als "er selbst" zum Ausdruck bringen ?

  • Hallo,


    Zitat von "Imrahil"

    Auch das Motiv der „nordischen List“ tritt wieder auf. Woher das kommen mag? Aus den Nibelungen?


    Ich habe mal interessenhalber danach gegoogelt. Für den Begriff findet man kaum Treffer (aber z.B. einen, der auf den "Geschwister Oppermann"-Thread hier im Forum verweist ;))
    Das scheint kein sehr typischer Nazi-Begriff zu sein. Ich werde mich mal bei meiner Frau erkundigen, ob der Begriff z.B. von Goebbels öfters verwendet wurde.


    Zitat von "Imrahil"


    Auf S.214 heisst es: „Nur wenige im Ausland ahnten, mit welch schauerlicher, närrischer, bis ins letzte verfeinerter und verästelter Methodik die Nazi praktische Konsequenzen aus ihren Rassentheorien zogen.“
    War man im Ausland wirklich so unaufgeklärt über das Treiben der Nazi? Ich kann mir das kaum vorstellen, da ja der Journalismus, das Nachrichtenwesen überhaupt sehr rege im Gange war. Was meint ihr?


    Mir ist das schon bei Klemperers Tagebüchern aufgefallen. Exemplarisch fällt mir ein Fall ein, wo ein Verwandter, der nach Schweden geflüchtet war, ihm brieflich Fragen zu seiner Situation stellt, die Klemperer niemals hätte beantworten können ohne Gefahr zu laufen im KZ zu landen. Der Briefschreiber ist richtig verärgert, dass Klemperer ausweichend antwortet und hakt verärgert nach. Auf die Idee, dass Klemperer aus Angst vor der Zensur nicht antworten konnte, kam er gar nicht, folglich mußte er kaum etwas von der Situation (speziell der Juden) in Deutschland geahnt haben. Und das war wie gesagt ein Flüchtling, jemand, der sich doch noch etwas für die Vorgänge in Deutschland hätte interessieren sollen.



    Zitat von "Imrahil"


    Und wenn ich schon gerade bei Parallelen bin: Der junge marxistische Hanns, der Architekt lernt, russisch lernt und nach Moskau will weist einige Gemeinsamkeiten zu Kaspar Pröckl auf: Auch dieser war jung, Marxist, wollte und ging nach Moskau und hatte, neben seiner Schriftstellerei, eine technische Profession (Mechaniker?). Allerdings ist Hanns mehr der „Opfertyp“, das habt ihr auch an einer Stelle geschrieben.


    Stimmt. Pröckl (Ingenieur bei BMW) war eher überheblich, glich fast ein bischen Wiesener.


    Bei Wiesener fallen mir übrigens immer wieder seine gedanklichen Bibelvergleiche auf. Er denkt oft an "das Lamm der Armen", verlgeicht sich mit Salomo und anderen Figuren aus dem Alten Testament und Heidebregg wirkt auf ihn von der Art "ganz protestantisch".


    Viele Grüße,
    Zola

  • Zitat von "finsbury"


    Zwischendrin habe ich mir ein paar Gedanken über die Personenkonstellation gemacht.
    Es fallen die zwei parallel gestalteten "Familien" auf: Trautweins auf der einen Seite und Wiesener / de Chassefierre auf der anderen Seite. F. hat eine ganze Menge getan, um diese beiden zu parallelisieren und gleichzeitig zu kontrastieren: Beide Paare haben Probleme, die i.W. auf dem Verhalten der Männer beruhen und beide Männer haben Problem mit ihren Söhnen. Während aber bei Trautweins trotz aller Missverständnisse und trotz des tragischen Ausgangs doch alles auf Güte und Liebe beruht, handelt es sich bei Wiesener /Chassefierre um einen Tanz der Eitelkeiten.


    Stimmt, der Verlgeich der beiden "Familien" ist interessant. Wobei ich glaube, dass die Beziehung Wieseners mit den Chassefierres wohl keine Chance mehr hat. Dass sich Trautweins trotz ihrer momentan entwickelnden Entfemdung trennen würden, kann ich mir nicht vorstellen.


    Zitat von "finsbury"


    Noch ein kleiner Rückblick: Das Kapitel II/12 trägt den Titel "Der einzige und sein Eigentum": Das ist m.W. das philosophische grundwerk von Max Weber, dessen Inhalt ich aber leieder nicht kenne. Wisst ihr, ob der Kapitelinhalt damit auch tiefergehend etwas zu tun hat?


    Ich kenne das Werk von Max Stirner auch nicht, daher kann ich dazu leider nichts sagen. Mir ist nur bekannt, dass es ein Aufruf zu mehr Individualismus und (je nach Sichtweise) mehr Egoismus sein soll. Das Kapitel handelt von Harry Meisels Nachlaß. Den Zusammenhang könnte man vielleicht in Meisels Nihilismus sehen ?


    Viele Grüße,
    Zola

  • Hallo Zola und Imrahil,



    Inzwischen bin ich in Buch III, Kap. 7.


    Zitat von "Zola"

    Ich kenne das Werk von Max Stirner auch nicht,


    Tja, das kommt davon, wenn man nicht nur den Inhalt, sondern auch den Nachnamen des Autors nicht kennt! :redface:

    Zitat von "Zola"


    Imrahil hat folgendes geschrieben::
    Auch das Motiv der „nordischen List“ tritt wieder auf. Woher das kommen mag? Aus den Nibelungen?



    Ich habe mal interessenhalber danach gegoogelt. Für den Begriff findet man kaum Treffer (aber z.B. einen, der auf den "Geschwister Oppermann"-Thread hier im Forum verweist )


    Die Nazis haben ja einen großen Teil der nordischen Göttermythologie - auch im Zuge ihrer Richard-Wagner-Adaption - für sich in Anspruch genommen.
    Zu diesem Götterkreis gehört auch Loki, der Gott der List. Dass es dafür einen Extra-Gott gibt, ist im Vergleich zu anderen Mythologien auch bemerkenswert.
    Ich denke aber, im Wesentlichen bezieht sich der Begriff in der Tat auf das Nibelungenlied, in dessen Hagen die Nazis ja immer ein Paradebeispiel für nordische List gesehen haben, nicht am Anfang, sondern an Etzels Hof, als er Krimhield zugunsten der Burgunder auszutricksen versucht.

    Zitat von "Imrahil"


    Mit dem Mittel der „erlebten Rede“ gelingt es Feuchtwanger, was ihr ja auch schon mehrfach geschrieben habt, das ganze Gefühls- und Gedankenreichtum der verschiedenen Personen in all seinen Facetten aufzufächern


    Hierzu finde ich ein besonders schönes Beispiel,


    Zitat von "spoiler"

    Annas "stream of consciousness", als sie sich umbringt.
    Ganz ähnlich wird das ja auch in den Oppermanns dargestellt, als sich der Sohn des Bruders von Gustav das Leben nimmt.


    Das Buch gewinnt mit Ende des zweiten Bandes wieder zunehmend an Fahrt. Durch die Neugründung der PDP wird der Konflikt mit Gingold geschürt. Sepps Zertstrittenheit zwischen der Komposition der Wartesaal-Sinfonie (endlich der Name erklärt) und dem politischen Engament nehemn die Thematik vom Anfang auf einem durch das Leid erhöhtem Niveau wieder auf.
    Übrigens finde ich die Figur des alten Ringseis ganz wunderbar: Äußerlich als schrullig und ein wenig wunderlich dargestellt, ist er eigentlich doch der einzige Weltweise, der über den Dingen steht und sie in historischem Abstand sieht.

    Zitat von "Zola"


    Zur Person Wiesener: Das stimmt, er ist wirklich unsympathisch, sehr selbstgefällig und wir von Feuchtwanger auch mit viel Ironie und Spott bedacht. Trotzdem oder gerade deswegen ist er eine sehr bereichernde, interessante Figur.


    Ich denke, dass Wiesener und Tüverlin zwei Spielarten von Feuchtwangers eigenen Charakterzügen sind.


    Sie sind beide hommes de lettre, sind beide scharfzüngig und ironisch, den Frauen und den schönen Dingen des Lebens zugeneigt und eher leicht- als schwerblütig. Vielleicht will F. hier klarmachen, in welche verschiedene Richtungen gleich veranlagte Personen gehen können, wenn ethischen Grundsätze vorhanden oder eben nicht vorhanden sind. Deshalb, Zola, glaube ich auch, ist die Begegnung beider in Südfrankreich eine Schlüsselszene: Tüverlin lehnt sein ethisch pervertiertes Alter ego ab, und der begreift das auch unbewusst.


    Bis bald


    finsbury

    Ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns. (Kafka)

  • Salut zusammen,


    Komme nun zu Kapitel 11, Buch II. Das letzte Kapitel handelte vom "Oratorium Die Perser". Habe mir zu dieser Gelegenheit einen Aischylos-Band gekauft (kenne bisher nichts von ihm) und werde das kleine Stück bei Gelegenheit einmal lesen. Ich finde Intertextualität ohnehin etwas sehr spannendes, wenn auch oft, eigentlich nahezu immer ausufernd :zwinker:


    Interessant das mit der Klemperer-Anekdote Zola, kannst Du mir dessen Bücher gross modo empfehlen?


    Zur "nordischen List" bin ich auch noch nicht fündig geworden, werde das aber weiterverfolgen. Konntest Du noch etwas ausfindig machen Zola, oder Du Finsbury?


    Als allgemeine Beobachtung finde ich, dass es Feuchtwanger sehr gekonnt versteht, Gedanken-und Gesprächssequenzen auszuführen, dabei eben beide Seiten beleuchtet. Es hat einige starke Dialoge. Beispielsweise zwischen dem Dirigenten Riemann und Trautwein.
    Und wie er jedem Menschen etwas Gutes abgewinnen kann, so zeugt Feuchtwanger aber auch gleichermassen die Tücken und intrigante Hinterhältigkeit der MEnschen immer wieder aufs Neue auf.
    Daneben auch starke, beängstigende Bilder. z.b. S.307, Kap 6,II: Wiesener, Gehrke und Heydebregg sitzen an einem Tisch." Sie hatten viel Schicksal gemacht, die drei Herren, und werden auch in Zukunft über manche Schicksale zu befinden haben."
    Als drittes: Feuchtwanger gelingen meines Erachtens auch stets schöne Charakterbilder, reichhaltig, humorvoll und ironisch.


    Der Nationalsozialismus wird weiter als völlige Entbehrung der Vernunft betrachtet, als vulgär, vorsteinzeitlich, Unbegabte (die über die Begabten den Sieg davon tragen). Etwas pessimistisch ist es, wenn Harry Meisel anfügt, dass man die Welt nicht für dumm genug halten könne. Spricht daraus auch Verbitterungd und Resignation Feuchtwangers?
    Interessant ist wirklich auch, dass Feuchtwanger immer wieder auf den Verlust an Sprachgefühl der Nazis hinweist, auf den einziehenden Militarismus auch in der Sprache. Da fällt mir auch die Stelle mit der "Entleerungsschlacht auf dem Lokus" ein, auf die auch bereits hingewiesen wurde. Oder ein anderes Beispiel, als Raoul Spitzi seinen Altar mit den Symbolen zeigt und in "Nazideutsch" übersetzt: "Kunstbereitschaft"!


    Mir fällt auf, dass Feuchtwanger ein Faible dafür hat, immer wieder vereinzelt andere Künstler bei sich dezent einfliessen zu lassen. Friedrich Schiller (am prominentesten im Kapitel "Kabale und Liebe"; auch in "Erfolg") oder verschiedene Opern Puccinis wie "Tosca", "Madame Butterly".


    Thematischer Schwerpunkt bleibt bis jetzt meines Erachtens die Untrennbarkeit von Kunst (Musik, Literatur in diesem Falle) und Politik.


    Soweit,
    Imrahil

    "Die Kunst des Nachdenkens besteht in der Kunst..., das Denken genau vor dem tödlichen Augenblick abzubrechen. - Thomas Bernhard, Gehen

  • Hallo , ihr beiden,


    bin nun in Buch III, Kapitel 19.


    Wie geschrieben, die Handlung hatte an Fahrt gewonnen: Momentan beruhigt es sich wieder etwas.
    Sepp ist nun endgültig zur Musik zurückgekehrt und kann sich bei seiner "Wartesaal-Sinfonie" endlich ungehemmt und ungekünstelt als Komponist verstehen, der Großes und auch Politisches zu tönen hat.
    Hanns auf dem Weg nach Moskau, Benjamin als Chefredakteur bei der PDP, ihm zur Seite eine gewandelte Ilse, Tschernigg erschlafft und arriviert: Einiges scheint sich schon auf das Ende zuzubewegen. An ein reines Happy End glaube ich aber nicht, das würde nicht zum Charakter des Buches passen.


    Zitat von "Imrahil"


    Komme nun zu Kapitel 11, Buch II. Das letzte Kapitel handelte vom "Oratorium Die Perser". Habe mir zu dieser Gelegenheit einen Aischylos-Band gekauft (kenne bisher nichts von ihm) und werde das kleine Stück bei Gelegenheit einmal lesen.


    Das Stück habe ich vor einem Jahr zum zweiten Mal gelesen: Es ist vor allem auch deshalb eindrucksvoll, weil Aischylos hier sehr sympathisch das Seelenleben der griechischen Feinde ausbreitet und jeder Form der Selbstüberschätzung, besonders die andere Menschen ins Leid reißt, eine Absage erteilt.

    Zitat von "Imrahil"


    Als allgemeine Beobachtung finde ich, dass es Feuchtwanger sehr gekonnt versteht, Gedanken-und Gesprächssequenzen auszuführen, dabei eben beide Seiten beleuchtet.


    Dem kann ich auch immer wieder nur zustimmen.


    Interessant ist in den letzten Kapiteln das Selbstverständnis der exilierten deutschen Juden. Sie erkennen und nehmen für sich auch in Anspruch, dass sich der Hass der Dummen (Nazis) auf die geistig Überlegenen (die deutschen Juden) richtet. Das ist auch durchaus wahr, wenn man bedenkt, welch ungeheuren Beitrag sie zur Kunst und Wisssenschaft in Deutschland und weltweit beigetragen haben.
    Interessant übrigens, dass der Sänger Donald Percy alias Nath Kurland, in Kapitel 17 einen Unterschied zwischen Juden und Israelis macht und sehr wohl zu den ersten, jedoch nicht zu den anderen gehören will.
    Wisst ihr, welche unterschiedliche Bedeutungen diese beiden Begriffe in den 30er Jahren hatten? Waren die letzteren die orthodoxen Juden, die das Land ihrer Väter wieder für sich wollten?


    Ein schönes Restwochenende!
    HG
    finsbury

    Ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns. (Kafka)

  • Hallo ihr beiden,


    ich bin fertig. Sehr aufschlussreich ist auch das Nachwort von Feuchtwanger selbst. Morgen folgt eine längere Stellungnahme.


    Noch viel Spaß beim Lesen und eine schöne Arbeitswoche!


    HG
    finsbury

    Ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns. (Kafka)

  • Salut zusammen,


    Bin nun mit dem zweiten Buch zu Ende. Auch wenn Du schon fertig bist, finsbury, können wir ja die Diskussion noch ein wenig fortsetzen.


    Der Tod Harry Meisels bildet einen sehr dunklen Abschnitt des Romans. Zunächst wird nochmals das Künstlermilieu etwas klischiert gezeigt (kritisiert?), indem Tschernigg und Meisel sobald sie Geld haben, dieses sogleich verprassen. Es kehrt das Motiv des Sieges der Unbegabten über die Begabten wieder, indem der Begabte, das "Genie" Meisel stirbt. Als Folge zeigt sich gerade bei Trautwein ein Bild der Mutlosigkeit, Resignation und auch Verkommenheit. Auch Anna wird mehr und mehr ein psychisches und physisches Wrack. Selbst bei Wiesener herrscht Untergangsstimmung, er fürchtet sein Waterloo. Wirklich zufrieden und glücklich scheint mir keine Figur dieses Buch, vielleicht Heydebregg.


    Zu Beginn des 13.Kapitels wird noch einmal ein allgemeiner Appell aufgeworfen, dass die Nazis nicht allein mit der Vernunft, sondern auch mit dem Gefühl gewissermassen bekämpft werden müssen. Der logische und gesunde Menschenverstand - das betont Feuchtwanger unentwegt - reicht eben nicht mehr allein aus.
    "Vernunft, Sinn für Anstand, Geschmack, alles wird ausgeschaltet, wenn erst der Trieb einmal mächtig geworden ist. Das ist ja die Gleichschaltung, dass Vernunft und Anstand und GEschmack ausgeschaltet werden. Das ist unser braunes Zeitalter." (S.417).


    Was haltet ihr von der Figur Gingold? Er ist mir eigentlich gar nicht so unsympathisch, vielmehr erscheint er mir einfach blind hinsichtlich der Situation, er erkennt die Gefahren eben trotz seiner Gewieftheit nicht. Zwar hat er für die Nazi den Begriff "Urböse" parat, aber er scheint sie zunächst nicht ernst genug zu nehmen, möchte mit ihnen ein Spiel spielen. Überhaupt sind die vielen Intrigen und Ränkespiele wie auch bereits in "Erfolg" auffallend stark vertreten. Es ist ein riesiges diplomatisches, politisches GEflecht.


    Zitat

    Sepp Trautwein kopiert in die PN einen absurden Artikel, der ursprünglich im "Fränkischen Kurier" veröffentlicht worden ist. Ein Jude wurde verurteilt, da er eine Hose in SA-Farben getragen hatte. Vielleicht eine von Feuchtwanger erfundene Geschichte, die allerdings so absurd ist, dass sie sehr gut aus Nazi-Deutschland stammen könnte.


    In der Tat absurd! "Die Geschwister Oppermann" waren ja voll von solchen Berichten und Absurditäten der Nazi.


    Zitat

    Mir ist nicht ganz klar, was uns der Autor mit dieser Szene sagen möchte. Einen tieferen Sinn muß sie ja haben. Möchte Feuchtwanger hier noch etwas als "er selbst" zum Ausdruck bringen ?


    Zu der Szene Tüverlins und Wieseners: Ich denke ganz schlicht, dass Feuchtwanger so nochmals deutlich seine Verachtung jeder Person zeigen wollte, die mit den Nazi paktiert. Und da wie Du sagst Tüverlin ja ähnlich Gustav und Sepp ein alter Ego ist, bietet sich eine solche Szene an.


    Zitat

    Zu diesem Götterkreis gehört auch Loki, der Gott der List. Dass es dafür einen Extra-Gott gibt, ist im Vergleich zu anderen Mythologien auch bemerkenswert.
    Ich denke aber, im Wesentlichen bezieht sich der Begriff in der Tat auf das Nibelungenlied, in dessen Hagen die Nazis ja immer ein Paradebeispiel für nordische List gesehen haben, nicht am Anfang, sondern an Etzels Hof, als er Krimhield zugunsten der Burgunder auszutricksen versucht.


    Das hatte ich doch glatt überlesen. Vielen Dank für den Hinweis finsbury!


    Bis dann,
    Imrahil

    "Die Kunst des Nachdenkens besteht in der Kunst..., das Denken genau vor dem tödlichen Augenblick abzubrechen. - Thomas Bernhard, Gehen

  • Hallo zusammen,


    ich bin etwa in der Mitte des dritten Buchs. Die Handlung hat wirklich wieder an Fahrt zugenommen.




    Zitat von "finsbury"

    Ich denke, dass Wiesener und Tüverlin zwei Spielarten von Feuchtwangers eigenen Charakterzügen sind.


    Sie sind beide hommes de lettre, sind beide scharfzüngig und ironisch, den Frauen und den schönen Dingen des Lebens zugeneigt und eher leicht- als schwerblütig. Vielleicht will F. hier klarmachen, in welche verschiedene Richtungen gleich veranlagte Personen gehen können, wenn ethischen Grundsätze vorhanden oder eben nicht vorhanden sind. Deshalb, Zola, glaube ich auch, ist die Begegnung beider in Südfrankreich eine Schlüsselszene: Tüverlin lehnt sein ethisch pervertiertes Alter ego ab, und der begreift das auch unbewusst.


    Darauf bin ich noch gar nicht gekommen. Danke, das klingt einleuchtend.



    Zitat von "Imrahil"


    Was haltet ihr von der Figur Gingold? Er ist mir eigentlich gar nicht so unsympathisch, vielmehr erscheint er mir einfach blind hinsichtlich der Situation, er erkennt die Gefahren eben trotz seiner Gewieftheit nicht. Zwar hat er für die Nazi den Begriff "Urböse" parat, aber er scheint sie zunächst nicht ernst genug zu nehmen, möchte mit ihnen ein Spiel spielen. Überhaupt sind die vielen Intrigen und Ränkespiele wie auch bereits in "Erfolg" auffallend stark vertreten. Es ist ein riesiges diplomatisches, politisches GEflecht.


    Gingold sehe ich wohl genauso wie du, Imrahil. Eigentlich ist er zu einem gewissen Maß nur ein Opfer, da er von den Nazis erpreßt wird. Auch bei ihm gelingt es Feuchtwanger den Charakter in seinen guten und schlechten Zügen zu zeichnen. Als richtig negative Figur nehme ich ihn nicht wahr. Lustig finde ich Gingolds Aberglaube, die "P.N." buchte er anfangs unter gute Taten mit denen er Gott zufriedenstellen kann.


    Zitat von "Imrahil"


    Interessant das mit der Klemperer-Anekdote Zola, kannst Du mir dessen Bücher gross modo empfehlen?


    Auf jeden Fall. Sie sind sehr packend geschrieben, obwohl Klemperer fast täglich schreibt, auch in Jahren, in denen er wenig erlebte sind die Aufzeichnungen nie langweilig. Die Entwicklung des Lebens im Dritten Reich bekommt man sehr gut mit. Da Klemperer Philologe war, machte er sich noch Notizen zur Sprachentwicklung in der NS-Zeit (was ich auch sehr interessant finde), nur einige Notizen zu aktuellen Geschehnissen aus der Tagespresse wurden leider gestrichen, was dazu führt, dass man manche wichtige Ereignisse (z.B. Reichskristallnacht) als solche aus den Tagebüchern kaum wahrnimmt, wenn man nicht das Datum kennt. Ähnliches gilt für den Kriegsverlauf. Hier sollte man noch z.B. "Das Dritte Reich im Überblick", wo politische Entwicklung und Kriegsentwicklung in Deutschland stichwortartig aufgelistet ist, bei der Hand haben.


    So weit erst mal für heute.


    Viele Grüße,
    Zola

  • Hallo, ihr beiden,


    so, nun hat sich die Lektüre ein bisschen gesetzt.


    Wie wir alle immer wieder erwähnen,z.B. in Bezug auf Gingold, kann man eigentlich keine Figur in dem Buch in Bausch und Bogen ablehnen. Alle haben etwas zutiefst Menschliches. Dazu gibt Feuchtwanger in seinem Nachwort einen Erklärung:

    Zitat von "Feuchtwanger"

    Der Gestalter darf sich nicht die geringste Unehrlichkeit erlauben; rücksichtlose Offfenheit wird von ihm verlangt. Gerade wenn sein Gefühl und sein Verstand einander wiedersprechen, muss er bemüht bleiben, keine der beiden Stimmen zu unterdrücken.
    Ich durfte zum Beispiel die Sympathie nicht unterdrücken, die ich für einzelne meiner Menschen spüren mochte, auch wenn meine Vernunft erkannt hatte, dass alles, was diese Menschen taten, lebten, waren, der Gesamtheit Schaden bringen musste. ... Ich durfte ferner nicht vorbeigehen an den unsympathischen Eigenheiten solcher Menschen, die mir als Gesamterscheinung nützlich und bejahenswert vorkamen.


    Ich glaube, das ist es, was Feuchtwangers Trilogie so stark macht: Im Gegensatz zu seinem Anspruch ,

    Zitat von "Feuchtwanger"

    ... weniger die Menschen und Geschehnisse als eben jene Kräfte, die, von ihnen selber nicht erkannt oder doch zumindest nicht bedacht, diese Menschen, uns also, leiteten ....


    zu schildern, bringt er eben doch die Menschen in ihrer ganzen Fülle und Widersprüchlichkeit und das hebt ihn für mich von vielen Romanschriftstellern ab, die ihre Figuren eben doch in Typolopien pressen: Ich finde, Feuchtwangers Figuren sind nur ganz selten Typen, sondern höchst individuell.


    Das Ende ist sehr offen, kann aber auch gar nicht anders sein, weil der Autor dazu eben noch nicht den zeitlichen Abstand hatte.


    Insgesamt: Manche Längen, aber, wie die beiden anderen Bände, ein sehr intensives Leseerlebnis.


    Übrigens finde ich nicht, dass die "Geschwister Oppermann" wesentlich naturalistischer geraten sind als "Exil", was F. selber und die Kritik schreiben: Beide sind für meinen Geschmack wohltuend nüchtern und entbehren positiv allzu überladene Symbolik, die mich in "Erfolg" manchmal etwas irritierte.


    Noch viel Spaß und nochmal mein Vorschlag: In nicht allzu ferner Zeit schlösse sich hier harmonisch eine Leserunde zu Anna Seghers "Transit" an. :zwinker:


    HG
    finsbury

    Ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns. (Kafka)

  • Hallo ihr beiden,


    Bin nun - nachdem ich noch ein anderes Buch dazwischengeschoben hatte - auch mit "Exil" zu Ende. Vermutlich muss sich auch bei mir die Lektüre noch etwas setzen.
    Feuchtwanger schrieb, dass "Exil" ein Mittelding aus (dem symbolvollen) "Erfolg" und aus (dem eher zügigeren) "Die Geschwister Oppermann" sei. Ich habe das rückblickend auch so empfunden.


    Werde mich in den nächsten Tagen noch mit einem Schlusskommentar melden und natürlich gerne weiterdiskutieren.
    Was "Transit" angeht, so hat das aber leider gerade keinen Platz, zu vieles, was mir die Uni derzeit zu lesen diktiert...
    Bin aber im Sommer oder sonst irgendwann gerne bei einer weiteren Feuchtwanger-Runde dabei, er hat ja noch vieles Interessantes geschrieben. Werde übrigens in den nächsten Wochen eine kleine Arbeit zu Feuchtwangers Gedichten "Wetcheeks Amerikanisches Liederbuch" (1928) schreiben. Der Autor hat mich irgendwie gepackt :zwinker:


    Liebe Grüsse,
    Imrahil

    "Die Kunst des Nachdenkens besteht in der Kunst..., das Denken genau vor dem tödlichen Augenblick abzubrechen. - Thomas Bernhard, Gehen

  • Hallo,


    gestern habe ich auch "Exil" abgeschlossen. Leider hat mich die Arbeit öfters als geplant vom Lesen abgehalten und mir auch einiges vom Lesegenuß genommen.


    Ich denke auch wie Du, Finsbury, dass es Feuchtwanger sehr gut gelungen ist, sich an seinen im Nachwort beschriebenen Plan, seine Menschen immer so objektiv wie möglich mit ihren guten wie schlechten Seiten zu beschreiben, zu halten.
    Ich denke der Autor hat das Leben der Exilanten und der Repräsentanten des NS-Regimes in Paris sehr anschaulich beschreiben. Einziger leichter Mangel des Romans war aus meiner Sicht, dass er stellenweise recht handlungsarm war. Die starke Symbolik wie in Erfolg hat Feuchtwanger unterlassen (wobei ich doch sagen muß, dass es ihm sehr gut gelungen ist "Erfolg" für einen Leser des Jahres 2000 zu schreiben, was er im Nachwort von "Exil" selbst ja nicht so sah).
    Die m.E. gelungenste Szene in "Exil" war der Selbstmord Annas, gefolgt von Hannsens Abschied am Bahnhof vor der Fahrt nach Moskau. Auch in den "Geschwister Oppermann" war Bertholds Selbstmord die beste Szene. Feuchtwangers Stärke scheinen "Abschiede" zu sein, obwohl mir das in seinen anderen Romanen bisher noch nicht so aufgefallen ist.
    Eigentlich schade, dass es vorbei ist, der geplante vierte Band des Zyklus ("Rückkehr") wäre sicherlich sehr interessant geworden.


    Die beiden anderen Romane Feuchtwangers, die in der NS-Zeit spielen, "Simone" und "Die Brüder Lautensack", habe ich schon gelesen. Das Zeitgeschichtliche steht bei ihnen nicht so im Vordergrund, trotzdem sind sie beide empfehlenswert (vor allem "Die Brüder Lautensack"), in "Simone" greift Feuchtwanger übrigens das Thema der Johanna von Orleans (das am Ende von "Exil" kurz eine Rolle spielt) erneut auf.


    Bei einem anderen Feuchtwanger, den ich noch nicht gelesen habe (meine Favoriten wären die "Josephus-Trilogie" oder "Jud Süß") oder bei "Transit" wäre ich auch dabei, dann hoffentlich mit weniger Arbeitsstreß ;-)


    Viele Grüße,
    Zola

  • Salut ihr beiden,


    Zitat

    Ich denke auch wie Du, Finsbury, dass es Feuchtwanger sehr gut gelungen ist, sich an seinen im Nachwort beschriebenen Plan, seine Menschen immer so objektiv wie möglich mit ihren guten wie schlechten Seiten zu beschreiben, zu halten.


    Ich kann mich dem nur anschliessen! Feuchtwanger zeichnet niemals Schwarz-Weiss, er weiss sowohl den an sich "Guten" Negatives, und den an sich "Schlechten" Positives abzugewinnen. Diese Schattierungen macht einerseits die Menschlichkeit der Personen aus, andererseits auch ihre Glaubwürdigkeit.


    Da Feuchtwanger das Exil ja am eigenen Leib erfahren hat - wenngleich er finanziell nie Probleme hatt, sich im Gegenteil stets wieder eine reichhaltige Privatbibliothek aufbauen konnte - konnte er sich einige Erfahrungen in seinen Roman mit einfliessen lassen. Zum Beispiel das Motiv der Albträume, S.515 im dritten Buch:
    "Solche Träume, man sei in Deutschland und verfolgt von den Nazi, suchten sie oft heim, und fast alle Emigranten erzählten ihr von ähnlichen Träumen."Oder die Auswirkungen der schlechten äusseren Umstände auf das Zwischenmenschliche am Beispiele Sepps und Annas.
    Die Beschreibung des Lageraufenhaltes Benjamins nahm Feuchtwanger seinem eigenen hingegen vorweg, Feuchtwanger war vor seiner Flucht über die Pyrenäen und dann in die USA in Frankreich ja auch in Lagern.
    Für mich ist „Exil“ das eindeutig dunkelste Buch der Wartesaal-Trilogie, ich denke an erster Linie an das tragische Ende Annas, zuvor aber noch ihren stetigen Verfall, ihre Verzweiflung und grenzenlose Müdigkeit (ihr „streaming of consciousness“ ist wahrlich literarisch von einer unheimlichen Kraft!). S.519: „Jetzt ist ihr eine Arbeitskarte wichtiger als Mozart und Beethoven zusammen.“ Das sind einfache Sätze, die aber so viel ausdrücken.


    An den Beispielen Gingolds und Heilbruns sieht man immer wieder, dass private Belange der Allgemeinheit stets vorgezogen werden. Gerade Heilbrun empfand ich ja als positive Figur, und trotzdem lässt er Sepps Entlassung zu. Am Ende siegt dann aber doch wiederum seine Anständigkeit. Heilbrun ist für mich ein Paradebeispiel der vielen innerlich zerrissenen Figuren Feuchtwangers.


    Ringseis’ Lehre des Wartens, die den Anstoss zu Trautweins Wartesaal-Sinfonie gibt ist wohl der östlichen Weisheitslehre entlehnt, mit der sich Feuchtwanger stark beschäftigte.


    Das Ende war für mich eine Stimmungslage inmitten von Ungewissheit, Qual, Triumph, Gezeichnetheit von Entbehrungen und Hoffnung. Jedenfalls bin ich sehr überzeugt von Feuchtwangers literarischen Qualitäten, seinem Auge für die prekäre zeitgeschichtliche Lage, seine Figurenkonzeptionen und seiner grossen Romananlegung der Handlung, wo jedes kleine Detail sich zum Ganzen fügt (am stärksten in „Erfolg“). Ich wäre mit Sicherheit bei einer Leserunde zu „Jud Süss“ dabei.


    Imrahil

    "Die Kunst des Nachdenkens besteht in der Kunst..., das Denken genau vor dem tödlichen Augenblick abzubrechen. - Thomas Bernhard, Gehen

  • Hallo, ihr beiden,


    ja, so sind wir doch alle drei recht zufrieden mit diesem Bcuh und insgesamt sehen wir wohl die Trilogie als einen Höhepunkt der Romanliteratur in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.


    Was unsere weitere Feuchtwangerlektüre angeht: Den Jud Süß habe ich schon gelsen und für eine Zweitlektüre im Moment nicht die rechte Lust: Mein Interesse liegt eher bei Romanen mit ähnlicherThematik.
    Die Gebrüder Lautensack würde ich daher wohl auch lesen, das hast du, Zola, ja auch vorgeschlagen.


    Ansonsten, wie gesagt, am liebsten jetzt ersmal eine kleien Feuchtwanger-PAuse und lieber Transit, vielleicht im Sommer, das wäre ja noch etwas hin.


    So, das Abendessen ruft.


    Bis bald


    finsbury

    Ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns. (Kafka)