Feuchtwanger: Exil (Wartesaal III)

  • Nun hallo,


    Der dritte Band von Feuchtwangers unfangreicher Auseinandersetzung mit dem Dritten Reich.


    Nachdem "Erfolg" an exemplarischen Figuren zeigte, wie es dazu kommen konnte und "Die Geschwister Oppermann" das Schicksal einer jüdischen Familie im beginnenden Nationalsozialismus schilderte, beschäftigt sich Exil mit der Konsequenz: der Emigration.


    Im Frühjahr 1935 wird aus Paris der dorthin emigrierte Publizist Friedrich Benjamin von den Nationalsozialisten verschleppt. Ihm zur Hilfe eilt der Musikprofessor Sepp Trautwein, an dessen Handlungen und innerem Erleben wohl das Romangeschehen aufgerollt wird ... .


    Mir scheint der Erzählanlass dem von "Erfolg" zu ähneln: Dann wollen wir dem mal nachspüren.


    Allen, die mitmachen, viel Spaß beim Lesen!


    HG
    finsbury

    Ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns. (Kafka)

  • Hallo,


    ich habe gestern abend mit dem Buch angefangen, es liest sich sehr flüssig, ist sehr spannend, man kann es kaum zur Seite legen.
    Die Beschreibung des Lebens der Emigranten in Paris finde ich sehr interessant. Bisher wußte ich darüber kaum etwas, abgesehen vielleicht vom Leben einzelner Schriftsteller im Exil, die sich allerdings auch meist in finanziell privilegierter Lage befanden.
    Außerhalb des Dritten Reichs und seiner Juden- und Linkenverfolgung scheint die Trennung zwischen Flüchtlingen und Anhängern des NS-Regimes nicht mehr so stark zu sein. Bezeichnend ist, dass der Deutsche Botschafter sich lieber von einem geflüchteten deutschen Juden als einem Franzosen die Zähne richten läßt oder eine arische Frau, die wegen ihres jüdischen Mann fliehen mußte, ein Verhältnis mit einem Nazi anfängt.
    Wenn der gemeinsame Feind nicht mehr unmittelbar droht, dann ist es auch mit der Einheit der Linken vorbei. Plötzlich prügelt man sich weil jemand Trotzkist ist. Welcher Ideologie der andere anhängt, erfahren wir nicht, aber da er das mit dem Trotzkisten so genau nimmt, wird er vermutlich einer anderen Form von Sozialismus oder Kommunismus anhängen. Im NS-Deutschland war man sich vermutlich noch einig gewesen gemeinsam dem Kommunismus anzuhängen.


    Viele Grüße,
    Zola

  • Hallo,


    ich habe ebenfalls gestern Abend mit dem Lesen angefangen, aber so weit wie du, Zola, bin ich noch nicht, erst die beiden ersten Kapitel konnte ich lesen. Aber, wie du, finde ich auch, dass das Ganze sich wieder gut und flüssig lesen lässt und auch unterhaltsam ist.


    Ich fühlte mich auch gleich in Feuchtwangers Schreibe zu Hause und erfreue mich an seinen Typen, Josef und Anna Trautwein sind einem sofort nahe.


    Den Exilort Paris kenne ich bereits aus Remarques 'Arc de triomphe' und Klaus Manns 'Der Vulkan'. Aber bei Feuchtwanger erscheint er in einem ganz anderen Licht. Es gelingt ihm sehr schön, die Alltagsnöte der Exilanten darzustellen. In dieser eindringlichen Weise ist mir das in den anderen Romanen nicht bewusst geworden.


    Nun freue ich mich auf die nächsten Kapitel.


    HG
    finsbury

    Ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns. (Kafka)

  • Salut zusammen,


    Ich wollte euch nur mitteilen, dass ich erst in ca. einer Woche in die Leserunde miteinsteigen kann. Befinde mich im Semesterendspurt und habe da noch einiges anderes zu lesen. Lasst euch aber keinesfalls aufhalten, ich versuche dann ein wenig aufzuholen und es lässt sich ja auch bei ungleichem Lesestand diskutieren, zumal ich nicht annehme, dass ihr dieses Mammutwerk in einer Woche durchabt :zwinker:


    Also viel Spass und sorry, melde mich dann in einer Woche wieder,
    Imrahil

    "Die Kunst des Nachdenkens besteht in der Kunst..., das Denken genau vor dem tödlichen Augenblick abzubrechen. - Thomas Bernhard, Gehen

  • Hallo Zola und Imrahil,


    nun bin ich bis zum 10. Kapitel des ersten Buches gelangt und der Kosmos der Exilanten und freiwillig in Paris residierenden Deutschen hat sich sehr erweitert. Ich finde es immer wieder faszinierend, wie es Feuchtwanger gelingt, auch das Seelenleben der Nazis, Rassisten, Karrieristen und anderer Mitläufer offenzulegen, ohne dass die Distanz verlorengeht. Das ist auch in "Erfolg" und den "Oppermanns" gut zu erkennen. Auch die positiven Handlungsträger haben Ecken und Kanten, werden durch den ständigen Perspektivwechsel von vielen Seiten beleuchtet. Es zeugt von Feuchtwangers Können, dass man dennoch nicht den Überblick und der Roman nicht die Spannung verliert. Bis auf die Entführung Benjamins ist ja eigentlich noch nichts geschehen, dennoch ist man gespannt auf das Weitere.


    Manchmal habe ich Schwierigkeiten, die Anspielungen auf das Tagesgeschehen zu verstehen. So glaube ich, dass der erwähnte 30. Juni etwas mit dem Röhm-Putsch und der Ermordung Röhms 1934 zu tun hat?! Habt ihr eine kommentierte Ausgabe? Manchmal werden auch englische Modewörter der Zeit verwendet, die ich nur aus dem Kontext halbwegs verstehe. Bin allerdings auch zu faul nachzuschlagen. Latein setzt Feuchtwanger auch bei seinen Lesern voraus. Das habe ich mal während eines Crash-Kurses während des Studiums in sieben Wochen gelernt und sieben Wochen später wieder vergessen ...


    Im Moment geht es um die Schriftsteller Tschernigg und Harry Meisel. Auch hier liefert de Autor wieder ein sehr differenziertes Bild in der Wahrnehmung durch Trautwein. Meisel ist auf der einen Seite ein arrogantes A..., auf der anderen Seite wohl auch ein großartiger Schriftsteller. (Übrigens finde ich die Idee, zu Sonettzeilen von Shakespeare jeweils Erzählungen zu schreiben, sehr schön, gerade wenn sie durch die Darstellung des damaligen Zeitgeschehens kontrastieren.)


    Was du, Zola, über diese aufgefächerten Verhaltensweisen der Emigranten geschrieben hast, passt eben auch zu diesem kaleidoskopischen Kosmos, den Feuchtwanger hier entwickelt.


    Imrahil: Lass dir Zeit, dieses Buch muss man in Ruhe genießen und ich werde mir beruflich auch viel Auszeit beim Lesen nehmen müssen. Viel Erfolg beim Semesterendspurt!


    @ Zola: Gerade kam die Nachricht von Amazon, dass mein Suchauftrag nach Immermanns "Epigonen" von Erfolg gesegnet ist. Bekomme das Buch demnächst zugeschickt. :klatschen: Lese aber trotzdem gern noch in diesem Jahr den "Münchhausen" mit.




    Ein schönes Restwochenende


    HG
    finsbury

    Ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns. (Kafka)

  • Hallo zusammen,


    mit dem 30. Juni kann eigentlich nur der Röhm-Putsch gemeint sein, zumindest kennt auch Wikipedia kein passenderes Ereignis zu diesem Datum:
    http://de.wikipedia.org/wiki/30._Juni


    Eine kommentierte Ausgabe des Buchs gibt es leider nicht, hat es vermutlich nie gegeben. Der Aufbau-Verlag, der das Buch ja auch zu DDR-Zeiten herausgegeben hatte, würde diese kaum bei Folgeauflagen weglassen. Komisch eigentlich, sonst waren die DDR-Ausgaben immer hervorragend kommentiert.


    Finsbury, wir sind ungefähr gleich weit und bisher ist das Buch wirklich etwas ereignisarm, obwohl es weiterhin spannend bleibt. Von Harry Meisel habe ich einen ähnlichen Eindruck wie du, ein arrogantes Genie eben. Vielleicht eine Anspielung auf eine existierende Person ?


    Ich muß leider heute arbeiten, ich schreibe morgen mehr.


    P.S.: gratuliere zu den Epigonen :zwinker:

  • Hi,


    morgen habe ich keine Zeit, deshalb heute noch ein Lesezeichen :zwinker: .
    Bin inzwischen in Buch I, Kap. 14 und habe Klaus Federsen kennen gelernt.
    Ich vermute, dass noch einmal etwas geschieht zwischen den jungen Protagonisten, also den Nazis und Kollaborateuren Klaus und Raoul auf der einen Seite und Hanns Trautwein wie eventuell auch Harry Meisel auf der anderen Seite.
    Im Moment- so finde ich - hat das Buch so seine Längen: Immer mehr Leute werden eingeführt, aber es geht nicht recht voran.
    Sehr gut dargestellt dagegen fand ich Sepp Trautweins Gedanken- und Gefühlswelt in der Nacht, nachdem er den Kommentar zur deutschen Antwort auf die Schweizer Note direkt in die Druckmaschine diktiert hat.
    Diese Selbstgerechtigkeit gegenüber seiner Frau ist schon harter Tobak, aber jeder lügt sich seine Welt zurecht und er merkt es wenigstens recht schnell.
    Das ist gerade das, was mir an Feutchtwangers Menschenschilderung so gut gefällt: Obwohl er immer davon schreibt, nur historische, keine wirklichen Personen zu schildern, zeigt er ganz viele, menschlich allzu menschliche Facetten an seinen Personen, egal ob Freund oder Feind, so
    dass man sie fast persönlich zu kennen glaubt.


    Zola, danke für deine Recherche und den Link: Dann wars wohl die "Nacht der langen Messer" und ich auf der richtigen Spur.


    Schönen Start in die Arbeitswoche


    HG
    finsbury

    Ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns. (Kafka)

  • Hallo zusammen,


    ich vermute, dass Sepp Trautwein in "Exil" die Rolle von Gustav Oppermann und Jacques Tüverlin als Feuchtwangers alter geo weiterspielt. Fehlt eigentlich nur noch, dass er eine Postkarte an sich selbst schickt :smile:
    Auch Trautweins Verhalten Frauen gegenüber ähnelt doch etwas den beiden vorgenannten Charakteren.
    Seine politische Einstellung, die er vor allem in der Diskussion mit seinem Sohn Hanns darlegt, ähnelte zu der damaligen Zeit auch der Feuchtwangers, wenn ich micht richtig entsinne ?


    Der Journalist Erich Wiesener wirkt bei seiner Einführung (in meiner Ausgabe um Seite 100) reichlich arrogant, er vergleicht sich selbst mit dem Propheten Jesaja und rechtfertigt Überheblichkeit vor sich selbst durch Vergleiche mit historischen Personen wie Alexander, Salomo und Goya, Feuchtwanger selbst bezeichnet ihn spöttisch biblisch als "Gottes Ebenbild".


    Diese Selbsteinschätzung steht m.E. jedoch im Gegensatz zu seinem Auftreten gegenüber anderen Menschen, wie seiner Geliebten Lea, seinem Sohn Raoul oder dem deutschen Botschafter. Hier wirkt er eher zurückhaltend, taktierend.


    Auch ich habe den Eindruck, dass dem Buch gerade etwas Handlung fehlt (und damit wohl auch etwas Diskussionsstoff). Die Personen finde ich auch alle sehr realistisch beschrieben und interessant.


    Ich bin jetzt am Anfang des 14. Kapitels.


    Viele Grüße,
    Zola

  • Hallo,


    Zitat von "finsbury"

    Hi,


    Bin inzwischen in Buch I, Kap. 14 und habe Klaus Federsen kennen gelernt.
    Ich vermute, dass noch einmal etwas geschieht zwischen den jungen Protagonisten, also den Nazis und Kollaborateuren Klaus und Raoul auf der einen Seite und Hanns Trautwein wie eventuell auch Harry Meisel auf der anderen Seite.


    Stimmt, da könnte sich wirklich etwas zusammenbrauen, vielleicht in der Art des "Imponiermordes" von Werner Rittersteg an Heinrich in den "Geschwister Oppermann".
    Der niederträchtige Klaus, der plant seinen eigenen Vater zu erpressen und der selbstsüchtige Raoul ergeben eine "explosive" Mischung. Der idealistische Hanns könnte wirklich ein gutes Opfer sein.


    Viele Grüße.
    Zola

  • Hallo Zola und Imrahil,


    bin nun mit dem ersten Buch fertig und im zweiten im dritten Kapitel.


    Inzwischen hat sich nun das eine oder andere ereignet. Die PN haben eine Kampagne gegen Wiesener gestartet, Anna sieht ihre Zukunft immer schwärzer: Da braut sich so Einiges zusammen.


    Eine nette ironische Wortprägung in Bezug auf die martialischen Wortungeheuer der Nazis finde ich in II/1:


    Zitat von "Lion Feuchtwanger"

    Nächstens, wenn der Minister auf den Lokus geht, werden die Zeitungen berichten, er habe eine Entleerungsschlacht geliefert.


    Bin gespannt auf das Folgende.


    HG
    finsbury

    Ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns. (Kafka)

  • Hallo,


    ich bin jetzt ebenfalls am Anfang des zweiten Buchs.
    Ein Kapitel heißt dort: "Sie werden's auch noch billiger geben, Frau Kohn".
    Anna Trautwein erinnert sich an eine Geschichte, die ihr erzählt wurde. Eine jüdische Dame rügte leicht ihre jüdische Hausangestellte, weil diese es versäumt hatte, trockene Blumen auszutauschen, woraufhin die Hausangestellte den Satz, nach dem das Kapitel benannt wurde, erwiederte.


    Aus dem Zusammenhang und der späteren gedanklichen Wiederverwendung des Satzes durch Anna selbst ist erkenntlich, dass damit gemeint ist, dass früher oder später die gesellschaftlich besser stehenden Juden dieselben Probleme wie die einfacheren Juden haben werden. Trotzdem verstehe ich die wörtliche Bedeutung dieses Satzes in dem Zusammenhang nicht. War das damals ein fester oder sprichwörtlicher Ausdruck gewesen ?


    Ich muß gerade leider sehr viel arbeiten, auch jetzt am Wochenende und komme deshalb wenig zum Lesen.


    Viele Grüße,
    Zola

  • Hallo Zola,


    ja, dieser Spruch mit Frau Kohn kam mir auch irgendwie über die hier angebotene Anekdote hinaus bekannt vor. Interpretatorisch sehe ich das genauso wie du. Was soll noch darüber hinaus dahinterstecken?


    Schade, dass du so viel arbeiten musst. Das kommt mir momentan aber auch entgegen, weil ich ein anderes Buch dazwischengeschoben habe, so dass ich mit dem Feuchtwanger wohl erst ab Mittwoch weiterkomme.


    Schöne Tage und wenig Stress


    HG


    finsbury

    Ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns. (Kafka)

  • Hallo,


    nun geht es bei mir weiter: Ich bin jetzt im 10. Kapitel des zweiten Buches angelangt und erwarte mit der Familie Trautwein die Aufführung des 'Perser'-Oratoriums. Gerade die vergangenen Kapitel zeigten wieder die sehr menschenfreundliche Gestaltungskunst Feuchtwangers: Auch wenn wir die Haltung der unterschieldichen Personen zum Teil nicht akzeptieren können, schafft der Autor es doch, uns die innere Logik der Gedankenwelt unterschiedlicher Menschen nahezubringen. Herrn Gingolds Chuzpe und Riemanns Traurigkeit inmitten seiner herausgehobenen Stellung als einziger im Deutschen Reich verbliebener Dirigent von Weltruhm gehen mir trotz innnerer Ablehnung nahe.


    Im Gingold-Kapitel (II,8) wird vom Sekretär Gingolds geschrieben, er sehe in seinem Chef einen der großen Balzacschen Bankiers: Da fiel mir erst auf, dass Feuchtwanger und Balzac durchaus Ähnlichkeiten haben: Die große Anlage der Romane, die eine ganze Welt repräsentieren sollen und die Intention der historischen Typologie, die Ausrichtung am ganz konkreten Zeitgeschehen: Das sind schon viele Gemeinsamkeiten.
    Trotz Balzacs Weltruhm lese ich Feuchtwanger lieber, weil er, wie oben erwähnt, weniger gnadenlos mit seiner Personnage ist und die Frauen nicht so stilisiert, wobei Letzteres aber sicherlich auch an den unterschiedlichen Zeitaltern liegt, in denen die beiden geschrieben haben. Anna Trautwein und Lea wirken menschlicher als die entweder schrecklich intriganten und äußerlich orientierten Gräfinnen oder herzensguten Kokotten Balzacs. Aber das ist natürlich auch Geschmackssache.


    Wie weit bist du, Zola?


    Bis bald!


    HG
    finsbury

    Ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns. (Kafka)

  • Hallo Finsbury,
    hallo zusammen,


    den Vergleich mit Balzac find ich auch passend. Zumindest die Wartesaaltrilogie besteht wirklich aus Milieustudien, die in ihrer Detailliertheit auch von Balzac stammen könnten.


    Ich bin etwas weiter als Du, Finsbury (ich habe gerade nicht die genaue Kapitelnummer im Kopf). Momentan befindet sich Gingold in der Klemme, einerseits versuchen die Nazis ihn zu bestechen um die PN zu "entschärfen", anderersits gehen ihm einige nazistische Greueltaten, wie z.B. die Schändung des jüdischen Friedhofs in Weißenburg in Bayern, in der Stadt ist auch Gingolds Frau beerdigt, persönlich sehr Nahe. Es steht noch offen, wie weit er sich von den Nazis kaufen läßt, da er aber ein Kapitalist ist, bin ich mir sicher, das ihm Geld vor Gefühle geht.


    Sehr interessant fand ich die Diskussionen zwischen Trautwein und Riemann. Für mich ist es schwer zu sagen wie weit man Riemann verurteilen kann. Er lehnt den NS-Staat eigentlich ab, verteidigt ihn nur (so schien es mir jedenfalls) aus Pflichtgefühl als Beamter dieses Staates. Er scheint ein Opportunist zu sein, der schaut wie er sich am besten mit dem System arrangieren kann. Zumindest sehe ich Riemann durch Feuchtwangers Schilderung nicht ganz so negativ wie Trautwein oder die anderen Exilanten.


    Viele Grüße,
    Zola

  • Hallo Zola und alle,


    tja, nun hat mich seit Freitag ein elendes Fieber im Griff gehalten, das gerade wieder abklingt. Dadurch ist der Feuchtwanger liegen geblieben.


    Hoffe aber, in der nächsten Woche ordentlich voranzukommen.

    Zitat von "Zola"


    Zumindest sehe ich Riemann durch Feuchtwangers Schilderung nicht ganz so negativ wie Trautwein oder die anderen Exilanten.


    Genau das meine ich auch.


    Meine Spekulationen bezüglich Harry Meisels haben sich ja ins Nichts zerschlagen. Aber so war es auch ein passender Abgang, sehr schön melodramatisch mit dem Zuspätkommen von Tüverlins enthusiastischer Zustimmung.


    Bin auch gespannt auf Gingolds weiteres Handeln. Dem realen Herausgeber, der Feuchtwanger zur Orientierung diente, konnten die Nazis, wenn ich es richtig im Gedächtnis habe, am Ende doch nichts am Zeug flicken.


    HG
    finsbury

    Ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns. (Kafka)

  • Hallo finsbury, hallo Zola,


    Es tut mir Leid, kann ich erst jetzt zu der Leserunde wirklich dazustossen, ich fand bisher einfach keine Zeit. Doch habe ich diese Woche mit der Lektüre von "Exil" begonnen und habe heute das erste Buch abgeschlossen. Bin jetzt zu müde und zu ungeduldig um meine ersten Eindrücke und Gedanken sowie Fragen dazu zu formulieren, werde diese aber morgen oder spätestens übermorgen nachreichen. Ich freue mich auf die Diskussion.


    Liebe Grüsse,
    Imrahil

    "Die Kunst des Nachdenkens besteht in der Kunst..., das Denken genau vor dem tödlichen Augenblick abzubrechen. - Thomas Bernhard, Gehen

  • Hallo zusammen,
    Hallo Imrahil,


    freut mich, dass du noch zu uns stößt :zwinker:


    Du kannst übrigens auch etwas froh sein, dass du die geb. Ausgabe nicht mehr gekriegt hast. Ich habe das Buch vor etwa einem Jahr gekauft und gestern entnervt eine Mail an den Verlag geschrieben. So viele Rechtschreib- und Grammatikfehler ('das' und 'dass'-Verwechslungen) habe ich bisher in noch keinem Buch gesehen. Das ist echt peinlich.


    Ich habe jetzt etwas mehr als die Hälfte gelesen, irgendwie geht es mir ein bischen wie bei "Erfolg", der Roman ist ein zeitgeschichtliches Meisterwerk, aber es fehlt etwas ein Spannungsbogen.


    VieleGrüße,
    Zola

  • Hallo,


    ich habe jetzt im zweiten Buch Kapitel 20 "Die Hosen des Juden Hutzler" fertiggelesen.


    Sepp Trautwein kopiert in die PN einen absurden Artikel, der ursprünglich im "Fränkischen Kurier" veröffentlicht worden ist. Ein Jude wurde verurteilt, da er eine Hose in SA-Farben getragen hatte. Vielleicht eine von Feuchtwanger erfundene Geschichte, die allerdings so absurd ist, dass sie sehr gut aus Nazi-Deutschland stammen könnte.


    Feuchtwanger merkt an, dass Trautwein den Artikel kopierte "mit all den Fehlern gegen die deutsche Grammatik und Verstößen gegen den deutschen Sprachgeist , die der Autor nach dem Vorbild des Führers begangen hatte".


    Schon in den "Geschwistern Oppermann" hatte Feuchtwanger sich mehrfach über das schlechte Deutsch der Nazis lustig gemacht, hier macht er dies erstmals in "Exil" (Wenn er wüßte wie der Aufbau-Verlag seinen Roman mit Rechtschreib- und Grammatikfehlern verhunzt hat, er würde sich im Grab umdrehen).


    Ich denke, dass auf die Trautweins noch einige Probleme zukommen. Das Paar hat sich entfremdet, Sepps Entlassung ist nur noch eine Frage der Zeit (wovon er bestenfalls etwas ahnt) und er schlägt auch Annas Vorschlag nach London überzusiedeln aus. Beiden droht die Arbeitslosigkeit. Durch das drohende Unheil ist doch wieder eine gewisse Spannung da.


    Viele Grüße,
    Zola

  • Hallo Zola und Imrahil (Schön, dass du jetzt dabei bist!),

    Zitat von "Zola"

    ich habe jetzt im zweiten Buch Kapitel 20 "Die Hosen des Juden Hutzler" fertiggelesen.


    Da bin ich auch gerade!


    Zwischendrin habe ich mir ein paar Gedanken über die Personenkonstellation gemacht.
    Es fallen die zwei parallel gestalteten "Familien" auf: Trautweins auf der einen Seite und Wiesener / de Chassefierre auf der anderen Seite. F. hat eine ganze Menge getan, um diese beiden zu parallelisieren und gleichzeitig zu kontrastieren: Beide Paare haben Probleme, die i.W. auf dem Verhalten der Männer beruhen und beide Männer haben Problem mit ihren Söhnen. Während aber bei Trautweins trotz aller Missverständnisse und trotz des tragischen Ausgangs doch alles auf Güte und Liebe beruht, handelt es sich bei Wiesener /Chassefierre um einen Tanz der Eitelkeiten.


    Noch ein kleiner Rückblick: Das Kapitel II/12 trägt den Titel "Der einzige und sein Eigentum": Das ist m.W. das philosophische grundwerk von Max Weber, dessen Inhalt ich aber leieder nicht kenne. Wisst ihr, ob der Kapitelinhalt damit auch tiefergehend etwas zu tun hat?



    Manches hätte man wirklich auch ein weing kürzer fassen können. Aber momentan hoffe ich auch, Zola, dass die Spannung wieder steigt!


    Wo bist du jetzt, Imrahil?


    HG


    finsbury

    Ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns. (Kafka)

  • Salut finsbury, salut Zola,


    Ich komme jetzt zum sechsten Kapitel des zweiten Buches. Habe übrigens nun doch noch die besagte gebundene Ausgabe vom Aufbau-Verlag (1993) erworben. Die vielen Fehler sind mir aber bislang nicht aufgefallen.


    Ein paar Leseeindrücke zum ersten Buch:
    Schon zu Beginn des Buches wird evident, dass Kunst und Politik sich zu dieser Zeit (und überhaupt?) nicht trennen lassen, sich gegenseitig beeinflussen und bedingen. So muss der eigentlich unpolitische Trautwein eben doch politisch eingreifen, fühlt sich zumindest dazu gedrängt. Dies erinnert stark an die Motivik in "Erfolg".
    Und wie ihr schon festgehalten habt, anders als bei den Oppermanns sind nicht die Juden die Protagonisten und Opfer, sondern alle aus Deutschland Vertriebenen, allen voran die Trautweins und Feuchtwanger zeigt gekonnt auf, wie unterschiedlich die verschiedenen Personen auf den sozialen und ökonomischen Abstieg, auf die neue Lebenssituation im Exil reagieren. Während also Anna voller tiefen Bedauerns ist, kommt bei Sepp eher Gleichmut zum Vorschein. Bei allen schimmert aber die grosse Verunsichertheit durch. Später wird einmal erwähnt, dass Sepp nie gedacht hätte, dass eine so mit Unvernunft und Dummheit geschlagene Gruppierung wie die Nazis an die Macht kommen würden: Wie auch die Oppermanns war er, wie wohl die meisten, in dieser Hinsicht blind (ob bewusst oder unbewusst).


    Die Exilanten sind fremd, es geht ihnen wirtschaftlich schlechter und politisch sowieso. Zwar können sie ungestrafter als in Deutschland ihrem Unmut Ausdruck verleihen, diesen äussern, aber eben nur mit eingeschränkter Wirkung. Die "P.N." erreicht eben bloss diejenigen, die ohnehin schon antinationalsozialistischer Gesinnung sind. Dazu auf S. 43: „In einer toten Sprache schreibt man. Die sie verstehen, kriegen sie nicht zu lesen, und die sie zu lesen kriegen, wissen ohnedies, was man ihnen zu sagen hat.“
    Gerade in den letzten Kapiteln kommt die zunehmende Gereiztheit und aufgeladene Stimmung, der gegenseitige Unmut zum Ausdruck, bedingt durch die Ärmlichkeit, Enge und aussichtsloser politischer Situation. Die anfängliche Euphorie Sepps hat sich zunehmend in Resignation gekehrt. Doch trotz der Armut gibt es auch Personen, wie diese Ilse, welche verschwenderisch und dekadent leben, dazu auf Effekte und Vergnügen aus sind. Feuchtwanger zeichnet diese Exilanten sehr bunt, vielschichtig. Überdies spart Feuchtwanger auch nicht an Kritik an de Exilanten, zumindst erwähnt er ihren moralischen Abstieg, bedingt durch das Elend im Exil, ihre schlechten Eigenschaften treten in besonderem Masse in Erscheinung. Durch ihre Identitätslosigkeit und Fremdheit behindern sie sich gegenseitig. Auch politisch schaffen sie es nicht, sich zu formieren und zu einigen.


    Die Frage, inwieweit die Kunst die Politik beeinflussen kann, stellte sich mit Sicherheit auch Feuchtwanger selbst, so schrieb er ja z.b. „Die Geschwister Oppermann“ in Rekordzeit um eben möglichst schnell eine Wirkung herbeizuführen, aufhorchen zu lassen. Die Antworten auf diese Frage nach der Wirkung nehmen sich aber meist pessimistisch aus im Buch. Zentral aber ist, dass Feuchtwanger nichts verschweigen wollte, so lässt er auch Benjamin sagen: „Ich bin ein besessener Journalist, das ist alles. Ich kann nichts verschweigen.“ (S. 35 in meiner Ausgabe).


    Das Treiben der Nazis wird wie auch in den vorangehenden Bänden als gewaltvolle Barbarei dargestellt, als Lügenpolitik entgegen der Wahrheit, als plumpe Dummheit und Ausschalten der Vernunft. Gerade die Vernunft sieht ja Feuchtwanger als eine der wichtigsten Tugenden an, mit Vernunft versucht er zu argumentieren, aber, und das wir auch immer wieder erwähnt, nutzt die Vernunft eben im Dialog mit den „Dummen“ (den Nazis“) nichts. Oft wird ihre Lächerlichkeit (z.b. die dilettantisch schreibenden nationalsozialistischen Journalisten), auch die überzogene „Reinheit“ spielt eine Rolle.
    Trotzdem ist der Nationalsozialismus, ganz anders als noch in „Die Geschwister Oppermann“ eher eine Randerscheinung, den Grossteil nimmt das Alltagsleben im Exil ein, zumindest bis jetzt. Ich bin gespannt, was da noch kommen wird.


    Was ebenfalls ein weitergeführtes Motiv ist, ist das der Ungerechtigkeit, dem Fehlgehen der Justiz, zumindest unterschwellig, wenn es heisst: „Eine Handvoll Gewalt ist besser als ein Sack voll Recht […]. S.57. Auch das Motiv der „nordischen List“ tritt wieder auf. Woher da kommen mag? Aus den Nibelungen?


    Die Sprache gefällt mir, es sind meist treffende, stilsichere Formulierungen. Mit dem Mittel der „erlebten Rede“ gelingt es Feuchtwanger, was ihr ja auch schon mehrfach geschrieben habt, das ganze Gefühls- und Gedankenreichtum der verschiedenen Personen in all seinen Facetten aufzufächern. So kann man sich in die Personen hineinversetzen und deren Gedanken und Argumentationen meist annehmen, auch wenn sie einem nicht sympathisch sind. Dadurch wird meines Erachtens eine starke Nähe erzeugt, das Buch wirkt damit sehr authentisch.
    Oft wechselt Feuchtwanger zwischen Präteritum und Präsens. Ich denke er will mit dem Wechsel ins Präsens die Szenen verstärken, den Leser damit noch näher ins Geschehen versetzen, oder was meint ihr?


    Auf S.214 heisst es: „Nur wenige im Ausland ahnten, mit welch schauerlicher, närrischer, bis ins letzte verfeinerter und verästelter Methodik die Nazi praktische Konsequenzen aus ihren Rassentheorien zogen.“
    War man im Ausland wirklich so unaufgeklärt über das Treiben der Nazi? Ich kann mir das kaum vorstellen, da ja der Journalismus, das Nachrichtenwesen überhaupt sehr rege im Gange war. Was meint ihr?


    Zur Person Wiesener: Das stimmt, er ist wirklich unsympathisch, sehr selbstgefällig und wir von Feuchtwanger auch mit viel Ironie und Spott bedacht. Trotzdem oder gerade deswegen ist er eine sehr bereichernde, interessante Figur. Ist euch die Parallele zum Oppermann-Buch aufgefallen? Wiesener schreibt ja an einer Biographie zu Beaumarchais, erinnerte mich an Gustav, der an einer Lessing-Biographie schrieb. Das sind immer wieder so kleine Details und Motive, die Feuchtwanger jeweils über ein Buch hinaus verfolgt. Das gespannte Vater-Sohn-Verhältnis zwischen Wiesener und Raoul hingegen erinnerte mich an Dr.Geyer und seinen Sohn Erich Bornhaak aus „Erfolg“, wobei dort der Sohn der Nazi war.


    Und wenn ich schon gerade bei Parallelen bin: Der junge marxistische Hanns, der Architekt lernt, russisch lernt und nach Moskau will weist einige Gemeinsamkeiten zu Kaspar Pröckl auf: Auch dieser war jung, Marxist, wollte und ging nach Moskau und hatte, neben seiner Schriftstellerei, eine technische Profession (Mechaniker?). Allerdings ist Hanns mehr der „Opfertyp“, das habt ihr auch an einer Stelle geschrieben.


    Mit Tüverlin (erst passiv), Tschernigg und Meisel (nicht zu vergessen als die Journalisten, Trautwein, Benjamin, Wiesener etc.) spielt die Literatur selbst auch wieder eine grosse thematische Rolle. Ich habe auch das Gefühl, dass sich diesbezüglich noch etwas zusammenbrauen wird.


    Soviel einmal zu Buch I, versuche so gut es geht weiter aufzuholen, aber man kann ja auch mit unterschiedlichen Leseständen diskutieren.


    Liebe Grüsse,
    Imrahil

    "Die Kunst des Nachdenkens besteht in der Kunst..., das Denken genau vor dem tödlichen Augenblick abzubrechen. - Thomas Bernhard, Gehen