Deutschland - 19. Jahrhundert - Schriftstellerinnen

  • Hallo zusammen,


    mich beschäftigt die Aussage Marcel Reich-Ranicki, dass das 19. Jahrhundert kaum eine nennenswerte Schriftstellerin in Deutschland hervor brachte. Ich zitiere aus Lauter Lobreden


    Zitat:
    Kannte das neunzehnte Jahrhundert auch nur eine einzige deutschsprachige Erzählerin, die man Jane Austen und George Eliot an die Seite stellen könnte? Kannten wir in der deutschen Literatur der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts
    (20.Jahrh.) Schriftstellerinnen, die sich mit Katherine Mansfield oder gar mit Virginia Woolf vergleichen ließen? Gab es nach dem Zweiten Weltkrieg eine Frau, die eine ähnliche Rolle in unserem literarischen Leben gespielt hätte wie Simone de Beauvoir in Frankreich? Wie hoch ist in den Literaturen der kleinen skandinavischen Völker der Anteil der Frauen - von Selma Lagerlöf bis Tania Blixen -, wie selbstverständlich ihre Funktion seit mindestens hundert Jahren in der tschechischen Literatur oder in Polen, wo sie sich niemals als schwache und schutzbedürftige Wesen präsentierten, vielmehr überaus tüchtig waren und beherzt in der Öffentlichkeit auftraten. Es ist doch wohl kein Zufall, daß die einzige Frau, die als Politikerin und Publizistin Einfluß auf die Öffentlichkeit im spätwilhelminischen Deutschland ausüben konnte, eine polnische Jüdin war: Rosa Luxemburg.


    so aus den ersten Passagen zum Kapitel "Ricarda Huch, der weiße Elefant" .


    Der obige Auszug ist wie benannt nur ein Auszug und gibt nicht das ganze Thema her und Marcel Reich-Ranicki nennt ein paar Schriftstellerinnen, die man nicht unterschätzen sollte, deren Einfluß sich aber in Grenzen hielten.


    Woran liegt das, frag ich mich. Denn ich war auch schon auf der Suche nach einer deutschen Schriftstellerin, ähnlich der Virginia Woolf. Der angelsächsische Sprachraum scheint mir mehr Raum für Schriftstellerinnen gegeben zu haben.


    Lag es an dem langen 'Schatten' Goethes u.a. herausragende Dichter und Erzähler, dass sich kaum eine Schriftstellerin 'heraus' wagte mit neuen Ideen?


    Gab es in England einen Dichter wie Goethe? Wenn nicht - vielleicht konnten die Frauen dort deswegen 'mutiger' sein?


    Fragen über Fragen.
    Viele Grüße
    Maria

    In der Jugend ist die Hoffnung ein Regenbogen und in den grauen Jahren nur ein Nebenregenbogen des ersten. (Jean Paul F. Richter)

  • Hallo Maria,


    ich glaube weniger, dass es sich um einen Schatten über den deutschsprachigen Schriftstellerinnen handelte, eher lag es an der Gesellschaft. War nicht die deutsche Gesellschaft noch wesentlich konservativer? - Die Frau an den Herd! - Vielleicht waren die deutschen Frauen auch einfach folgsamer, lehnten sich nicht gegen die patriachalische Gesellschaft auf.
    Nebenbei: Die Deutschen haben selten viel gesellschaftlichen Pioniergeist gezeigt: Liberté et egalité kommen aus Frankreich, die Idee der parlamentarischen Monarchie wurde in England mit Erfolg entworfen und der Kommunismus wurde in Russland mit weniger Erfolg und um so grösserer Härte eingeführt.. Ich glaube, von dem her kann ein grundsätzlicher Konservatismus in Deutschland schon beobachtet werden, womit das späte Auftreten der Frau in der deutschsprachigen Literatur ein Stück weit erklärt werden kann.


    Es grüsst
    alpha

    Genug. Will sagen: zuviel und zu wenig. Entschuldigen Sie das Zuviel und nehmen Sie vorlieb mit dem zu wenig! <br /><br />Thomas Mann

  • Zitat von "JMaria"

    ... die Aussage Marcel Reich-Ranicki, dass das 19. Jahrhundert kaum eine nennenswerte Schriftstellerin in Deutschland hervor brachte.


    Hallo JMaria und Alle,


    diese Aussage ist mir unverständlich. Das 19. Jahrhundert hat eine große und sehr nennenswerte Schriftstellerin in Deutschland hervorgebracht, nämlich Anette von Droste Hülshoff (1797 - 1848). Erwähnt R. Ranicki sie? Sollte er sie als unbedeutend erachten, unterstelle ich ihm kaltblütig ein Fehlurteil. :wegrenn: Sollte sie tatsächlich vergessen sein? Kann ich nicht glauben! Ob und wie viel Einfluß sie hatte, entzieht sich meiner Kenntnis. Immerhin so viel, daß ihr wohl bestes Werk, "Die Judenbuche", lange Zeit Schullektüre war. (Ob jetzt noch, weiß ich nicht).


    Ich habe so ziemlich alles von ihr gelesen und auch eine schöne Biografie über sie, von Mary Lavater-Sloman, Artemis Verlag. Viele ihrer Gedichte liebe ich, "Der Knabe im Moor" oder "Am Turme". In diesem Gedicht lehnt sie sich gegen das auf, worüber alpha sagt:


    ...eher lag es an der Gesellschaft. War nicht die deutsche Gesellschaft noch wesentlich konservativer? - Die Frau an den Herd! - Vielleicht waren die deutschen Frauen auch einfach folgsamer, lehnten sich nicht gegen die patriachalische Gesellschaft auf.


    Ihre "Bilder aus Westfalen", die diese Gegend zur Mitte des 19. Jhdts. beschreiben, die Menschen dort, ihre Sitten und Gebräuche, lohnen sich immer noch und nicht nur für Westfalen, zu lesen.
    Droste Hülshoff gehört für mich zu den größten deutschen SchriftstellerInnen überhaupt.


    Viele Grüße,
    Gitta

  • Hallo Maria,


    eine interessante Frage, die mich auch beschäftigt. Die "großen" Schriftstellerinnen sind ja hauptsächlich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts angesiedelt oder sogar Anfang des 20. Jh. Vielleicht hängt es auch mit den politischen Verhältnissen zusammen. Die großen Frauengstalten bzw. die Stellung der Frau in der Gesellschaft war wohl in Deutschland kein Thema. Eher die Befreiung vom Kaiserreich und die Einigung Deutschlands.


    Vielleicht hat man in Deutschland daher auch mehr ins Ausland geschielt - um 1848 war ja Opportunität angesagt - und die deutschen Talente konnten sich in diesem Klima nicht entfalten ?


    Gruß von Steffi

  • Hallo zusammen!


    Zitat von "Gitta"

    diese Aussage ist mir unverständlich. Das 19. Jahrhundert hat eine große und sehr nennenswerte Schriftstellerin in Deutschland hervorgebracht, nämlich Anette von Droste Hülshoff (1797 - 1848). Erwähnt R. Ranicki sie? Sollte er sie als unbedeutend erachten, unterstelle ich ihm kaltblütig ein Fehlurteil. :wegrenn: Sollte sie tatsächlich vergessen sein? Kann ich nicht glauben! Ob und wie viel Einfluß sie hatte, entzieht sich meiner Kenntnis. Immerhin so viel, daß ihr wohl bestes Werk, "Die Judenbuche", lange Zeit Schullektüre war.


    Ich bin kein Fan von MRR, aber hier muss ich ihn doch verteidigen: JMaria hat MRR dahingehend zitiert, dass kaum eine nennenswerte Autorin exisitiert hätte. Das ist nicht = keine!
    Ausserdem ... ich meine, ich mag die Droste sehr, v.a. als Lyrikerin, aber ... ausser der Judenbuche hat sie für meinen Geschmack nichts in Prosa verfasst, das auch nur annähernd an die von MRR genannten Austen, Eliot, Mansfield oder Woolf reichen würde.


    Grüsse


    Sandhofer

    Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen? - Karl Kraus

  • Zitat von "alpha"

    ich glaube weniger, dass es sich um einen Schatten über den deutschsprachigen Schriftstellerinnen handelte, eher lag es an der Gesellschaft. War nicht die deutsche Gesellschaft noch wesentlich konservativer? - Die Frau an den Herd! - Vielleicht waren die deutschen Frauen auch einfach folgsamer, lehnten sich nicht gegen die patriachalische Gesellschaft auf.
    Nebenbei: Die Deutschen haben selten viel gesellschaftlichen Pioniergeist gezeigt: Liberté et egalité kommen aus Frankreich, die Idee der parlamentarischen Monarchie wurde in England mit Erfolg entworfen und der Kommunismus wurde in Russland mit weniger Erfolg und um so grösserer Härte eingeführt.. Ich glaube, von dem her kann ein grundsätzlicher Konservatismus in Deutschland schon beobachtet werden, womit das späte Auftreten der Frau in der deutschsprachigen Literatur ein Stück weit erklärt werden kann.


    Es grüsst
    alpha


    Hallo Alpha
    klingt plausibel.
    Wenn ich auch allerdings denke, dass die gesellschaftliche Stellung der Frau im Victorianischen und Edwardianischen Zeitalter nicht einfacher war, als die Situation der Frau in Deutschland.


    Seltsam, ich habe mehr über die Entwicklung der Frau in der englischen Gesellschaft gelesen als deren in Deutschland. Vielleicht liegt es auch daran, dass kaum eine Frau in Deutschland aus dieser Zeit mit Einfluß schrieb. Denn um den Einfluß ging es ja M.R.-R.


    Vielleicht waren die Frauen in England wirklich vorandrängender, wenn ich an die Suffragetten denke. Auch kommt es mir so vor, dass englische Frauen im 19. Jahrhundert sehr reiselustig waren.


    danke für deine Antwort.
    Gruß Maria

    In der Jugend ist die Hoffnung ein Regenbogen und in den grauen Jahren nur ein Nebenregenbogen des ersten. (Jean Paul F. Richter)

  • Hallo Gitta


    Zitat von "Gitta"


    diese Aussage ist mir unverständlich. Das 19. Jahrhundert hat eine große und sehr nennenswerte Schriftstellerin in Deutschland hervorgebracht, nämlich Anette von Droste Hülshoff (1797 - 1848). Erwähnt R. Ranicki sie? Sollte er sie als unbedeutend erachten, unterstelle ich ihm kaltblütig ein Fehlurteil. :wegrenn: Sollte sie tatsächlich vergessen sein? Kann ich nicht glauben! Ob und wie viel Einfluß sie hatte, entzieht sich meiner Kenntnis. Immerhin so viel, daß ihr wohl bestes Werk, "Die Judenbuche", lange Zeit Schullektüre war. (Ob jetzt noch, weiß ich nicht).


    Marcel Reich-Ranicki erwähnt sogar sehr positiv Anette von Droste Hülshoff.
    Schriftstellerinnen der Romantik ordnet er eher als die Sachverwalterinnen des Unbewußten und des Irrationalen, des Seelischen und des Traumhaften, des Schwärmerischen und des Märchenhaften ein.


    MRR sucht nach Schriftstellerinnen deren Werk weniger von Empfindungen und Stimmungen dominiert wird.
    In der Lyrik, wie mir scheint, auch nur schwer zu finden. Er erwähnt dazu aber eine Ausnahme, deren Lyrik expressionistisch ist: Else Lasker-Schüler.


    MRR ging es wohl mehr um Prosa-Werke in dem obigen Zitat, um Schriftstellerinnen die nicht über das Emotionale, das Gemüt schreiben. Die ihre Protagonistinnen und auch sich selbst, nicht in einer Opferrolle sehen...


    es ist schwierig, das Kapitel in nur wenigen Sätzen zusammen zufassen.
    Schon wegen diesem Kapitel über Ricarda Huch und auch über die Lyrik würde ich "Lauter Lobreden" jedem empfehlen.


    Zitat


    Ich habe so ziemlich alles von ihr gelesen und auch eine schöne Biografie über sie, von Mary Lavater-Sloman, Artemis Verlag. Viele ihrer Gedichte liebe ich, "Der Knabe im Moor" oder "Am Turme". In diesem Gedicht lehnt sie sich gegen das auf, worüber alpha sagt:


    danke für den Tipp. Mary Lavater-Sloman lese ich sehr gerne. Ich wußte nicht, dass sie auch eine Biografie über Anette von Droste Hülshoff schrieb. Interessiert mich sehr.


    Gruß Maria

    In der Jugend ist die Hoffnung ein Regenbogen und in den grauen Jahren nur ein Nebenregenbogen des ersten. (Jean Paul F. Richter)

  • Hallo zusammen,


    ich möchte noch drei soziokulturelle Aspekte benennen.


    1. Wir hatten in Deutschland im Gegensatz zu Frankreich kaum eine sogenannte Salonkultur, in der auch Frauen als Schriftstellerinnen im Mittelpunkt standen, sondern eher nur als Gastgeberinnen wie z.B. Rahel Varnhagen.
    2. Das Pfarrhaus spielt bei uns keine solche Rolle wie in England. Es gibt zwar viele berühmte Männer, die aus Pfarrhaushalten stammen und Schriftsteller wurden wie z.B. Nietzsche, aber keine Brontes oder Austens.
    Vielleicht liegt das daran, dass das deutsche evangelische Pfarrhaus eine weniger geschlechtsliberale Orienierung hatte wie das anglikanische.
    3. Wir hatten in Deutschland nach dem Mittelalter wenig bis keine Vorbilder von Frauen in politischen und gesellschaftlich-religiösen Führungspositionen wie viele andere europäische Völker, insbesondere Briten, Franzosen und Russen. Das hat sicher die Frauen nicht ermutigt, aus dem Schatten hervorzutreten.
    Deshalb litt ja auch eine so große Schtriftstellerin wie Droste-Hülshoff am Gefangensein in ihrer Frauenrolle (z.B:"Am Turme").
    Es gibt auch Gedichte von der sicher weniger begabten Karoline von Günderode, die in die gleiche Richtung gehen.


    HG
    finsbury

  • Zitat von "JMaria"


    Marcel Reich-Ranicki erwähnt sogar sehr positiv Anette von Droste Hülshoff.


    Hallo JMaria,


    dann muß ich mein strenges Urteil schnell wieder zurücknehmen. :zwinker: Es hätte mich bei der Kompetenz von R.- R. (ja, ich bin auch nicht immer mit ihm einverstanden) auch gewundert.

    Zitat

    Schriftstellerinnen der Romantik ordnet er eher als die Sachverwalterinnen des Unbewußten und des Irrationalen, des Seelischen und des Traumhaften, des Schwärmerischen und des Märchenhaften ein.


    Darin hat er sicher recht. Es würde dann durchaus zur Stellung der Frau in jener Zeit passen, sie, die Frau mußte sich wohl oder übel in die genannten Gefilde zurückziehen, das "feindliche Leben" , Studium oder Beruf standen ja nur den Männern offen. In der genannten Droste - Biografie wird geschildert, wie Annette darunter litt, nicht studieren zu dürfen und wie sie alles vom akademischen Leben aufsog, was ihr vom Bruder u. dessen Freunden, u. a. den Brüdern Grimm z. B. mitgeteilt wurde.

    Zitat

    MRR sucht nach Schriftstellerinnen deren Werk weniger von Empfindungen und Stimmungen dominiert wird.


    Davon gab es wohl in Deutschland tatsächlich keine. Ganz genau weiß ich bei der Droste nicht, wo sie literaturgeschichtlich einzuorden ist, in die Romantik oder in den frühen Realismus? In der Romantik findet man auch bei den (männlichen) Autoren nicht allzuviel Rationalität, oder?

    Zitat

    MRR ging es wohl mehr um Prosa-Werke in dem obigen Zitat.......Schon wegen diesem Kapitel über Ricarda Huch und auch über die Lyrik würde ich "Lauter Lobreden" jedem empfehlen.


    Ich glaube, nach dieser Lektüre muß ich mich mal umsehen. Vielen Dank jedenfalls für die Erläuterungen!

    Zitat

    Mary Lavater-Sloman lese ich sehr gerne. Ich wußte nicht, dass sie auch eine Biografie über Anette von Droste Hülshoff schrieb. Interessiert mich sehr.


    Die Biografie mit dem passenden Titel "Einsamkeit, das Leben der Annette von Droste-Hülshoff" habe ich vor Jahren anläßlich eines Besuchs im Droste-Museum, dem sog. Fürstenhäusel bei Meersburg/ Bodensee erworben. Dieses Haus befand sich im Besitz der Dichterin und liegt mitten in einem Weinberg über dem See.
    Ob es eine neuere als die letzte Auflage der Biografie von 1981 gibt, weiß ich leider nicht.


    :sonne: Grüße,


    Gitta