... ich hoffe, dass du fortfährst, über deine Lektüreerfahrungen mit Joseph zu berichten.
Hier einige allgemeine Überlegungen:
Ich mag die Art und Weise, wie Thomas Mann sich mit den alten Kulturen Ägyptens und Palästinas auseinandersetzt – unabhängig davon, ob es sich dabei um viel Dichtung und wenig Wahrheit oder umgekehrt handelt.
Auf der einen Seite haben wir die semitische Kultur der Wüstenwanderer, Hirten und Bauern. In der Figur des Jaakob kulminiert das Lebensgefühl dieser Menschen: Ehrfurcht vor der wilden und oft lebensfeindlichen Wüste, der man Ackerland und Weidegrund mühsam abtrotzen muss. Dass diese Kultur einen recht strengen Gott hervorbringen muss, wird sehr plausibel erklärt. Auch, dass diese Kultur das „äffische Ägypterland“ als Unter- und Totenwelt verachtet, ist folgerichtig.
Denn schauen wir uns das Ägypten T. Manns an, dann entdecken wir eine Hochkultur auf dem Zenith, vielleicht auch schön ein Stück jenseits davon. Die Zeit der imperialen Ausdehnung und Kriegszüge ist vorbei, das Volk lebt in Frieden und einschläfernder Sattheit. Die Sitten sind fein, dekadent, fast schon morbid. Die vergeistigt wirkende politische Elite (verkörpert insbesondere von Potiphar) frönt einem Leben, dass mit täglichen Sorgen nichts zu tun hat und auch dem Tod beinahe freudig ins Auge blickt (bedeutet er doch die Wiedervereinigung mit dem Göttlichen der Sonne). Die Elite stützt sich auf ein Heer ergebener Verwalter (Mont-kaw, Mai-Sachme) und Feldherrn sowie eine Priesterschaft, die selbst nach der Macht schielt und sich insbesondere dem pharaonischen Versuch, eine Revolution im Olymp anzuzetteln, widersetzt.
Damit zurück zum 4. Buch.
Sehr gut gefällt mir die Beschreibung des jungen Pharaos, der den Thron besteigt, während Joseph im Gefängnis ist. Er ist ein Kind der Macht. Verwöhnt und vergeistigt, beschäftigt er sich am liebsten mit theologischen Fragen, wird aber – nicht zuletzt in seinem berühmten Traum – mit der Realität seines Landes konfrontiert, also mit der Notwendigkeit, dass die Überflutung des Nils und die daraus resultierende schwarze, fruchtbare Erde niemals ausbleiben darf. Er weiß, dass er in seiner Rolle als Gott dafür verantwortlich gemacht wird, wenn die natürlichen Dinge nicht ihren normalen Verlauf nehmen, denn (so T. Mann): Wofür sonst hält das Volk sich einen Herrscher mit guten Kontakten nach „oben“?
Das ist natürlich ein starkes Stück! Die Angst des Herrschers vor dem Versagen in seiner Rolle, seine Angst vor dem Volkszorn: Das habe ich in dieser Deutlichkeit schon lang nicht mehr gelesen (wenn überhaupt schon einmal).
Nun ist hinlänglich bekannt, wie Joseph die Träume des Pharaos deutet. Gespannt bin ich darauf, was Thomas Mann daraus machen wird bzw. welche Überlegungen er mit dieser Traumdeutung verbindet.
Ein schönes Wochenende!
Tom