Beiträge von Sir Thomas


    Mich verblüfft, wie meisterhaft er komponiert ist, mit welcher Souveränität Doderer die enorme Stofffülle handhabt und die verschiedenen Handlungsstränge, die Zeitsprünge, die vielfältigen Beziehungen zwischen seinen zahlreichen Figuren zu einem dichten Gebilde verwebt.


    Hallo Anna,


    angeblich soll Doderer eine große Tapete mit zahlreichen Skizzen gefüllt haben, um den Überblick nicht zu verlieren. Das ist aber vermutlich nur eine dieser hübschen Legenden.


    Ich verfolge Eure Runde mit großem Interesse, kann aber aus Zeitmangel an der erneuten Lektüre eines meiner Lieblingsbücher nicht teilnehmen.


    Euch weiterhin viel Spaß wünscht


    Tom


    Mich schreckt das Werk ja eigentlich noch ein wenig ab, aber ich habe es in meiner Bib mal bestellt. Mal sehen ob ich reinkomme.


    Hallo Katrin,


    Du wirst sehen: Es tut nicht weh! :zwinker:


    Noch eine Bemerkung zum 4. Gesang:
    Indem sich Eva an ihrem im Wasser ersichtlichen Spiegelbild ergötzt, unterstellt Milton ihr eine gehörige Portion Narzissmus (die unverhohlene Anspielung auf den antiken Mythos des Narzissus ist unübersehbar). Von da ist es nur ein kleiner Schritt, die (eitle) Frau zur Zielscheibe satanischer Einflüsterungen zu machen, was wir wohl in den Folgegesängen erleben werden. Milton übernimmt damit die damalige Meinung der Kirchen zu den Frauen: Sie sind einfältig, verführbar und damit potentiell sündig. Das waren nicht zufällig auch die Gründe für Hexenverfolgungen und -verbrennungen, wie es sie bspw. im puritanischen Neuengland gegeben hat und die von Hawthorne in seinem "Scharlachroten Buchstaben" aufgegriffen wurden. Das ist alles andere als ein rühmliches Stück für die christlichen Kirchen!


    Es grüßt


    Tom

    Soeben gefunden im "Paradise Lost-Reading Room" (Hervorhebung von mir):


    "The poem compares Adam to Hyacinthus, the boy beloved of Apollo in Orpheus's song from Ovid's „Metamorphoses“. Milton likens Adam to Apollo's "beloved" as an example of ideal male beauty. Milton often alludes to Orpheus as a classical example of the power of poetic song. Homer describes Odysseus's head and hair in a similar fashion."


    Quelle: http://www.dartmouth.edu/~milt…oom/pl/book_4/index.shtml

    Ich finde es lohnt, ein wenig bei den im 4. Gesang erstmals auftauchenden Adam & Eva zu verweilen.


    Milton stellt sie als im wahrsten Sinne des Wortes bildschöne Menschen dar. Mir gingen sofort die Bilder antiker Statuen durch den Kopf. Insbesondere die griechische Plastik ist voller Beispiele für einen Körperkult, der sich mWn. aus der Tatsache erklärt, dass die Griechen keinen großen Unterschied zwischen Menschen und Göttern machten, vielmehr in ihren Göttern Menschen sahen, die besonders vortrefflich "geraten" waren. Anders formuliert: Die Griechen hatten eine sehr hohe Meinung vom Menschen, rückten ihn in die Nähe der Götter und meißelten ihre marmornen Olympier nach durchaus menschlichem Modell.


    Das Christentum kann damit natürlich nichts anfangen, weshalb es mich sehr erstaunt hat, dass Milton für Adam und Eva Bilder benutzt, die an das antike (und heidnische) Griechenland erinnern. Ich weiß nicht, ob er folgende Kunstwerke der Renaissance (die sich auf antike Traditionen berief) kannte:


    - Die Geburt der Venus von Betticelli (http://de.wikipedia.org/wiki/Geburt_der_Venus)
    - David von Michelangelo (http://de.wikipedia.org/wiki/David_%28Michelangelo%29)


    Irgendwie gefällt mir jedoch die Vorstellung, dass diese beiden Schönheiten als Vorbild für Adam und Eva gedient haben könnten ...


    Zum Frauenbild Miltons vielleicht nur soviel (Mädels, tapfer sein!): Eva blickt ehrfurchtsvoll zum Manne empor, verehrt ihn, scheint ihm fast ein wenig hörig ...


    Viele Grüße


    Tom


    "[...] das Wissenschaftliche, angewandt auf das ganz Unwissenschaftliche und Märchenhafte, ist pure Ironie."


    Hallo riff-raff,


    über die von Dir zitierten Versuche "wissenschaftlicher Exaktheit" habe ich mich auch gewundert, ohne allerdings weiter darüber nachzudenken. Darin eine Art von Satire auf den Wissenschaftsbetrieb zu sehen, wäre mir deshalb nicht in den Sinn gekommen. Vielen Dank für diesen Hinweis!


    So long,


    Tom

    Liebe Mitstreiter,


    mein Lesefortschritt bleibt ein gemächlicher (soeben beendet: Gesang Nr. 4).


    Ich stelle mir mittlerweile die Frage, warum sich Milton ausgerechnet mit dem Sündenfall so intensiv beschäftigt hat. Nun ist dieses Thema natürlich so gut (oder schlecht) wie jedes andere biblische. Ich vermute jedoch, dass der Geist der Rebellion und des Abfallens von einer Sache damals einen hohen Stellen- und Streitwert gehabt haben muss.


    In dem Vorwort meiner Ausgabe schreibt Katharina Maier: „Von früher Jugend an trieben den großen englischen Literaten zwei titanische poetische Vorhaben um: ein Sündenfalldrama auf die Bühne zu bringen und zum Autor des englischen Nationalepos zu werden … Doch für Milton … erwiesen sich die Form des Dramas sowie der begrenzte Themenkreis des Nationalepos im Endeffekt als zu eng. Und so verschmolzen seine beiden großen literarischen Projekte zu einem Menschheitsepos … - einem Werk von wahrlich kosmischen Dimensionen.“


    Ohne diese Einordnung in Zweifel zu ziehen, beantwortet das nicht Miltons Motive. Mir scheint „Paradise lost“ auch so etwas wie eine theologisch-politische Streitschrift gegen die damals in Teilen Europa siegreiche Gegenreformation zu sein. Kleine Attacken gegen katholische Positionen und Sichtweisen durchziehen den Text. Insbesondere Satan, der Aufrührer und Rebell, schleudert der „Amtsgewalt“ Gottes all seinen ohnmächtigen Zorn entgegen, so wie einst die Reformatoren die Amtskirche attackierten – und die englischen Puritaner ihren König.


    In der Figur Satans führt Milton den Leser immer wieder auf unsicheres Terrain. Einsichtige Momente Luzifers („Wohin ich fliehe, kommt die Hölle ja, / Die Hölle bin ich selbst …; hätte nur sein Schicksal mich zu niedrem Engel / Bestimmt, ich wäre glücklich doch geblieben ...“) wechseln ab mit niederen Instinkten (z.B. Neid auf das Paradies der Menschen und auf die Engel, die sich Gottes Gnade erfreuen und das Paradies bewachen dürfen). Mir erscheint diese zerrissene, voller Selbstmitleid und Frustration steckende, mit sich selbst hadernde Figur aus dem 17. Jahrhundert sehr zeitgemäß und modern.


    Kleine Frage am Rande: Wer macht hier eigentlich noch mit?


    Viele Grüße


    Tom


    Trotzdem ist mein vorläufiger Eindruck, dass das Ganze künstlerisch misslungen ist. Auf hohem Niveau gescheitert.


    Moin Harald,


    als "misslungen" und "gescheitert" kann ich "Pierre" beim besten Willen nicht betrachten. In diesem Roman hat Melville ein halbes Jahrhundert vor dem Heraufdämmern der verschiedenen psychologischen Schulen (Freud etc..) die zerstörerische Wirkung von Familiengeheimnissen und (unausgesprochenen) Tabus beschrieben und analysiert. Er hat die griechische Tragödie mit all ihren pikanten Zutaten (Inzest, Mutter-Sohn-Verhältnis ...) auf die Höhe seiner Zeit gebracht - und das auf einem Niveau, dem Melvilles Zeitgenossen ratlos gegenüber standen. Natürlich gehen ihm manchmal die Pferde durch, aber das liesse sich von vielen großartigen Autoren behaupten und ist schlimmstenfalls ein kleiner Schönheitsfehler.


    Aber Dein Eindruck ist ja, Gott sei Dank, ein "vorläufiger". :zwinker:


    Ich habe "Pierre" jedenfalls mit Gewinn gelesen.


    Viele Grüße


    Tom


    ... ich hoffe, dass du fortfährst, über deine Lektüreerfahrungen mit Joseph zu berichten.


    Hier einige allgemeine Überlegungen:
    Ich mag die Art und Weise, wie Thomas Mann sich mit den alten Kulturen Ägyptens und Palästinas auseinandersetzt – unabhängig davon, ob es sich dabei um viel Dichtung und wenig Wahrheit oder umgekehrt handelt.


    Auf der einen Seite haben wir die semitische Kultur der Wüstenwanderer, Hirten und Bauern. In der Figur des Jaakob kulminiert das Lebensgefühl dieser Menschen: Ehrfurcht vor der wilden und oft lebensfeindlichen Wüste, der man Ackerland und Weidegrund mühsam abtrotzen muss. Dass diese Kultur einen recht strengen Gott hervorbringen muss, wird sehr plausibel erklärt. Auch, dass diese Kultur das „äffische Ägypterland“ als Unter- und Totenwelt verachtet, ist folgerichtig.


    Denn schauen wir uns das Ägypten T. Manns an, dann entdecken wir eine Hochkultur auf dem Zenith, vielleicht auch schön ein Stück jenseits davon. Die Zeit der imperialen Ausdehnung und Kriegszüge ist vorbei, das Volk lebt in Frieden und einschläfernder Sattheit. Die Sitten sind fein, dekadent, fast schon morbid. Die vergeistigt wirkende politische Elite (verkörpert insbesondere von Potiphar) frönt einem Leben, dass mit täglichen Sorgen nichts zu tun hat und auch dem Tod beinahe freudig ins Auge blickt (bedeutet er doch die Wiedervereinigung mit dem Göttlichen der Sonne). Die Elite stützt sich auf ein Heer ergebener Verwalter (Mont-kaw, Mai-Sachme) und Feldherrn sowie eine Priesterschaft, die selbst nach der Macht schielt und sich insbesondere dem pharaonischen Versuch, eine Revolution im Olymp anzuzetteln, widersetzt.


    Damit zurück zum 4. Buch.


    Sehr gut gefällt mir die Beschreibung des jungen Pharaos, der den Thron besteigt, während Joseph im Gefängnis ist. Er ist ein Kind der Macht. Verwöhnt und vergeistigt, beschäftigt er sich am liebsten mit theologischen Fragen, wird aber – nicht zuletzt in seinem berühmten Traum – mit der Realität seines Landes konfrontiert, also mit der Notwendigkeit, dass die Überflutung des Nils und die daraus resultierende schwarze, fruchtbare Erde niemals ausbleiben darf. Er weiß, dass er in seiner Rolle als Gott dafür verantwortlich gemacht wird, wenn die natürlichen Dinge nicht ihren normalen Verlauf nehmen, denn (so T. Mann): Wofür sonst hält das Volk sich einen Herrscher mit guten Kontakten nach „oben“?


    Das ist natürlich ein starkes Stück! Die Angst des Herrschers vor dem Versagen in seiner Rolle, seine Angst vor dem Volkszorn: Das habe ich in dieser Deutlichkeit schon lang nicht mehr gelesen (wenn überhaupt schon einmal).


    Nun ist hinlänglich bekannt, wie Joseph die Träume des Pharaos deutet. Gespannt bin ich darauf, was Thomas Mann daraus machen wird bzw. welche Überlegungen er mit dieser Traumdeutung verbindet.


    Ein schönes Wochenende!


    Tom

    Hallo riff-raff,


    mein derzeitiger Lesestand: Teil 2 des 4. Buchs.


    Sehr gut gefallen haben mir die Schilderungen der politischen Umbrüche, die sich in den Jahren von Josephs Haft ereignet haben: Die vereitelte Revolte gegen den alten Pharao, dessen Tod und Begräbnis, die religiösen Rivalitäten zwischen Priesterschaft und Königshof, schließlich die Inthronisierung des jungen, noch minderjährigen Pharaos, der sich so recht nicht für die alten Sitten erwärmen kann und es bspw. ablehnt, seinen Amtsantritt mit einem ordentlichen Gemetzel unter irgendwelchen Barbaren zu begehen. Soweit ich in der ägyptischen Geschichte bewandert bin, beruhen Thomas Manns Ausführungen auf gesicherten Tatsachen.


    Nun ist Joseph also an den Hof berufen worden, um Pharaos Träume zu deuten. So, wie der junge Herrscher bislang geschildert wurde, vermute ich in ihm einen Schöngeist, einen geistigen Verwandten unseres Helden. Mal sehen, ob sich das bestätigt.


    Es grüßt


    Tom

    Ich bin auch noch dabei und habe mittlerweile die ersten Kapitel des 4. Buchs gelesen. Das Glück bleibt Joseph auch im Unglück bzw. im Gefängnis treu. Durch sein selbstbewusstes Auftreten und die "Geringfügigkeit" seiner Tat beeindruckt er den Amtmann der Gefängnisinsel, der als ruhiger und sachlicher Zeitgenosse geschildert wird. Statt Joseph zu harter Zwangsarbeit abzustellen, macht Mai-Sachme ihn zu seinem Adlatus. Ich bin übrigens nicht überrascht, dass Josephs Schicksal an einem Tiefpunkt erneut eine positive Wende erfährt.



    Abgesehen von der göttlichen Vorhersehung, dem Segen von oben und unten, wie es so schön immer wieder heisst, sind es hauptsächlich zwei Eigenschaften, die Joseph im Leben den Weg ebnen und die ihm helfen, die Menschen für sich einzunehmen: sein gutes Aussehen und seine Redegewandtheit. Zweiters stufe ich höher ein.
    riff-raff


    Zustimmung. Wie ist eigentlich Dein aktueller Lesestand?


    Viele Grüße


    Tom


    Für mich wirkt Gott nicht so extrem rachsüchtig ...


    Ja, thopas, im 3. Gesang wird erstmals der "liebe Gott" sichtbar, der sich um seine Schöpfung sorgt und kümmert. Milton relativiert das Bild der beiden ersten Gesänge, in denen Gott ausschließlich aus der Sicht Satans geschildert wird.


    Sehr interessant fand im im 3. Gesang Miltons Philosophie des freien Willens, mit dem Gott sowohl die Engel als auch die Menschen ausgestattet hat. Diese Freiheit bedeutet auch die Freiheit zum Bösen bzw. die Freiheit des selbstgewählten, eigenen Untergangs. Das ist Luther bzw. Protestantismus pur.


    Die Seitenhiebe gegen den Katholizismus ("Paradies der Narren") fand ich recht amüsant.


    Ich hoffe, am Wochenende den 4. Gesang zu schaffen.


    Paradiesische Grüße!


    Tom

    Was mir nach den ersten beiden Gesängen ebenfalls haften blieb, ist das Bild des zornigen, rachsüchtigen Gottes, der in seiner uneinnehmbaren Himmelsfestung herrscht und als finsterer, gnadenloser Richter über die Geschicke der rebellierenden Engel befindet. Natürlich ist das die Sichtweise der Verstoßenen. Trotzdem wundert es mich, dass Milton als Protestant/Puritaner dieses alttestamentarische Gottesbild übernimmt. Zwar ist der Protestantengott gegenüber den Seinen und deren Sünden weniger nachsichtig als der Katholische (dem es reicht, wenn der Sünder zur Beichte läuft ...), aber derartig zornumwölkt schildert ihn selbst Luther nicht. Warum also macht Milton Gott zu einem starrköpfig-unnachgiebigen Patriarchen? Mal sehen, ob sich dieses "Rätsel" im weiteren Verlauf auflöst ...


    Es grüßt


    Tom


    Milton hat sicher viel von Dante gelernt.


    Ja, und ich empfinde es mittlerweile als Nachteil, Dante noch nicht gelesen zu haben (abgesehen von einigen Auszügen). Hier öffnet sich ein weites Feld, dessen Beackerung einen hübschen Ertrag verspricht.



    Ich las eben das 2. Buch


    Das ist auch mein Lesestand.



    ... die Schönheit dieses alten Englisch ist verblüffend. Milton schlägt förmlich Funken aus der Sprache. Ärgere mich, das erst jetzt zu lesen!


    Besser spät als nie.


    Was die Sprache betrifft (ob Deutsch oder Englisch): Wenn man sich einmal eingelesen hat, trägt sie einen von Zeile zu Zeile weiter, wie ein träger Fluss, dem man sich angenehm überlassen kann. Und was ich vorher nicht für möglich gehalten habe: Das Ganze ist auch noch ungeheuer spannend!


    Die zahlreichen Bilder und Schilderungen unterschiedlicher Höllenlandschaften sind für Maler und bildende Künstler eine unermessliche Quelle der Inspiration. Der Doré-Zyklus jedenfalls steht in seiner Genialität den Beschreibungen Miltons in nichts nach. Im Materialien-Ordner werde ich versuchen, einen Link zu platzieren, der zu einem Vortrag über Auguste Rodins "La Porte de l'Enfer" führt. Das ist zwar auf Dante bezogen, passt aber auch zu Milton.


    Ich frage mich mittlerweile, wie Miltons Zeitgenossen auf dieses Werk reagiert haben. Eine derartige Verherrlichung des Bösen muss doch ein Schlag ins Gesicht der damaligen Autoritäten (nicht nur der kirchlichen) gewesen sein!


    Viele Grüße


    Tom

    Mittlerweile ist der vierte und letzte Band eingetroffen - Zeit für einige Gedanken zum Schluß des dritten Buchs.


    Weiter oben ist gefragt worden, warum Potiphar, dieser sanfte, kastrierte Riese, dem es nur darum gelegen ist, seine persönliche Ruhe zu bewahren und in "sanfter Schonung" (schöne Formulierung!) schöngeistigen und leiblichen Genüssen nachzugehen, warum dieser Vertraute des Pharao den angeschuldigten Joseph nicht einfach hinrichten ließ.


    Ich nehme an, dass Thomas Mann Potiphar mit weit mehr Sympathie gesehen und entworfen hat, als auf den ersten Blick deutlich wird. Denn die am Ende gefällten milden Urteile über Joseph und Dudu (in dem er zurecht den wahren Verderber der Ruhe seines Hauses sieht) sprechen für einen klaren Blick auf die tatsächlichen Verhältnisse. Er weiß insgeheim, dass seine Gattin Mut-em-enet Joseph nur aus Frustration beschuldigt, was er deutlich macht durch die kühl abweisende Behandlung, die er ihr zuteil werden lässt. Auch weiß er sehr genau um die Mitschuld seiner Eltern Huij und Tuij an der ganzen Katastrophe, weshalb er deren Anwesenheit bei Gericht zornig anordnet. Die Tatsache, dass er überhaupt ein Urteil gegen Joseph verhängt, ist allein der Tatsache geschuldet, dass er unmöglich seine Gattin der Lüge bezichtigen kann und wohl auch ein gewisses Verständnis für deren Begehren aufbringt.


    Was Mut-em-enet anbelangt, die unsere Geschichte jetzt wohl für immer verlassen wird, so bewegt sie sich ganz in der Mannschen Tradition der Figuren, deren Leben durch den Einbruch zerstörerischen Verlangens und unzügelbarer Leidenschaft ruiniert wird. Ich denke da vor allem an Gustav von Aschenbach ("Der Tod in Venedig") und den "Kleinen Herrn Friedemann" aus der gleichnamigen Novelle. Auch im "Doktor Faustus" wirkt diese Zerstörungskraft, wenn auch in eine ganz andere Richtung. Möglicherweise ist dieses unkontrollierbare Einbrechen der Emotionen in ein geordnetes Leben eines der Hauptthemen des Dichters, der selbst arg damit zu kämpfen hatte.


    Den dritten Joseph-Band habe ich mit viel Gewinn gelesen, was die beiden vorherigen Bände nicht schmälern soll. Auf den vierten Teil bin ich nun sehr gespannt.


    Es grüßt


    Tom


    ... Er fordert Mut also in aller Entschiedenheit zum Ehebruch auf, selbst wenn man Joseph mit Gewalt zum Geschlechtsverkehr zwingen müsse ...


    ... wohl wissend, dass der verhasste Emporkömmling über diese amour fou stürzen wird. Für mich ist diese Ermunterung ein Teil der Intrige, die Beknechons und Dudu gegen Joseph schmieden.


    Seit Goethes "Werther" und Brontes "Sturmhöhe" habe ich derartig intensive Schilderungen verzweifelter Leidenschaft nicht mehr gelesen. Ein Zitat Mut-em-enets möchte ich hervorheben: ... uns bleibt nichts, als die Niederlage zu zwein, ... du schöner Gott, mein Schwan ..., dass wir zusammen ersterben und untergehn in die Nacht verzweifelter Seligkeit!" Wenn das kein Rückfall in Wagnersche Schwüle ist (v.a. "Tristan und Isolde")! Aber TM war bekennender Wagner-Adept, also sei es ihm erlaubt, seinem Idol zu huldigen.


    Es grüßt


    Tom


    Was haltet ihr von dieser hier?
    http://www.reclam.de/detail/978-3-15-000356-5


    Die hatte ich auch schon ins Auge gefasst. Mit 15 Büchern ist sie zumindest vollständig.



    ich kann dir nicht die Artemis-Winkler Ausgabe aus der Tusculum Reihe empfehlen, wenn du auf Vollständigkeit wert legst. Leider war mir das beim Kauf nicht sofort ersichtlich, dass es nur eine Auswahlausgabe ist. :sauer:


    Ja, davor wird bei amazon ausdrücklich gewarnt. Hat der renommierte Verlag so etwas nötig?


    Eine recht geschraubt und geschwurbelt klingende Übersetzung fand ich hier: http://www.gottwein.de/Lat/ov/met01de.php


    Viele Grüße


    Tom