Gestern habe ich den ersten Teil des Romans beendet.
Immer wieder wird auf die doppelten Wertmaßstäbe für einen Seitensprung in der New Yorker Gesellschaft hingewiesen: „they were sedulously abetted by their mothers, aunts and other elderly female relatives, who all shared Mrs. Archer’s belief that when ‘such things happened’ it was undoubtedly foolish of the man, but some-how always criminal of the woman.“ (Kapitel 11).
Scheidung wird von der intoleranten Gesellschaft gänzlich verachtet, und sie verlangt, dass die individuellen Bedürfnisse hinter dem kollektiven Interesse zurück stehen. Die Institution ‚Familie‘ muss geschützt bleiben! Ellen würde ihr geopfert werden, sollte sie auf ihre Scheidung bestehen. Aber auch Newland hat das kollektive Interesse verinnerlicht; er strebt nach der richtigen Heirat mit der gesellschaftlich zu ihm passenden Frau.
Nach der romantischen Winterszene :rollen: zwischen Newland und Ellen wird ihm klar, dass diese für ihn geplante Zukunft einem gesellschaftlichen Gefängnis gleichkommt. Newlands Flucht zu seiner Verlobten May nach Florida stellte mich vor die Frage, ob er damit seine Gefühlen Ellen gegenüber im Keim ersticken möchte oder um jeden Preis seinen gesellschaftlichen Verpflichtungen nachgeht und seine Verlobte heiratet.
May kommt im warmen Florida zum ersten Mal zu Wort und zeigt dabei nichts von ihrer sonstigen Unschuld sondern führt die kalte Sprache der klar den Mann durchschauenden Frau, die ich von ihr kaum erwartet habe in einer Gesellschaft, wo Gefühle von Konventionen ersetzt werden. Wird sich ihre Romanfigur zu einem manipulierenden Weib entwickeln?
Wie wird sich die Romanfigur der Ellen Olenska entscheiden? Scheidung entfällt erst einmal für sie, wird sie die ‚love affair‘ eines reichen New Yorkers werden :redface: oder kommt für sie ein Leben auf Reisen :winken: in Europa und umgeben von Künstlern in Frage? Wäre Ellen Olenska gar ein Alter Ego zu Edith Wharton?
Und Newland Archer, hat er noch die Chance Charakter zu zeigen und sich den gesellschaftlichen Konventionen zu entziehen?
Heute Abend lese ich weiter mit Kapitel 19 und denke dann in etwa fast so weit zu sein, wie alle anderen.
Nebenbei bemerkt finde ich es schade, dass Newlands Freund, der Journalist Ned Winsett, nur eine untergeordnete Rolle spielt. Der ganze Roman wird einzig aus der Perspektive von Newland Archer erzählt. Mir hätte Winsetts Meinung zu der erstarten New Yorker Gesellschaft sehr interessiert. Edith Wharton verweigert das mir als Leser. Sehr schade!
Grüsse
Babur 