Hallo zusammen
Etwas verspätet (durch Niels Lyhne) habe ich jetzt endlich das erste Kapitel geschafft, werde aber heute abend noch weiter lesen, so dass ich Euch hoffentlich noch einhole, bevor ihr mit dem Buch fertig seit.
Mit Rolf Vollmanns, von mir im ersten Posting dieses Thread erwähnten Kommentars: „wir bewegen uns da hart an den Grenzen der Kolportage“ und euren ersten Kommentaren im Hinterkopf bin ich mit etwas gemischten Gefühlen an den Roman gegangen. Zwar kenne ich weder die „Schicksalsromanhefte“ von Marias Tante :zwinker: noch habe ich jemals etwas von Hedwig Courts-Mahler gelesen :zwinker: , kann hier also nicht vergleichen; im Vergleich mit dem was deutsche Schriftsteller aber auch noch 70-80 Jahre nach Balzac ablieferten, klingt für mich Balzac auch in diesem Roman sehr modern.
Ein Beispiel, was ich als „an den Grenzen der Kolportage“ bezeichnen würde (stammt jetzt aber nicht von Balzac):
Im Hintergrund des Zimmers aber, auf der Ottomanne, neben der die niedrige, rotverhüllte Lampe stand, saß im Gespräch mit dem jungen Fräulein Stephens Gerda von Rinnlingen. Sie saß ein wenig in das gelbseidene Kissen zurückgelehnt, einen Fuß über den anderen gestellt, und rauchte langsam eine Zigarette, wobei sie den Rauch durch die Nase ausatmete und die Unterlippe vorschob. Fräulein Stephens saß aufrecht und wie aus Holz geschnitzt vor ihr und antwortete ängstlich lächelnd. ...
Davon ist aber doch Balzac zumindest im ersten Kapitel weit entfernt.
Das erste Kapitel „Erste Fehler“ war bei seiner Erstveröffentlichung noch in 6 Abschnitte eingeteilt:
1. Das junge Mädchen
2. Die Frau
3. Die Mutter
4. Die Erklärung
5. Das Rendez-vous
Das junge Mädchen:
Julie, ein junges Mädchen schleppt seinen Vater zu einer Parade in den Tuilerien, weil es in einen schönen Oberst verliebt ist. Und dann wird Napoleons letzte Parade (die allerdings nicht historisch ist) geschildert:
...Die begeisterte Menge brach in Schreie: „Es lebe der Kaiser!“ aus. Kurzum: alles bebte, alles regte sich, alles wankte- Napoleon war zu Pferde gestiegen. Diese Bewegung hatte den schweigenden Massen Leben eingehaucht .... auch die Mauern der hohen Galerien des alten Palais schienen zu rufen: „Es lebe der Kaiser!“ Es war nichts Menschliches mehr, es war Magie, ein Trugbild der göttlichen Macht, oder besser: ein vergängliches Abbild dieser vergänglichen Herrschaft. Der Mann, der von soviel Liebe, Begeisterung, Opferwille und Wünschen umgeben war, für den die Sonne die Wolken am Himmel verjagt hatte, ....
Gandalf, ich stimme Dir bei, eine plastisch beschriebene Parade, die einem das Ereignis hautnah miterleben lässt. Aber Balzac, wäre nicht Balzac wenn er diese Massenhysterie nicht ins rechte Licht rücken würde. Er sagt uns deshalb kurz vorher schon, wer das eigentlich ist, der so die Massen bewegt:: Ein kleiner Mann, ziemlich fett, in grüner Uniform mit weißer Kniehose und Reitstiefel...:
Ich finde diesen Abschnitt toll und welcher Schriftsteller hat je den großen Napoleon so beschrieben?
Die Frau
Julie hat ihren Oberst geheiratet ist aber unglücklich. Balzac zeigt das auch daran, wie Julie auf die wunderbare Landschaft an der Loire reagiert:
„Julie, möchtest du nicht hier leben?“ – „Oh, hier oder anderswo“, sagte sie leichthin. „Fehlt dir etwas?“ fragte sie der Oberst ....
Später wird Julie an der geographisch gleichen Stelle im Beisein von Lord Grenville anders reagieren:
„Welch schönes Land!“ rief sie. „Hier wollen wir ein Zelt errichten und bleiben ...
Kann man den jeweils seelischen Zustand einer jungen Frau besser zeigen?
Die Mutter
Julie gebar eine Tochter aber „ihr Mann hatte sich ihrer nach und nach ganz entwöhnt“. Im Salon der Madame de Sérisy während Julie die Romanze der Desdemona aus Rossinis Oper „Otello“ singt taucht der engl. Lord wieder auf. Julie ist bereit (für ihre Tochter) zu kämpfen: Sie singt jetzt die Arie „Son regina, son guerriera“ (ich bin Königin und Kriegerin). Wie Steffi schon bemerkte, eine sehr anschauliche Schilderung dieser Situation.
Die Erklärung
Julie erklärt dem Lord, dass sie ihrer Gattinnenehre und Mutterpflicht treu sein will, aber auch der Forderung ihres Herzens.
„Die Gesetze der Gesellschaft verlangen es, dass ich ihm sein Leben angenehm gestalte, ich werde ihnen gehorchen. Ich werde seine Dienerin sein; meine Aufopferung für ihn soll grenzenlos sein; doch von heute ab bin ich Witwe“
Balzac zeigt meiner Meinung nach eine starke Frau, die viel konsequenter ist, als Emma Bovary oder Effi Briest und auch Balzacs Gesellschaftskritik ist härter formuliert als bei Flaubert oder Fontane.
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Das Rendez-vous
Ein starker und sehr moderner Schluß:
Die Ereignisse dieser Nacht sind nicht völlig bekannt geworden; ...
„... So ein Engländer will doch immer den Sonderling spielen.“ – „Bah!“ antwortete d’Aiglemont, „solche Heldentaten sind immer auf die Frau zurückzuführen, die sie einflößt, und für meine wäre der arme Arthur gewiß nicht gestorben.“
Wenn Balzac kein zweites Kapitel geschrieben hätte, wären hier mehrere Deutungen möglich über das, was tatsächlich geschehen ist. Oder war euch an dieser Stelle alles klar?
Gruß von Hubert