„Beim Häuten der Zwiebel“ heißt das Buch. Selten hat man sich von einer Zwiebel so genervt gefühlt. Denn sie muss ständig einstehen für den besonderen Wert des Grass’schen Erinnerungsprogramms. Wie eine Zwiebel, erklärt der Erzähler Mal um Mal, sei die Erinnerung. Schicht um Schicht müsse man abtragen, um zu immer tieferen Gedächtnislagern vorzudringen. Und wie das Häuten einer Zwiebel einem die Tränen in die Augen treibt, sei auch der Prozess des Erinnerns schmerzhaft. Mancher drücke da schon lieber mal die Augen zu, weil es zu sehr brenne. Auch er, Günter Grass, habe bisher mit dem Häuten zu früh aufgehört, „so dass mir mein Schweigen nun, beim Häuten der Zwiebel, in den Ohren dröhnt“. Noch jetzt schrecke er immer wieder davor zurück: „Bin ich es, der nicht entziffern will, was der Zwiebelhaut eingeschrieben steht?“
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Das hat nicht nur moralisch etwas Dröhnendes, etwas von großer Oper und hohem C, es wirkt vor allem ästhetisch penetrant. Denn es bleibt ja nicht bei der Zwiebel-Metapher. Es muss ja auch noch der Bernstein her, der alles Vergangene in sich schließt und bewahrt. Wenn Grass mit der Zwiebel nicht weiterkommt, greift er zum Bernstein: „Der Bernstein gibt vor, mehr zu erinnern, als uns lieb sein kann.“
Man muss aber, um der Wahrheit willen, sagen, dass dies das Bauprinzip von allen Grass-Romanen ist. Immer steht in ihrem Zentrum ein einigermaßen grob geschnitztes Ding-Symbol, im Lichte dessen recht simplen Symbolgehalts alles Erzählte beleuchtet und gedeutet wird. Mal ist’s eine Schnecke (SPD, Reform, Fortschritt), mal ein Butt (Frauenemanzipation), dann eine Rättin (Menschheitsapokalypse wegen Umweltzerstörung), dann eine Unke (deutsch-polnische Versöhnung). Im „Weiten Feld“ war es ein Paternoster (die ewige Wiederkehr der deutschen Geschichte), zuletzt ein Krebs (das seitlich Umständliche unserer Erinnerung). Vom Krebs zur Zwiebel ist es nur ein kleiner Schritt.
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Man könnte ihn einen verschärften Bauern-Barock nennen: Es wimmelt von Adjektiven. Redundanz ist das oberste Prinzip. Diese Prosa hat etwas Krud-Artifizielles, etwas Ausgeschnitztes, Manieristisches, pedantisch Groteskes (Grimmelshausen hat ihm eben schon an der Wiege gesungen!). Überhaupt gilt für Grass’ Bücher das Mischungsverhältnis: Auf eine Einheit Denken kommen dreißig Einheiten Bilderwust. Die Literaturkritik hat das früher gerne sein überschäumendes Erzähltemperament genannt. In der Welt des Motorsports nennt man das übertourig. Sein Stil besteht fast ausschließlich aus Metaphern, kaum einmal ein normales Wort ist darunter gestreut. Die Lektüre dieser poetischen Essenz ist nur dem Lutschen von Brühwürfeln vergleichbar.
Günter Grass vorzuwerfen, dass er als Jüngling an das Dritte Reich geglaubt hat, ist absurd. Über sein langes Schweigen aufschreien mag, wer ihn zuvor zur moralischen Ikone erhöht hat - es hat aber etwas Tantenhaftes. Die Rückgabe des Nobelpreises zu verlangen ist lächerlich. Und wer jetzt auch das bisherige literarische Werk demoliert sieht, der möge bitte über seinen Literaturbegriff Auskunft geben. Eines aber kann man sagen: Die literarische Form, die Grass für sein Eingeständnis bemüht hat, enthält entschieden zu viele Metaphern. Und solche erhellen die Abgründe des Lebens meistens nicht.