Ich hab mal wieder nur wenig gelesen und bin noch bei Raabe: "Hastenbeck" (1899) und "Meister Autor" (1874). Letzteres ist gewissermaßen ein Werk des Übergangs, sehr komplex und eine Art Positionsbestimmung des Autors Raabe. "Hastenbeck" ist Raabes letzter vollendeter Roman und ein ziemliches Meisterwerk.
Hastenbeck ist ein Dorf in Niedersachsen und heute ein Stadtteil vom Hameln. 1757 war es Schauplatz einer Schlacht im Siebenjährigen Krieg. Der Roman betreibt gewissermaßen Geschichtsschreibung von unten. Die Schlacht selbst wird erwähnt, aber es geht weniger um sie als um ihre Auswirkung. Erzählt wird aus der Perspektive der nunja "normalen Menschen", die unschuldig schuldig und als Spielbälle widersprüchlicher und verwirrender, aber tödlicher Machtinteressen in der blutigen Welt herumgeworfen werden.
Der Erzähler rekurriert sehr oft auf konkrete historische Ereignisse, platziert seine Erzählung präzise in das historische Geschehen, referiert immer wieder aus den Quellen – und als Ergebnis erhält man kein wie auch immer geordnete oder gar sinnvoll verstehbares Ganzes, sondern ein chaotisches Durcheinander. Entsprechend sperrig gerät der Beginn, der mit historischen Ereignissen um sich wirft und jeden, der nicht sehr sattelfest in der Geschichte des Krieges ist, erstmal ziemlich verwirrt zurück lässt.
Die zentrale Figur im Roman ist eine greise ehemaligen Marketenderin ("die Wackherhansche", früher die "Försterin vom Barwalde", die in einem alten Wehrturm am Dorfrand als Hexe verschrien lebt), für die der Siebenjährige Krieg nur einer unter vielen ist und durch deren kurzen Erinnerungen und Einwürfe die Welt als großes und blutiges Schlachtfeld erscheint, im dem Liebe und Glück extrem bedrohte Pflänzchen sind, die eigentlich keine Chance haben.
Am Schluss heißt es da:
Am 15. Februar war der Siebenjährige Krieg zu Ende gegangen, und wieder mal Frieden – das was man so nennt, in der Welt geworden. Wenigstens hatte für den Augenblick in Europa das ewige Krachen, Sturmglockenläuten, Trommeln, Trompeten und Querpfeifenquinkelieren aufgehört und riß man sich auf den Champs de bataille und in den Spitälern, nicht mehr einander das blutige Stroh unter den Köpfen weg, um sich selber bequemer zu betten.
Es wird sehr reflektiert erzählt, es geht um "Geschichte vs. Geschichte", um historische Fakten vs. poetischer Erfindung, darum, dass das eine nicht ohne das andere zu haben ist. Zentrales Motive sind ein theologisches Buch von "Gottes Wunderwagen" und Geßners Idyllen von Daphnis und Chloe, die just zu Beginn des Krieges erschienen sind. Ein Exemplar der Idyllen wird als zerfleddertes, blutiges Büchlein mit einer Kugelspur von einem Veteran aus dem Blut des Schlachtfeldes aufgelesen, die Lektüre verändert sein Leben (bzw. das, was davon noch übrig ist). Dass Geßner "lügt", wird dabei mehrfach betont, und auch gleich wieder entschuldigt. Dabei erzählt der Roman nun seinerseits eine "Idylle" und seine Version von "Daphnis und Chloe".
Die Wackerhansche bringt ein Liebespaar (sie als Säugling vom Pastor am Weggrand aufgelesene Waise, er zum Soldat gepresster Blumenmaler der Porzellanmanufaktur Fürstenberg, der als Deserteur und entflohener Kriegsgefangener gleich von zwei Parteien gejagt wird) ins neutrale Blankenburg in Sicherheit. Ganz am Schluss, als der Krieg aus, das Liebespaar verheiratet ist und Kinder hat und gewissermaßen die Idylle zu ihrem Recht kommt, wird noch erklärt, warum die Wackerhahnsche ihren Turm nicht verlassen hat und den drängenden Einladungen, ins warme Haus zu ziehen, nicht folgen konnte:
Sie haben noch lange so ihr zugeredet, – Pastor Holtnicker und Pastor Emanuel Störenfreden aus Derenthal auch. Letzterer, was das Einander-einen-Gefallen-tun anbelangt, in wenn auch milderen, so doch ebenso bewegten Worten wie seine Frau Tante, die Pastorin von Boffzen. Es hat aber alles nichts gefruchtet: die Wackerhahnsche hat nicht aus ihrem Turm herab ganz zu den anderen Menschen zurückkommen und mit ihnen nach Menschenart leben wollen und – können.
Den eigentlichen Grund hat sie, nicht lange vor ihrem Tode, im Jahre Siebzehnhundertachtundsechzig, dem auch von ihr angenommenen Kinde, unserem Bienchen aus dem Boffzener Pfarrgarten, der jungen Madame Wille gesagt:
»Es ging nicht! es ging bei dem besten Willen nicht, mein Herz! Nicht die Welt, nicht ihr Jungen, nicht die Alten waren schuld daran – deine Kinder, deine kleinen armen Kinder sind's gewesen, Immeke! […] Ihr ginget an eurem Myrtenstab, ich mußte an dem in meiner Hand weiter, und der war zu scharf mit Eisen beschlagen und zu oft in Blutlachen niedergestoßen worden, als daß ich ihn hätte am Großmutterstuhl in der Kinderstube – in eurer Kinderstube absetzen können. Die Försterin aus dem Barwalde, die Hexe aus dem Landwehrturm, die nie ein Kind auf dem Arm getragen, nie eines gewaschen, getrocknet, gekämmt, gefüttert hatte, was für Großmuttergeschichten hätte die deinen Kindern zu erzählen gewußt, Immeke? Blut an den Schuhen, Blut hoch am Rock hinauf – wie hätte die Wackerhahnsche in einen Großmutterstuhl am Winterofen mit ihren Geschichten gepaßt? Vor deinen Kindern habe ich Angst gehabt; denn ich habe in ihre Augen gesehen, wenn sie zusammengefahren waren vor einem Wort, vor einem Fluch von der alten Frau, die sie nach eurer Liebe und Güte auch Großmutter nennen sollten, wie ihre richtige, die Frau Pastorin! Für eure Liebe und Güte habt Dank; doch mich müßt ihr lassen, wo ich bin. […]«
Der ganze Roman ist ausgesprochen komplex.