Beiträge von finsbury

    Also wenn du "Bleak House" liest, dann machen wir doch eine Leserunde daraus. Ich kriege meine viel zu ambitionierte Leseliste in diesem Jahr sowieso nicht durch und habe schon lange keinen Dickens mehr gelesen, obwohl ich ihn sehr mag.

    Jetzt lese ich außer der Reihe "Der Gesang der Flusskrebse", das mir hymnisch gepriesen wurde. Fange aber erst heute Abend damit an.

    Über die Freundschaft bzw. Rivalität zwischen Dickens und Collins hat Dan Simmons den recht adipösen Roman "Drood" geschrieben, der zwar die Simmons-typischen Mysteryelemente als Hinzudichtung hat, aber nichtsdestotrotz (angeblich) sorgfältig recherchiert wurde. Ich habe ihn vor ca. zehn Jahren gelesen, aber alles vergessen, vielleicht schaue ich mal wieder hinein - aber zuerst sollte ich mich wohl wieder der Leseliste zuwenden ...

    "recht adipösen Roman" ist eine sehr schöne Formulierung!

    Es gibt noch einen Roman, der sich mit diesem letzten Roman Dickens und auch mit seinem Verhältnis zu Collins, soweit ich mich erinnere (2004 gelesen), beschäftigt: Das italienische Autorengespann Fruttero & Lucentini schrieb 1989 den Kriminalroman "Die Wahrheit über den Fall D.", in dem die Meisterdetektive der Kriminalliteratur auf einem Kongress versuchen, das rätselhafte Ende des Romans zu klären. Das ist ein nettes Kabinettstückchen, das auch das Romanfragment von Dickens enthält.

    Wenn ich richtig gesucht habe, gibt es noch keinen Thread zu diesem berühmten englischen Autoren. Dann beginne ich mal:

    William Makepeace Thackeray (1811-1863): Die Memoiren des Barry Lyndon (1856)

    Dieser vergleichsweise kurze Roman des berühmten Satirikers und Gesellschaftskritikers Thackeray ist eine Zeitreise ins 18., das sogenannte „galante“ Jahrhundert.
    Redmond Barry ist ein Antiheld reinsten Wassers.


    Geboren in eine heruntergekommene irische Familie mit Verbindungen zum niederen Landadel, aber Ansprüchen mindestens auf die Abstammung von den irischen Königen, wenn nicht überhaupt von dem ältesten Adelsgeschlecht der Welt, ist schon Redmonds Vater ein Aufschneider und Filou reinsten Wassers, der seinen älteren Bruder um dessen Erbe bringt, indem er zum protestantischen Glauben übertritt und dadurch in der Erbfolge in dem von den protestantischen Engländern besetzten Irland vor den katholischen Bruder tritt. Sehr schnell hat er aber dieses Erbe durch Spiel- und Geltungssucht durchgebracht und stirbt früh, nicht ohne eine adelsstolze Frau und einen Sohn zu hinterlassen, der sehr erfolgreich in seine Fußstapfen tritt. Redmond Barry tritt mit sechzehn Jahren in einem Duell gegen einen Hauptmann an, der seine Cousine Nora, in die er leidenschaftlich verliebt ist, heiraten will und verletzt diesen scheinbar tödlich. Von den Verwandten, die den lästigen Heißsporn loswerden wollen, zur Flucht gezwungen, fällt er in Dublin in die Hände von Berufsspielern, verliert das wenige, was ihm die Mutter mitgeben konnte und verdingt sich als Gemeiner bei der englischen Armee. Verschiedene Abenteuer im Siebenjährigen Krieg (1756-11763) stoßen ihm auf dem europäischen Festland zu, treiben ihn durch Belgien nach Preußen, wo er nach der Desertion aus der britischen Armee sogleich von einer preußischen Werbertruppe gepresst wird und vom Regen in die Traufe kommt. In diesem Zusammenhang erhält man ein ganz anderes, sehr viel kritischeres Bild von den militärischen Praktiken des in Deutschland doch immer noch in recht hohem Ansehen stehenden Friedrich des Großen.
    In Berlin trifft Redmond Barry seinen Onkel, den älteren Bruder seines Vaters, von diesem um sein Erbe betrogen, wieder. Dieser ist inzwischen ein recht erfolgreicher Berufsspieler geworden, der Spitz auf Knopf in scheinbarem Luxus lebt und Redmond, dem er wegen des Vergangenen nicht gram ist, in seinen Broterwerb einweist. Gemeinsam ziehen beide durch die Fürstentümer Deutschlands und Europas mit wechselndem, doch zumeist großem Spielglück.
    Schließlich eröffnet sich Redmond die Möglichkeit einer traumhaften Heirat mit der reichen Witwe Gräfin Lyndon, der besten Partie der britischen Inseln.

    Soweit so gut, kommen wir nun zu Redmonds Charakter. Er ist der Ich-Erzähler dieser Lebensbeschreibung, die er als Greis im Rückblick erzählt, wie man im Laufe der Handlung beiläufig erfährt, als gesundheitlich und finanziell ruinierter Säufer im Schuldgefängnis zu London. Redmond Barry verkörpert so ziemlich alle verabscheuungswürdigen Charaktereigenschaften und Verhaltensweisen, die man sich vorstellen kann. Er ist maßlos überheblich, jähzornig, geht über Leichen, ist bindungsunfähig, beutet Bedienstete und jeden, der es sich gefallen lässt, aus und blickt dabei weinerlich auf sein ach so hartes Schicksal zurück, das er sich in jeder Einzelheit selbst eingebrockt hat. Alles Geld, zu dem er kommt, gibt er unverzüglich wieder aus, ob an Spieltischen oder um auf protzigste Art zu renommieren. Seine Frau, deren Namen er seinem hinzufügt, behandelt er sehr grausam, macht sich über sie lustig, schlägt sie, wenn ihm danach ist und hält sie am Ende sogar gefangen.
    Es fiel mir zu Anfang schwer, diesen Ich-Erzähler zu ertragen. Er entlarvt sich jedoch durch naive Anmerkungen über seine Reinfälle, kurze Anfälle von Ehrlichkeit und seine maßlose Angeberei immer wieder selbst und ist gleichzeitig das Sprachrohr von Thackerays Gesellschaftssatire, so dass ihm Beobachtungen zu den gesellschaftlichen und politischen Verhältnissen gelingen, die eigentlich nicht zu seiner intellektuellen Ausrüstung passen. Natürlich ist die Handlung auch sehr farbig und durchaus spannend, sodass man diesem Roman, wenn man sich mit dem ekligen Helden abgefunden hat, doch einiges an Lesevergnügen abgewinnen kann.


    Von der Klassifikation her sind „Die Memoiren des Barry Lyndon“ einzuordnen als ein Beispiel für den Schelmenroman (wobei der Schelm hier ein ausgesprochener Schuft ist), für den negativen Bildungsroman und natürlich für die Gesellschaftssatire, die Thackeray in allen seinen großen Romanen unternimmt, normalerweise allerdings auf die zeitgenössischen Verhältnisse gemünzt.

    Stanley Kubrick hat den Roman als Vorlage zu seinem meisterhaften Kostümfilm „Barry Lyndon“ von 1975 benutzt.

    O je! Ich hab mal reingelesen. Da tust du dir ja wirklich was an! Erinnert mich an unsere Sue-Leserunde vor einigen Jahren, das war auch nur schwer durchzuhalten.


    Aber auch ich quäle mich, allerdings durch einen ungleich besseren Roman, immer noch "Die Memoiren des Barry Lyndon". Die Hauptfigur ist ja der Ich-Erzähler, und dadurch fällt es mir öfters schwer, die ironische Distanz zu erinnern, wenn ich sehe, wie Barry Lyndon eine/n nach dem anderen über den Tisch zieht und sich dabei auf die Schultern klopft. Auch wenn Thackeray es immer wieder versteht, durch scheinbar entschlüpfte Nebenbemerkungen des Ich-Erzählers dessen hohle Lebenseinstellung - und die der Gesellschaft, in der er sich bewegt - zu entlarven, muss ich an mich halten, Barrys weitere Abenteuer literarisch zu genießen. Als Lustleser fehlt mir die Distanz, um diesen bösen sarkastischen Roman so recht zu würdigen.

    Dann hast du, Diaz Grey, wahrscheinlich die gleiche Ausgabe der Mannschen Erzählungen gelesen, die ich auch heute noch als mehr oder weniger Lose-Blatt-Sammlung im Regal habe. Aber ich mag mich von Büchern, deren Inhalt ich gelesen habe und schätze, nicht trennen und lese eher nochmal die alte Loseblattsammlung als ein noch steriles neues Buch.

    Ja, die Taschenbücher, die aus den 50ern und 60ern stammen, sind natürlich bar jeder Diskussion, wobei ich einige Rowohlts aus der ersten Hälfte der 50er habe - Sinclair Lewis z.B. -, die sich erstaunlich gut halten.


    In den Endsiebzigern habe ich angefangen, Literatur zu sammeln, mit den begrenzten Mitteln des Jugend- und jungen Erwachsenenalters im Wesentlichen Taschenbücher. EIniges in meinen Regalen von Thomas Mann und Günter Grass stammt aus dieser Zeit und eben von Fischer. Ich denke, der Grund, warum die Leimung der Fischer-Tb so schnell kaputtging, war auch, dass der innere und äußere Rand sehr knapp war, so dass man den Buchrücken brechen musste, um einigermaßen bequem lesen zu können. Dadurch hielten die Blätter schlecht.

    Da hat Schmidt durchaus Recht, und das ist noch schlimmer mit den Taschebüchern, insbesondere z.B. Fischer Taschenbücher aus den Siebziger Jahren. Die gehen im wahrsten Sinne des Wortes alle aus dem leim, wenn man sie jetzt noch mal anfasst.

    Vielen Dank, Diaz Grey, für die erhellenden Ausführungen zum "Barry Lyndon". Bisher bin ich auch recht angetan, während ich "Vanity Fair" vor Jahrzehnten mit weniger Freude las. Ich weiß nicht mehr warum, das Geschehen ließ mich recht kalt und ärgerte mich teilweise.

    Die Ambivalenz Barry Lyndons drängte sich mir von Beginn an auch sehr stark auf. Daraus bezieht der Roman auch einen großen Teil seines Witzes, weil Barry in naiv-dreister Weise sich selbst lobt und in den Himmel hebt und direkt danach selbst seine moralische Verworfenheit offenlegt. Deshalb wirkt er auf den Leser auch nicht so abstoßend, sondern reizt eher den Lachsinn.

    Und nun ein Klassiker der englischen Literatur: "Die Memoiren des Barry Lyndon, Esquire", eine Art Schelmenroman von WIlliam Makepeace Thackeray. Er ist außerhalb der englischsprachigen Welt besonders durch Stanley Kubricks Verfilmung von 1975 bekannt geworden. In meinem Kindler-Lexikon, das auflagenmäßig aus den Anfang-Siebzigern stammt, steht er noch nicht drin.

    Da wären wir wieder bei der Übersetzung von Titeln, giesbert. Ich habe dieses Stück vor einigen Jahrzehnten unter dem Sprichwort-Titel "Klugheit schützt vor Torheit nicht" gelesen.

    In diesem Fall finde ich - und im Nachhinein auch bei dem oben genannten Dostojevskij-Titel - es nicht nur wegen der Genauigkeit - ich weiß nicht, wie Ostrovskijs Drama im Original heißt - gut, dass das Drama nun diesen Titel trägt.
    Denn der in dem Sprichwort verwendete Begriff "Torheit" ebenso wie "Sühne" sagt vielleicht heute jungen Lesern, die sich für diese Texte interessieren, nicht mehr das Gleiche wie der älteren Generation. Die Kenntnis dieser Begriffe ist vielleicht für sie ebenso obsolet wie für uns viele Begriffe, die vor zwei oder drei Generationen Allgemeingut waren.

    Da ist sicherlich etwas dran, allerdings spielt die Übersetzung eine nicht unerhebliche Rolle. Gerade bei Dostojewskij habe ich ein paar alte Winkler-Ausgaben beiseitegelegt und die Übersetzungen von Swetlana Geier im Auge, die aber in den gebundenen Ausgaben ein halbes Vermögen kosten.

    ...

    Letzlich machen die zahlreichen Übersetzungen auch den Reiz von Klassikern aus, denn wo sonst herrscht eine solche Auswahl, bei dem Versuch dem Original so nahe wie möglich zu kommen?

    Ich glaube, dass Übersetzungen auch abhängig vom Zeitgeist und die alten nicht unbedingt schlechter als die neuen sind. Bei so sprachlich hochkomplexen Schriftstellern wie Joyce oder Jean Paul können Übersetzungen natürlich sehr danebengehen. Wo es aber vor allem auch um den Ideengehalt, das Setting, die Figurenkonstellation usw. geht, sind ordentlich gearbeitete Übersetzungen weniger unterschiedlich voneinander und die neuen auh nicht immer treffender. Man denke nur an die oben von mir genannten Titel des Dostojevskij-Romans: Ich denke immer noch, dass "Schuld und Sühne" passender für den am Transzendenten sich abarbeitenden Dostojevskij ist als der neutrale andere Titel, der eher dem weltlicheren Zeitgeist von heute geschuldet ist.

    Außerdem kann man ja meist nur in wenigen Sprachen selbst beurteilen, ob eine Übersetzung gelungen ist und muss sich in den anderen auf entsprechende Rezensionen verlassen.

    Klingt so, als wäre es eher eine Kulturgeschichte und nicht nur eine kulturgeografische Darstellung , wie es der Küster ist, obwohl dessen Lektüre auch sehr erhellend und gut zu lesen war.

    Ja, da machst du mir die Leseraugen groß. Mal sehen, gerade lese ich ein GEO-Epocheheft zum Jahr 1000. Wenn ich das durchhabe, könnte ich den Blackburns als nächstes Sachbuch nehmen. Entspricht zwar nicht meinem Leseplan, aber ich bin im Moment etwas des Historischen, das ich mich vorallem für dieses Jahr vorgenommen habe, müde.

    Deshalb habe ich im Moment auch ein weiteres Werk von Barbara Pym dazwischengeschoben. "In feiner Gesellschaft" beginnt furios komisch mit der Schilderung eines Kongresses wissenschaftlicher Mitarbeiter im editorischen Bereich. Pym at her best! Leider bleibt es nicht ganz so gut, auch weil diesmal die Hauptperson, Dulcy Mainwaring, wie immer eine mittelalte Jungfer, etwas nervtötend neugierig ist. Mal sehen, wie es weiter geht.

    Den Pym hab ich vor zwei, drei Jahren mal wieder gelesen - und fand ihn fürchterlich ;-). Fängt mit Katastrophen an und steigert sich … Aber noch schlimmer ist Jules Vernes Fortsetzung "Die Eissphinx" - gediegene Langeweile. Ich weiß gar nicht, warum ich das bis zum Ende durchgehalten habe. Berge des Wahnsinns habe ich dagegen in sehr guter Erinnerung, aber da bin ich vorsichtig - Lovecraft habe ich so mit 17, 18 verschlungen. Ob ich dem heute noch etwas abgewinnen würde, möchte ich lieber nicht ausprobieren.

    Das wird genau das Problem sein. Selbst bei Dostojevskij, der ja nun doch in einer ganz anderen Liga spielt, springt bei mir heute nicht mehr so der Funken über, zumindest nicht bei "Schuld und Sühne" / "Verbrechen und Strafe". Erstens hatte man damals noch lange nicht so viel Leseerfahrung und zweitens sind die eher emphatischen Texte in höheren Lebensjahren eher komisch als eindrucksvoll. Das gilt auch für Lovecraft, den ich allerdings nie so sehr mochte.

    Davor war neben Oderland ( im Zusammenhang mit vor dem Sturm) David Blackburns schier unglaubliches Werk, "die Eroberung der Natur, eine Geschichte der Deutschen Landschaft". Es ist mir ein Rätsel, wie ein in USA lehrender Brite ein solches Buch schreiben kann. Einige Dinge kenne ich aus persönlicher Anschauung und eigenem Erleben, z.B. Die Talsperren im Oberbergischen und im Sauerland und den Rhein im Abschnitt von Karlsruhe bis Mannheim. Er bringt (zutreffende) Details, die einen Staunen machen. Ja, und alles hängt mit allem zusammen;: Fontanes Oderland, vor dem Sturm und das Oderbruch zu dem Blackbourn Fontane zitiert. Grass und Böll und Christa Wolf kommen auch vor.

    Hallo Volker,


    auch schön, mal wieder von dir zu lesen. Dieses von dir oben angesprochene Werk steht bei mir auch noch rum. Ich habe es nur noch nicht gelesen, weil ich so etwas Ähnliches (wie ich dachte) schon mal gelesen habe, nämlich "Die Geschichte der Landschaft in Mitteleuropa" von Hansjörg Küster, den ich mal auf einem Geografentag kennen gelernt hatte. Das Buch hat mir damals auch schon die Augen für die Strukturen der Kulturlandschaft weit geöffnet.