Beiträge von finsbury

    Ich stelle mir vor, dass Goethe wohl auch unzählige Male aufgefordert wurde, in diese schrecklichen Freunde- und Festbücher zu schreiben, und da hat er sicherlich nicht immer die goldenen Windungen seines Hirns bemüht. Das wird ein reichlicher Abbauschatz für schlechte Gedichte, nicht nur von Goethe, sein. Ich verweigere immer den Eintrag in diese Banalitätensammlungen, wenn schon ein Goethe daran scheitert, wie ist es dann mit Otto Normalverbraucher?

    Wie schön, dass du auch gerade dabei bist, Bladwijzer. Bin inzwischen schon ein bisschen weiter, und man erkennt im zweiten Teil gut, dass Le Tellier studierter Mathematiker ist. Aber da die Mathematiker des Romans ihre Theorien dem amerikanischen Präsidenten, der dem letzten nachgebildet ist, erklären müssen, können wir Leser das auch sehr gut verstehen. Es geht letzten Endes wohl auch nicht so sehr darum, wie es zu dieser Anomalie gekommen ist, sondern ich nehme an, darum, wie es ist, wenn zwei absolut gleiche Menschen mit drei Monaten unterschiedlichem Lebensinhalt aufeinandertreffen und dies in mehreren Varianten. Eine wirklich ausgefallene Erzählidee! Bisher gefällt mir der Roman recht gut bis auf die eine Geschichte um den verquält verliebten Architekten und seine zurückweisende Geliebte. Das geht wieder in die Richtung dessen, was mich an großen Teilen der französischen Literatur ärgert, so ein merkwürdiges Frauenbild, das diese auf ein Podest stellt, damit aber zu unverständlich handelnden, kapriziösen Wundern macht, denen Mann nicht trauen kann und die nicht innerhalb logischer Verständlichkeiten reagieren.

    Hervé Le Tellier: Die Anomalie

    Eine hochgelobte, mit dem Prix Goncourt ausgezeichnete Mischung zwischen Thriller und Science Fiction mit einem sehr ausgefallenen Plot. Spannend ist es nach einem etwas verwirrenden Anfang. Aber was ich so ganz davon halten soll, weiß ich noch nicht.

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    Sehr interessante Anmerkungen zu Dostojevskij, Diaz Grey. Ich habe den Autoren in meiner Jugend und jungen Erwachsenenzeit sehr geliebt, vor einigen Jahren nochmal die "Dämonen" gelesen und weiterhin für sehr eindrucksvoll befunden, auch aus den Gründen der historischen Authentizität, die du oben so gut beschreibst. Sollte ich später noch einmal einen anderen Roman wiederlesen, werde ich auf deine Anmerkungen achten.

    Zumindest die Detailverliebtheit, die zum Teil zu Lasten des straffen Erzählaufbaus geht, teilt Dostojevskij mit der zweifachen Bookerpreisträgerin Hilary Mantel, deren letzten Band der Thomas Cromwell-Trilogie "Spiegel und Licht" ich jetzt endlich zu Ende gelesen habe. Trotz der kleinen Kritik ein eindrucksvolles Werk, das zwar nicht so authentisch sein kann wie ein zeitgenössisches Werk, aber dennoch die Zeit Heinrichs des Achten und ihrer Menschen ein bisschen zu uns zurückholt und viele Parallelen zum überzeitlichen politischen Handeln aufzeigt.

    Mir war, als ich die Liste aufstellte, schon von vornherein klar, dass ich nicht alles schaffe. Immerhin waren mit Gormenghast und dem Asturias zwei Trilogien von erheblichem Umfang dabei. Und ich bin in immer mehr Leserunden mit Neuerscheinungen, die ich nicht missen möchte. Die Leseliste ist für mich mehr eine Art Gedächtnisstütze, was in der nächsten Zeit anstehen soll. Wenn ich mich da allein aufs Lustlesen verlasse, greife ich immer nach dem nächsten Buch mit witzigem Einband und spannendem Klappentext.

    Du hast Recht, die Liste sitzt einem schon im Nacken, und man kommt auf sie zurück. Nur passt sie manches Jahr besser zu den Vorlieben, die sich aktuell entwickeln und ein anderes Jahr weniger gut. Mit Lustleser meine ich auch nicht, dass man immer nur nach schönen Einbänden oder spannenden Plots Ausschau hält, sondern dass man Lesen als Hobby hat und nicht darauf angewiesen ist, damit Geld zu verdienen. Das Hobby inkludiert natürlich auch, dass man sich Ziele setzt und oft Bücher auswählt , die einem mehr als Unterhaltung und Entspannung geben, sonst würden wir uns ja nicht hier treffen.

    Mich hat meine historische Romane - Liste dieses Mal dazu verführt, dass ich sehr lange im Mittelalter hängen geblieben bin und vieles von dem, was ich zu dem Thema vorrätig hatte, dann gelesen habe, weil dadurch mehr Aspekte beleuchtet werden. Wenn ich dieses Jahr noch mit der frühen Neuzeit / Renaissance /Restauration /Reformation weiterkomme, bin ich völlig zufrieden.

    Irgendwie bin ich heuer gar nicht zum Lesen gekommen, ich nehme alle Bücher in den Bewerb für nächstes Jahr mit. Irgendwie herrscht bei mir jedes Jahr Chaos :rolleyes:

    Und ich dachte, ich schaffe ganz viel, weil ich Anfang des Jahres wegen einer OP zwei Monate nicht arbeiten musste, aber es ist dann doch nicht so gewesen bzw. ich habe alles mögliche Andere gelesen, auch viel Unterhaltungsliteratur und bin hier fast gar nicht weitergekommen. Aber das macht doch nichts, ich mache es genauso wie du.
    Oft ist es auch so, dass man in dem Moment, wo man seine Listen für das nächste Lesejahr macht, ganz andere Interessen hat, als sie sich dann im Laufe des Jahres entwickeln. Dann ist das eben so. Wir sind ja Lust-Leser und keine Berufsleser, jedenfalls denke ich, dass das für einen Großteil hier gilt, auch wenn viele von uns auch beruflich mit Büchern zu tun haben.


    Zefira, ja die Szene mit den Ohren zeigt die prägnante Erzählkunst, mit einem scheinbar lächerlichen Detail viel zu sagen.

    Und ich befinde mich im Tudor-England mit dem dritten Band von Hilary Mantels Trilogie, "Spiegel und Licht". In keiner Weise vergleichbar mit den ganzen anderen historischen Romanen. In langen Gesprächen , Reflexionen und Rückblicken rollen sich die Charaktere mit ihren historischen aber auch allgemein menschlichen Bedingtheiten auf. Großartige Schriftstellerin!

    Anna Karenina war nicht mein Lieblings-Tolstoi, deshalb bin ich bisher nicht auf ein Reread gekommen.

    Bin gespannt auf weitere Leseeindrücke, Zefira.


    Ich glaube, dass ich so gut wie nichts von der Liste schaffen werde, weil ich mich anhand der Teilbände der "Ahnen" durch die Epochen hangele und dabei soviel anderen Lesestoff finde, dass ich im Moment im 16. Jahrhundert verweile und das wohl noch eine ganze Weile. Dann schreibe ich den Rest eben auf 2022 um.

    Walter von der Vogelweide lebte von ca.1180 bis mindestens 1227. Über seine Biografie gibt es nur eine zeitgenössische Quelle, die Gabe von einigem Geld zum Kauf eines Wintermantels durch einen österreichischen Bischof.
    Ansonsten wissen wir aber viel über Walter, weil er, recht uncharakteristisch für einen hochmittelaterlichen Dichter, in seinen Dichtungen sehr viel über sich und seine Meinung preisgibt.
    Aufgrund von sprachlichen Untersuchungen und seinem frühen Engagement beim Herzog von Österreich geht man davon aus, dass Walter aus dem Österreichischen stammt.
    Er war wohl nicht von Adel, aber auch kein einfacher Schausteller oder Musiker, der von Hof zu Hof zog. Von diesen grenzt er sich durchaus mit "Standesdünkel" ab. Sein Lehrmeister war Reinmar, der "Alte" oder "von Hagenau" am österreichischen Hof, mit dem er sich später aber eine heftige Fehde lieferte, um ihn dann nach seinem Tod dennoch ehrlich zu betrauern.

    Walter lässt uns an den Schwierigkeiten seiner Abhängigkeit von adeligen Förderern immer wieder teilnehmen. Er nimmt kein Blatt vor den Mund, wenn er von seinen Gönnern etwas für sich, aber auch allgemein in Bezug auf ihre politischen Entscheidungen fordert. Seine Spruchdichtung wirkt dadurch sehr aktuell und politisch. Wenn ihm ein Gönner nicht mehr genug bietet, wechselt er auch gerne mal zu einem anderen über und singt über diesen Spott- statt Preislieder. So wechselt er vom österreichischen Herzog, nachdem der Vater gestorben ist, zum Stauferkönig Philipp II, später dann zu dessen erbittertem Gegner, dem Welfenkönig Otto IV, darauf zum jungen Stauferkaiser Friedrich II und auch zu einigen kleineren Adelsherren wie dem Grafen Hermann von Thüringen. Von Kaiser Friedrich erhält er dann auch gegen Ende seines Lebens ein Lehen, wenn wir auch nicht wissen, in welcher Form, ob als Landbesitz oder festes Gehalt.
    Die Wissenschaftler vermuten mehrheitlich, dass dieses Lehen mit der Umgebung von Würzburg verbunden ist.
    Seine Abneigung und daher heftigen Angriffe richten sich immer wieder gegen die Päpste dieser Zeit und die egoistischen und ausbeutenden Entscheidungen des Klerus sowie die Einwirkungen des Papstes auf seine Könige und Päpste, die allesamt je nach politischem Kalkül des amtierenden Papstes aus der Kirche ausgeschlossen wurden.
    Neben seiner politischen Dichtung ist er besonders bekannt für seine Minnelyrik, die sich über die zu seiner Zeit bereits schon erstarrte "Hohe Minne" hinwegsetzt und dieses künstliche Konstrukt des Dienstes eines RItters für eine hohe adelige Dame durch eine sehr modern anmutende Ich-Du-Beziehung ersetzt. In seinen "Mädchenliedern" feiert er eine solche natürliche Liebe.
    Sein Alterswerk ist von Selbstzweifeln und tiefen Einsichten durchzogen und enthält auch für uns Heutige immer noch Wertvolles.


    Ich habe mich in letzter Zeit mit den Liedern und Sprüchen Walters beschäftigt, aber auch Sekundärliteratur und historische Romane gelesen, in denen Walter eine Rolle spielt.
    Während meines Germanistikstudiums war ich eher im Spätmittelalter unterwegs und so war mir dieser faszinierende Dichter bis auf seine bekanntesten Werke noch eher unbekannt. Er war sicherlich nicht ein tadelloses Vorbild und wirkt in seinen Texten oft egoistisch und wankelmütig, dann aber auch ergreifend betroffen und tief einsichtig in menschliches Handeln. Gerade deshalb hat er auch uns modernen Menschen, die wir ja noch viel mehr vom Tagesgeschäft bestimmt sind, immer noch viel zu sagen.

    Empfehlen kann ich die Fischer-Ausgabe seiner Gedichte im Original sowie mit einer nachvollziehenden, nicht dichterischen Übertragung von Peter Wapnewski. Uwe Rump hat eine interessante Rowohlt-Mongrafie über ihn geschrieben.
    In Tanja Kinkels unterhaltsamen historischen Roman "Das Spiel der Nachtigall" steht er im Mittelpunkt und erhält eine durchaus mögliche Charakterisierung, wenn auch das über die historischen Fakten, die gut recherchiert sind, hinausgehende Geschehen eher etwas abstrus ausfällt. In Tilman Röhrigs Friedrich II-Roman "Wie ein Lamm unter Löwen" kommt es auch immer wieder zu Auftritten weniger des DIchters, aber seiner Dichtungen.

    Naja. Wenn ich Ende des Jahres damit durch bin, will ich’s zufrieden sein – Lektüre ist ja kein Wettbewerb, wer am schnellsten lesen kann oder wer am meisten Bücher gelesen hat.

    Ich verdaddele auch meinen ganzen Jahresurlaub mit einem historischen Roman über Friedrich den Zweiten und wollte eigentlich noch so viel Anderes lesen ... . Aber du hast Recht, Leser müssen nicht an Leistungsschauen teilnehmen, sondern genießen.

    ich hab das gerade mal überflogen – wenn ich in dem Tempo weiterlese, werd’ ich wohl den Rest des Jahres damit beschäftigt sein. Hm. Eine Entscheidung, für etwas ist halt auch immer eine gegen etwas anderes …

    Ich habe für die verlorene Zeit drei Jahre gebraucht, da bist du richtig gut. Aber ich brauchte damals auch viele Bücher als Erholung dazwischen, vor allem bei den Bänden mit Albertine im Mittelpunkt. Die ersten drei Bände fand auch ich teilweise sehr witzig und gut zu lesen.

    Nach lämgerer Pause, bedingt durch saisonale Arbeitsspitzen, bin ich wieder bei den "Ahnen" gelandet und habe den dritten Band - nach Zählung der Einzelerstveröffentlichungen - "Die Brüder vom Deutschen Haus" gelesen.

    Darin geht es um einen der letzten reichsfreien Adeligen Thüringens, der sich unter Friedrich II. in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts gegen die Übernahme seines Eigentums durch mächtige Territorialfürsten wehrt, später an einem Kreuzzug und dann, als er sein Anwesen schließlich doch verliert, an der Landnahme des Deutschen Ordens im Osten teilnimmt, einer Bruderschaft, die der Autor sehr positiv darstellt. Ich bin nicht fit in der Geschichte der deutschen Ostkolonisation, glaube aber nicht so recht, dass diese "Brüder vom Deutschen Hause" wirklich soviel besser waren als die Templer und Johanniter... . Auch
    hier wirkt der Professorenroman aus dem 19. Jahrhundert ein wenig heimat- und deutschtümelnd . Aber die Menschen anderen Glaubens, denen die Hauptperson Ivo beim Kreuzzug begegnet und deren Gegner, die Kreuzzugsteilnehmer, werden differenziert beschrieben und auch die Greueltaten und die egoistischen Motive vieler Kreuzzugsteilnnehmer werden nicht verschwiegen: Kann man also auch heute noch gut lesen und ist darüber hinaus auch noch spannend. Nebenher spielt im ersten Teil des Romans auch die Zeit der Minnesänger eine Rolle: Ivo besingt eine hochrangige Adelige, eine Cousine des Kaisers Friedrich, heiratet aber später die Tochter eines freien Bauern.

    Mit diesem Roman steigt die Dynastie auch aus dem Adel aus. Wir erfahren am Ende noch, dass der tapfere Kämpfer und Ostsiedler Ivo von seinen Nachbarn und Bewunderern "König" genannt wird, ein Ehrentitel und zugleich eine Reminiszenz des Autors an Ivos Vorfahren des ersten Bandes, den vandalischen Königssohn Ingo. Im vierten Band geht es dann mit dem bürgerlichen "Markus König" weiter.

    Mir haben die ersten und letzten Bände gut gefallen. Echt genervt haben mich die Bände "Die Gefangene" und "Die Entflohene", weil da der Ich-Erzähler meiner Erinnerung nach hunderte von Seiten im Selbstmitleid schwimmt.