Herzlichen Dank, Leibgeber! Der Link reicht mir. Dann brauche ich den Ausdruck nicht zu bestellen.
Beiträge von finsbury
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Das ist ein sehr interessanter Hinweis, Leibgeber. Ich bin nur nach der Abbildung des Buchumschlags nicht sicher, ob der Band in lateinischer Schrift geschrieben ist. Falls du dir den Band bestellt hast, kannst du ja mal kurz dazu was schreiben, mit lateinischer Schrift würde ich ihn auch bestellen.
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Da John Galsworthy bald 100 Jahre tot ist, mindestens in seinem Land nach wie vor gelesen und verfilmt wird und 1932 den Literaturnobelpreis bekommen hat, gönne ich ihm mal einen Platz in der klassischen Literatur und stelle hier einen seiner frühen Romane vor:
John Galsworthy: Das Landhaus (The Country House, 1907)
John Galsworthy (1867-1933) ist vor allem für seinen mehrfach verfilmten umfangreichen Roman „Die Forsyte Saga“ mit zwei Folgebänden bekannt. Der hier vorgestellte Roman gehört nicht zu der Forsyte-Welt und beschäftigt sich mit der untergehenden Welt des Landadels und dessen starrsinnigem Beharren auf Konventionen.
Zum Inhalt und zur Form
George Pendyce, dessen Vater ein Landhaus mit den dazugehörigen Ländereien im weiteren Umland von London besitzt, verliebt sich in eine verheiratete Frau, deren Mann Gutsnachbar der Familie Pendyce ist und die aber getrennt von ihm lebt. Der Ehemann beantragt die Scheidung aufgrund von Untreue und klagt George Pendyce als Mitschuldigen an. Der Vater Horace Pendyce, dessen Familie seit Generationen im Besitz des Landgutes ist und der ohne Einschränkungen an seine gesellschaftliche Stellung und die damit verbundenen Werte glaubt, ist empört und verlangt von seinem Sohn, dass dieser – auch um dem Ansehen der Frau nicht zu schaden, aber vor allem, um keinen Skandal zu provozieren - seine Mitschuld abstreitet. Dieser aber, sehr verliebt und genauso starrsinnig wie sein Vater – der Rechtsanwalt der Familie bezeichnet das als „Penderismus“ – will zu seinem Verhältnis stehen und die Frau nach der Scheidung heiraten. Der Vater ist wütend und will seinen Sohn bis auf den Fideikommiss-Teil – das Landgut selbst – enterben. Seine Frau und Georges Mutter, die an der Seite ihres Mannes ein unerfülltes und fremdbestimmtes Leben führt, wehrt sich zum ersten Mal gegen ihren Mann und reist nach London, um George beizustehen. Als sie die Geliebte aufsucht, wird deutlich, dass diese George fallen gelassen hat und kein Interesse an seinem Beistand hat. Da der Vater Horace zu stolz ist, um vor dem Nachbarn, dem gehörnten Ehemann, für seinen Sohn die Mitschuld abzustreiten, erledigt das Marjorie, nachdem sie wieder zu Hause ist. Alles bleibt beim Alten und jede Chance auf Veränderung, insbesondere für die Frauen, ist dahin.
Galsworthy setzt sich – wie in seinen anderen Werken – für eine Modernisierung der gesellschaftlichen Werte und insbesondere für eine gleichberechtigtere Stellung der Frau ein und kritisiert die festgefahrenen Ansichten des Adels und der Landbevölkerung. Dies macht er auch an zahlreichen Nebenfiguren deutlich: Als positives Beispiel beschreibt er den karitativ tätigen Cousin von Marjorie und auch deren Engagement am Ende des Romans. Dagegen stehen der verknöcherte, selbstgerechte und dem Alkohol sehr zugeneigte Pfarrer sowie auch der gehörnte Ehemann, der der aufbrausenden Sportsman-Variante des Landadels angehört. George selbst bleibt blass und wird sich wohl am Ende in seine Rolle fügen. Bei der freisinnigen Geliebten bleibt Galsworthy allerdings auf Abstand; Er gesteht ihr zwar die Affaire zu, aber ihr promiskuitives Verhalten am Ende kritisiert er zwar nicht offen, beschreibt sie jedoch als unsympathisch.
Der Roman ist klassisch geschrieben mit chronologischer Handlung und nur einigen Perspektivwechseln zwischen den Hauptpersonen. Interessant ist, dass er die Handlungen der Hauptpersonen sich auch im Verhalten ihrer Haustiere, insbesondere des Spaniels von Horace Pentyce, spiegeln lässt, die sensibel auf die Stimmung ihrer Eigentümer reagieren und ihr eigenes Verhalten danach richten. Galsworthy verwendet in seinem Roman ungewöhnlich viele Adjektive, Vergleiche und Metaphern und übertreibt meiner Ansicht nach dabei öfters, so dass einige sprachliche Mittel schon ungewollt lächerlich wirken.
Fazit:
Der Roman kommt bei weitem nicht an Galsworthys opus magnus heran, aber er gibt sehr schön die Stimmung am Ende der viktorianischen Zeit in der höher stehenden ländlichen Gesellschaft wieder und ermöglicht einen amüsanten Einblick in das Scheidungsrecht jener Zeit, das im Prinzip von den scheidungswilligen Ehepartnern eine große Anstrengung an Heuchelei bedeutete, weil das erste Ziel immer die Rettung der Ehe war, auch wenn es für beide Ehepartner ein andauerndes Unglück bedeutete und fast nur die eheliche Untreue als Scheidungsgrund galt.Man kann übrigens diesen Roman über das Projekt Gutenberg, auch als Übersetzung, gemeinfrei beziehen.
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Den Galsworthy habe ich jetzt durch und kehre zu "Augie March" zurück. Das TB ist gestern an gekommen.
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Mein derzeitiger Roman "Die Abenteuer des Augie March" von Saul Bellow zwingt mich zu einer Pause. Die Ausgabe hat dreißig Seiten doppelt, dafür fehlen die 30 danach. Das hatte ich auch noch nie. Deshalb lese ich jetzt etwas für die Nuller Jahre meines Zwanzigstes-Jahrhundert-Vorhaben: John Galsworthy: Das Landhaus.
Ich habe in jungen Jahren mit Begeisterung die Forsyte-Saga und die Folgebände gelesen. Der Anfang macht Lust auf mehr: Eine schöne Satire der englischen Oberklasse, respektive des Landadels. -
Da muss auch jede/r den eigenen Weg finden - bei diesem Monumentalwerk. Ich bin ein systematischer Leser, deshalb komme ich bei schwierigen Texten am besten mit der Portionsaufteilung zurecht. Ich glaube nicht, dass viele den Musil am Stück gelesen haben, wenn überhaupt. Man braucht auch zwischendrin Erholung an anderen Texten.
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Vielen Dank für die interessanten Hinweise zu den philosophischen Hintergründen, Bladwijzer. Dass ich den Hinweis auf Hegel überlesen habe
. Ernst Mach und die österreichischen Phänomenologen sagen mir wenig bis nichts. Da sollte ich vielleicht mal nachschauen.
Ich mache auch Pause bis Juli, pengulina. Viel Spaß mit Reimann und Ginzburg! -
Ich habe mich verzählt und den Abschnitt 47 auch noch gelesen, aber den lese ich dann nächsten Monat nochmal.
Hier noch eine kurze Anmerkung zu Kapitel 46: Nachdem wir einer hochromantischen Szene meinten, weiter beiwohnen zu dürfen, erden uns Arnheim und Musil ganz schnell wieder. Die Unwägbarkeit des Aufeinandertreffens zweier nackter Seelen - veranlassen Arnheim zu einer gefühlsmäßigen Straffung und den Autoren zu einem Exkurs über die Zähmung der Seele durch Vernunft und Zivilisation, wieder mit perfekt formulierten und gleichzeitig sehr witzigen Sätzen:Ein solches Mittel, das die Seele zwar tötet, aber dann gleichsam in kleinen Konserven zum allgemeinen Gebrauch aufbewahrt, ist seit je ihre Verbindung mit der Vernunft, den Überzeugungen und dem praktischen Handeln gewesen, wie sie alle Moralen, Philosophien und Religionen erfolgreich durchgeführt haben. Weiß Gott, wie gesagt, was überhaupt eine Seele ist! Es kann gar kein Zweifel daran bestehen, daß der glühende Wunsch, nur auf sie zu hören, einen unermeßlichen Spielraum, eine wahre Anarchie übrig läßt, und man hat Beispiele dafür, daß sozusagen chemisch reine Seelen geradezu Verbrechen begehn. Sobald dagegen eine Seele Moral hat oder Religion, Philosophie, vertiefte bürgerliche Bildung und Ideale auf den Gebieten der Pflicht und des Schönen, ist ihr ein System von Vorschriften, Bedingungen und Durchführungsbestimmungen geschenkt, das sie auszufüllen hat, ehe sie daran denken darf, eine beachtenswerte Seele zu sein, und ihre Glut wird wie die eines Hochofens in schöne Sandrechtecke geleitet. Es bleiben dann im Grunde nur noch logische Fragen der Auslegung übrig, von der Art, ob eine Handlung unter dieses oder jenes Gebot fällt, und es hat die Seele die ruhige Übersichtlichkeit eines Feldes nach geschlagener Schlacht, wo die Toten still liegen und man sofort bemerken kann, wo ein Stückchen Leben sich noch erhebt oder stöhnt.
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Danke für den Tipp mit BBC 3. Ich höre auch sehr gerne klassische Musik, bin allerdings rein rezeptiv dabei, gehe aber gerne und oft in sinfonische Konzerte. Davor versuche ich immer, die auf dem Programm stehenden Werke vorher schon einmal in Ruhe zu hören, was mir nun, im Zustand der Freiheit, viel öfter gelingt als früher zu Zeiten der Fron.
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O je, ja es gibt schon große Probleme mit dem Hochwasser im Moment. Hier im Ruhrgebiet ist es diesmal ruhig geblieben. Wir hatten ja in dem Jahr mit der Ahr-Überflutung 2021 auch einiges in Hagen, aber auch in Dortmund und dem östlichen Ruhrgebiet. Hoffentlich bekommst du bald trockene Füße, Krylow, sowie Strom.
Ich werde heute die letzten beiden Kapitel vom hiesigen Abschnitt lesen und kommentieren. Ich bin nur so weit vorausgeeilt, weil ich Ende der Woche in Urlaub fahre und da den Musil nicht mitschleppe und wenig Zeit fürs Lesen und Internet haben werde. -
Man kann im Übrigen, trotz oder gerade wegen der Erlesenheit dieser Wortwogen, prima darüber einschlafen. Das jedenfalls ist mir nach einem bewegungs- und beschäftigungsreichen Vormittag heute Nachmittag mit dem MoE so ergangen, deshalb heute nur zwei kurze Kapitel, die wunderbare Satiren über Worthülsen enthalten.
Kapitel 44 zeigt uns den Schluss der denkwürdigen Gründungssitzung. Diotima ergreift wieder das Wort und beschwört die Größe der zugrundeliegenden Idee, die immer noch nicht geboren wurde, aber mindestens die Einheit und die verloren gegangene Seele der Menschheit wieder herstellen solle. Bei all den Worthülsen lässt Musil nur in einer kleinen Bemerkung, die er Ulrichs Gedanken in die Schuhe schiebt, seine wirkliche Meinung über das Geschwafel deutlich erkennen: Er nennt es Albernheiten, über denen sich Ulrich viel lieber mit Betrachtungen über das hübsche Hausmädchen Rachel ablenkt. Diese wiederum erfährt indessen eine Desillusionierung, denn die von ihr ersehnte Begegnung mit dem "Mohren" Arnheims lässt sie nur erkennen, dass dieser einfach eine freche verzogene Berliner Göre ist. Prima ist auch Musils Idee, Diotimas Geschwafel das Statement des Abgeordneten des Militärs, General Stumm von Bordwehr (über Musils Talent für sprechende Namen könnte man auch Bücher schreiben), gegenüberzustellen: Ohne die erhöhte finanzielle Versorgung der Armee sei die Machtfülle der gesuchten Idee nicht zu generieren. Anders als bei den Anmerkungen des kleinen Professors zu Beginn oder bei der Idee mit den Suppenanstalten fühlt sich hier niemand in den himmlischen Sphären höherer Ideen gestört, im Gegenteil, die Bemerkung des Generals erdet und rhythmisiert für die Anwesenden wieder das Gespräch. Das alles wird dann noch einmal gebrochen, indem Rachel und Soliman die Gespräche und Gestik der Mächtigen durch die Optik des Schlüsselloches beobachten.
Nun wird es in Kapitel 45 romantisch: Nach einer ebenfalls satirischen Exkursion über den Sinngehalt des Begriffes Seele treten sich die zwei einsamen gesellschaftlichen Berggipfel - Diotima und Arnheim - beide bisher ohne Liebeserfahrung - entflammt gegenüber. Da bebt selbst der Saum des arnheimischen Beinkleids! -
Danke für die tröstenden Worte, pengulina, aber ich hab's ja angeregt, da muss ich nun durch, und es macht mir auch Spaß.
Ach, man könnte schon über vieles diskutieren, z.B. Musils Frauenbild oder die Sache mit Moosbrugger, über die philosophischen Hintergründe usw., aber dazu bedarf es mehrerer. Ich mache daher gerne einen groben inhaltlichen Überblick, das hilft vielleicht später, sich zu orientieren und Aspekte zur Diskussion herauszupicken. Und mir hilft es auch, bei diesem gigantischen Werk den Kopf über den Wortwogen zu halten ;-). -
Die Parallelaktion wird konkreter!
In Kapitel 41 treffen wir bei Diotima zu Hause auf deren Hausmädchen Rachel, die letzten Schliff an das Konferenzzimmer legt, worin gleich die Gründungsversammlung stattfinden soll. Mit Rachel wird uns wieder ein Typus vorgestellt: Sie hat ein schweres Schicksal hinter sich, da sie aufgrund einer ungewollten Schwangerschaft aus ihrem jüdischen Elternhaus in Galizien verstoßen wurde und später - nach ihrer Flucht in die kaiserliche Hauptstadt - in Diotimas Haushalt Aufnahme fand. Sie verehrt nun ganz naiv ihre Arbeitgeberin und sonnt sich in deren Glanz, auch was die berühmten Besucher des Salons und nun der Versammlung angeht. So empfindet sie die Herablassung mit der Diotima sie behandelt, nicht als solche, sondern eher als Auszeichnung, etwas, das man heute kaum nachvollziehen kann.Wie die Kapitel 42 und 43 zeigen, hat sich Diotima über Leinsdorfs Ablehnung der Teilnahme Arnheims hinweggesetzt, und dieser stößt nun zu dem erlauchten Komitee mit Vertretern des Hochadels, der Verwaltung, Wissenschaft und Kultur. Leinsdorf fühlt sich zunächst brüskiert, wird aber durch Diotimas Überredung und ihre neue Idee, aus der österreichischen eine Österreich für die Welt- Aktion zu machen überrumpelt und akzeptiert nun die neue Konstellation. Das Kapitel 42 besticht wieder durch herrliche Seitenhiebe auf die Borniertheit der Versammelten. Als nach den einführenden Worten Leinsdorfs ein nur bürgerlicher, subalterner Professor seine Stimme erhebt, um sich seiner Treue und Begeisterung für die Monarchie zu entäußern und darauf hinzuweisen, dass er die Idee, mit dem Volk gemeinsam zu planen, voll unterstütze, schweigen alle pikiert, denn so etwas darf ein hoher Herr wohl sagen, aber keine einfache Seele. Auch die Erklärungen zu Österreich-Ungarn sind von geschliffener Ironie in einer Formulierung, die mathematische Bezüge zeigt:
Der Österreicher kam nur in Ungarn vor, und dort als Abneigung; daheim nannte er sich einen Staatsangehörigen der im Reichsrate vertretenen Königreiche und Länder der österreichisch-ungarischen Monarchie, was das gleiche bedeutet wie einen Österreicher mehr einem Ungarn weniger diesen Ungarn, und er tat das nicht etwa mit Begeisterung, sondern einer Idee zuliebe, die ihm zuwider war, denn er konnte die Ungarn ebenso wenig leiden wie die Ungarn ihn, wodurch der Zusammenhang noch verwickelter wurde (Kap. 42).Zum Ende des 43. Kapitels erfahren wir noch, dass Leinsdorf sich für Ulrichs Verwenden für Moosbrugger interessiert und es unterstützt sowie von Ulrichs Ablehnung gegenüber Arnheim, den er als Typus nicht schätzt. Hieraus werden sich vielleicht noch interessante Konflikte ergeben.
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Und nun noch das zunächst noch hochgeistige, später komödiantische Kapitel 40:
Wir treffen Ulrich - wohl am Abend unterwegs zu Walter und Clarisse - auf der Straße an. Diesen Gang nutzt der Autor zu einem Erzählerkommentar, in dem er die dennoch bestehenden Eigenschaften des eigenschaftslosen Mannes Ulrich beschreibt. Dieser sei geistig und seelisch beweglich, von einer gewissen Angriffslust, die ihn dazu neigen lasse, gesellschaftlich akzeptierte Umstände und Regeln zu negieren. Dabei beachte er dennoch die Regeln des bürgerlichen Anstandes. Wir springen jetzt wieder über in Ulrichs Geist, der sich überlegt, was eigentlich der Geist ist und auch hier wieder erkennt, dass so etwas nicht festlegbar ist, sondern der Begriff immer im Sinne dessen gedeutet wird, der ihn benutzt. Ulrich fühlt sich kurz darauf wieder ähnlich wie damals auf der Insel, als er seine große Liebe verarbeitete (Kap. 32), losgelöst von allem ("Der Boden strömte unter seinen Füßen.").Just in diesem Augenblick wird er Zeuge, wie ein betrunkener Arbeiter zwei Bürger, die sich gerade positiv über die geplante Parallelaktion austauschen, beleidigt. Gegenüber den herbeieilenden Polizisten setzt er sich - ganz im Sinne der oben beschriebenen Angriffslust - für den Betrunkenen ein, was dazu führt, dass auch er verhaftet wird und auf der Wache landet. Dort beachtet man ihn zunächst nicht, doch als bei der Aufnahme der Personalien der Rang seines Vaters deutlich wird, schickt ihn der Diensthabenden zum Präsidium, damit die dort klären, ob es sich nun gerade deshalb um eine besonders gefährliche politische Tat handele oder ob Ulrich durch seinen Rang vor weiterer Verfolgung geschützt sei. Im Polizeipräsidium erkennt ihn ein Kommissar, der mitbekommen hatte, dass Graf Leinsdorf nach Ulrich suchte, und das Ganze löst sich in Wohlgefallen und der Ernennung Ulrichs zum Sekretär des Vorbereitungskomitees der Parallelaktion auf.
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Fast jeder Satz ist nicht nur gehaltvoll, sondern auch herrlich komponiert. Musils Prosa muss man sich auf der Zunge zergehen lassen, [...]
Ja, mehr als an der Oberfläche kratzen ist schwierig. Ich lese mal weiter.
Gerade die beiden Kapitel, die ich eben las, sind wieder Beispiele dafür. Wobei man auch sagen muss, dass Musil es liebt, einen kostbaren Teppich voll der erlesensten Satzmuster vor dem Leser auszubreiten, durch dessen dicken Flor man waten muss, um den Sinn dahinter zumindest oberflächlich zu entschlüsseln.
Kapitel 38 rollt solch einen musikalisch inspirierten Teppich vor einem aus. Als ein Bote von Ulrich zu Clarisse und Walter kommt, um seinen Besuch anzukündigen, sitzen beide gerade am Klavier und musizieren gemeinsam. Dabei werden sie geradezu hinweggespült von den gemeinsam erzeugten Harmonien, erleben dies aber sehr unterschiedlich. Walter erhofft sich eine erneute emotionale Annäherung von Clarisse, auf deren geistige Beziehung zu Ulrich er eifersüchtig ist. Er will ihre Verbindung durch ein gemeinsames Kind festigen. Clarisse hingegen erlebt eine Phase der Zerrissenheit: Sie ist fasziniert von Moosbrugger, aber auch von Ulrich, eben von jenen, die ihr vorleben, was Ulrich in den letzten Kapiteln für sich erkannt hat und was auch für Clarisse - hier eher noch erlebt als erkannt - immer wichtiger wird: die Fremdbestimmtheit in einer Welt, die persönliches Erleben immer schwieriger macht.
Dies ist auch das Thema des Folgekapitels 39, in dem es wieder um die Eigenschaften geht, die gar nicht persönlich, sondern gesellschaftlich bedingt sind. Hier kommt jetzt noch ein Zug hinzu, der etwas mit der Art des Verarbeitens von Eindrücken zu tun hat. Wir erinnern uns an Kapitel 7, wo Ulrich von einigen lichtscheuen Gestalten zusammengeschlagen wird und dies erstaunlich gelassen, ja sogar sportlich nimmt. Diese Haltung wird hier untersucht: Von manchen Berufsgruppen erwartet man so eine innere Unbeteiligtheit, Kühle, z.B. von Chirurgen oder Soldaten. Insgesamt aber lehnt die Gesellschaft eine solche Haltung ab und setzt eher auf Emotionen und Empathie (letztere allerdings immer nur im zu jenem historischen Zeitpunkt sanktionierten Bereich). Und wieder verweist der Autor darauf, dass gerade die modernen Zeiten dazu führen, dass das authentische Erleben kaum mehr möglich ist, sondern dass es uns von unserer Umgebung, der Gesellschaft, den Medien, der Kunst usw. vorgeschrieben wird, was und wie wir etwas zu erleben haben. Dazu gibt es eine lange Stelle, die ich mir schon für den Übertrag in mein Zitatebuch gekennzeichnet habe, weil sie, wie so vieles in diesem Roman, überzeitlich ist und uns gerade heute wieder besonders betrifft:Man ist früher mit besserem Gewissen Person gewesen als heute. Die Menschen glichen den Halmen im Getreide; sie wurden von Gott, Hagel, Feuersbrunst, Pestilenz und Krieg wahrscheinlich heftiger hin und her bewegt als jetzt, aber im ganzen, stadtweise, landstrichweise, als Feld, und was für den einzelnen Halm außerdem noch an persönlicher Bewegung übrig blieb, das ließ sich verantworten und war eine klar abgegrenzte Sache. Heute dagegen hat die Verantwortung ihren Schwerpunkt nicht im Menschen, sondern in den Sachzusammenhängen. Hat man nicht bemerkt, daß sich die Erlebnisse vom Menschen unabhängig gemacht haben? Sie sind aufs Theater gegangen; in die Bücher, in die Berichte der Forschungsstätten und Forschungsreisen, in die Gesinnungs- und Religionsgemeinschaften, die bestimmte Arten des Erlebens auf Kosten der anderen ausbilden wie in einem sozialen Experimentalversuch, und sofern die Erlebnisse sich nicht gerade in der Arbeit befinden, liegen sie einfach in der Luft; wer kann da heute noch sagen, daß sein Zorn wirklich sein Zorn sei, wo ihm so viele Leute dreinreden und es besser verstehen als er?! Es ist eine Welt von Eigenschaften ohne Mann entstanden, von Erlebnissen ohne den, der sie erlebt, und es sieht beinahe aus, als ob im Idealfall der Mensch überhaupt nichts mehr privat erleben werde und die freundliche Schwere der persönlichen Verantwortung sich in ein Formelsystem von möglichen Bedeutungen auflösen solle. Wahrscheinlich ist die Auflösung des anthropozentrischen Verhaltens, das den Menschen so lange Zeit für den Mittelpunkt des Weltalls gehalten hat, aber nun schon seit Jahrhunderten im Schwinden ist, endlich beim Ich selbst angelangt; denn der Glaube, am Erleben sei das wichtigste, daß man es erlebe, und am Tun, daß man es tue, fängt an, den meisten Menschen als eine Naivität zu erscheinen.
Bei uns gibt es ja wieder so eine Gegenbewegung dazu, wenn die Leute zu Fuß um die Welt gehen oder sich auf Bauernhöfe mit Hühnerhaltung zurückziehen. Man fragt sich, ob man sich dadurch wirklich selbst finden kann oder es sich um Fluchtwelten handelt. Aber was wollen wir daran rechten, da wir doch meistenteils auch Menschen ohne echte Eigenschaften sind
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Nun kommen drei weniger zentrale Kapitel, die die Kenntnisnahme der Parallelaktion in der Öffentlichkeit zum Inhalt haben und dadurch Musil wieder viele Möglichkeiten für ganz köstliche Personen- und Ständecharakterisierungen bieten.
Direktor Leo Fischel, ein Bänker im Rang eines Prokuristen., begegnet Ulrich in Kapitel 35 auf der Straße, gerade nachdem der erstere festgestellt hat, dass er den Brief des Grafen Leinsdorf, worin dieser ihn zur Teilnahme am Planungskomitee bezüglich der Parallelaktion auffordert, längere Zeit übersehen hat. Auf seine Frage an Ulrich, was das überhaupt sein solle, antwortet ihm dieser -den Kopf noch voll von seinen Erkenntnissen über die "Eigenschaften" - dieses Komitee sei ein typisches Beispiel für den Satz vom unzureichenden Grunde, frei nach Leibniz /Schopenhauer und anderen, d.h. wäre in hohem Maße sinnfrei.Anscheinend sieht die restliche gehobene, höhere, ja selbst die breite Masse das aber anders, wie die beiden folgenden Kapitel 36 und 37 darlegen, denn die Idee des Grafen wird von Honoratioren mit Ernst verfolgt und sie wollen sich schon aus Standesdünkel daran beteiligen. Nachdem ein Journalist Wind von der Angelegenheit bekommen hat und die ganze Angelegenheit gleich zu einem österreichischen Jahr aufbauscht, kommt auch die Masse, die Basis der Gesellschaft, auf den Geschmack und rennt Graf Leinsdorf sein Schloss ein, um alle die Ideen für dieses besondere Jahr zu präsentieren. Nun schlägt die Stunde Ulrichs, den Leinsdorf unbedingt zu benötigen meint, damit dieser aus der Menge der unterschiedlichsten Ideen die Spreu vom Weizen sondere.
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Jedenfalls war dieser Roman wohl der Anlass für den Nobelpreis. So, wie du den Inhalt beschreibst, ist es kein Wunder, dass ich nichts davon behalten habe
. Vielleicht sollte ich ihn auch nochmal lesen. Scheint ja keine sehr anspruchsvolle Lektüre zu sein ... .
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Langsam schält sich heraus, was mit den "Eigenschaften" gemeint ist, die Ulrich nicht haben will. Davor wird man aber extra noch mit einer Menge Fin-de-Siècle-Geschwurbel konfrontiert, von dem ich zunächst nicht wusste, was ich davon halten sollte.
Wir sind auch in den nächsten Kapiteln immer noch bei Ulrich, der Bonadea zu Besuch hat.
In Kapitel 32 erinnert sich Ulrich weiter an Moosbrugger und überlegt, was ihn so an diesem Menschen fesselt. Wie ich es verstanden habe, ist es das, dass Moosbrugger mit seinen Motivationen und Taten nicht den gesellschaftlichen Konventionen folgt und auch kein echtes Schuldgefühl zeigt. Das bringt Ulrich auf die Frage, inwieweit unsere Moralbegriffe überhaupt echt sind, und nun setzen die verschwurbelten Gedanken ein, die aber dazu dienen, den Leser wie Ulrich selbst in die immer größere Klärung zu führen. Warum auch immer - ich habe es nicht durchschaut - führen Ulrichs Überlegungen von Moosbrugger zu seiner ersten großen Liebe - die deutlich ältere Frau eines Majors - vielleicht, weil er auch da nicht durchschaut hat, was ihn eigentlich an ihr fesselte, so wie das jetzt bei Moosbrugger ist. Es treibt ihn von ihr weg zum Rand des Kontinents auf eine Insel, um seine Gefühle zu durchschauen. Hier beruhigt er sich erstmal und erfährt die Natur als das große Undifferenzierte, nichts Wollende, das auch seinen Geist und seine Seele auf ein Basisniveau, befreit von allem gesellschaftlichen Ballast, zurücksetzt. Er löst die Verbindung zu der Geliebten mit einem Brief.
Was sich dann fortsetzt in Kapitel 33, wo Bonadea, gekränkt ist durch die Achtlosigkeit, mit der Ulrich ihre reizvolle Drapierung weiter nicht beachtet und ihre persönliche Betroffenheit aufgrund des Kommentars in Kapitel 31 nicht erkennt /erkennen will und auf ein allgemeines Problem zurückführt, das mit der seelischen Unordnung des Menschen zu tun hat. Bonadea verlässt ihn daraufhin.Und nun kommt das wohl zentrale Kapitel 34, das sowohl Ulrich als auch dem Leser das Licht der Erkenntnis bringt: Alles das, von dem wir glauben, es seien unsere ureigensten Eigenschaften, sind nur Prägungen von außen, die aufgrund von Geschehnissen auf unserem Lebensweg, auf die wir kaum Einfluss haben, unsere Persönlichkeit gestalten. Sowohl gesellschaftliche Konventionen als auch individuelle Ereignisse wie Todesfälle, Erbschaften, ad hoc getroffene (Aus-)bildungsentscheidungen und der Zufall des Angebots von Arbeitsplätzen usw. machen uns zu dem, was wir sind. Und deshalb fühlen wir oder einige von uns oft eine Distanz zu allgemeinen Ansichten, ja manchmal zu dem, was wir selber denken, ja distanzieren uns von unserem gesellschaftlichen Ich. Insbesondere tut dies aber die Jugend, die sich gegen die Prägung wehrt und deshalb zu so heftigen Reaktionen und Übertreibungen neigt, weil sie sich nicht automatisieren lassen will. Irgendwann findet die Eingliederung aber eben doch statt. Genau diese Prägung will Ulrich wohl wieder ablegen und sich sozusagen auf die Grundeinstellungen zurücksetzen.
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Und nun weiter, beginnend mit einem schwierigen Kapitel über Gedanken:
In Kapitel 28 unterscheidet Musil zwischen dem Gedanken und dem Gedachten, der Gedanke ist etwas Intimes, Ungeordnetes, während das Gedachte das fertige, für die Außenwelt bestimmte Produkt des Denkens ist. Ulrich schult sich an einem mathematischen Problem, das er auf der Grundlage einer Annahme über Wasser durchrechnen will. Dabei gerät er vom Hölzchen aufs Stöckchen und betrachtet das gesellschaftliche Phänomen, dass einerseits die Gedanken helfen, den Filz unserer Gefühle zu lösen und zu ordnen, andererseits aber Gedanken jederzeit weichen müssen, wenn die viel interessanteren gefühlsbedingten Meinungen zum Tragen kommen.
In diesen Gedanken unterbricht ihn in Kapitel 29 seine neue Geliebte Bonadea - die Dame aus der Kutsche -, die ihn aufsucht, nachdem er ihr lange nicht das verabredete Zeichen für seine Erreichbarkeit gegeben hat. Ulrich würde gerne seine Gedanken weiterverfolgen und kränkt Bonadea durch seine Zerstreutheit. Nach dem körperlichen Vollzug wird diese Unterbrechung zum Gegenstand seiner Reflexion, inwieweit diese Selbstentäußerung in der Sexualität, aber auch in anderen gefühlsbeladenen Situationen als ein Bewusstseinszustand erscheint, der das eigentliche Denken immer wieder unterbricht, wobei ihm auch die Eifersuchtsanfälle seines Jugendfreundes Walter einfallen.
Bonadea ist in Kapitel 30 und 31 immer noch da, wieder gekränkt durch Ulrichs geistige Abwesenheit, obwohl sie sich ihm erneut in aufreizender Halbangezogenheit präsentiert. Nun fällt ihm ein, was er im Moosbrugger-Prozess beobachtet und gelesen hat, und er erlebt dies wieder nach, auch die ganze Widersprüchlichkeit in den Aussagen Moosbruggers. Er fragt Bonadea danach, ob sie auf der Seite Moosbruggers oder der Justiz stehe. Sie lehnt das Todesurteil ab, aber nicht von Überlegung, sondern vom Affekt bestimmt. Dies wiederum bezieht Ulrich auf ihre Situation als Ehebrecherin (nicht seine als Ehebrecher!), die damit für den betrogenen Ehemann, gegen sich selbst stimme. Das habe ich nicht verstanden, denn eigentlich würde sie doch - wenn man das parallel zu ihrer Meinung über Moosbruggers Verurteilung sieht - sich selbst als Opfer sehen, wenn man sie für den Ehebruch bestrafen würde.Ich habe oft das Gefühl, dass ich nur an der äußersten Oberfläche dieses Romans kratze: Wie ihr schon schriebt, in jedem einzelnen Satz steckt soviel, dass man darüber einen ganzen langen Post schreiben könnte. Ich versuche, mich durch diese Mini-Inhaltsangaben einfach ein bisschen inhaltlich in dem Wust zu orientieren, ohne mir jegliches tieferes Verständnis anmaßen zu wollen. Durchschaut ihr das alles oder geht es euch ähnlich?
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Die Kapitel 24-27 habe ich heute gelesen.
In Kapitel 24 erfahren wir Genaueres über den Grafen Leinsdorf und seine Ansichten, die einerseits auf seinem katholischen, mit Standesdünkel verknüpften Glauben beruhen, andererseits auf einem pragmatischen Umgang mit den neuen Wirtschaftsformen und den damit verbundenen modernen kaufmännischen Handlungsweisen, der oft nicht den überkommenen Glaubensprinzipien entspricht. Dennoch kann er all dies für sich in Idealen zusammenbringen und diese kulturelle Syntheseleistung spiegelt sich nun wieder in Diotimas -also Frau Sektionschefin Tuzzis - Salon, in dem sich der alte Adel neben den neuen Geschäftsleuten und Industriellen sowie Vertreter der Wissenschaft und Kultur zusammenfinden.Dies hinwiederum schätzt ihr Gatte Tuzzi in ihren Augen und in Kapitel 25 nicht genug. Dieser kurze Abschnitt bringt uns einen Abriss ihrer Ehegeschichte. Wir erfahren, dass die körperliche Beziehung zwischen beiden genauso perfekt geregelt ist wie der ganze Sektionschef Tuzzi, der sein Leben in festen Gewohnheiten und Einstellungen zum Leben und den Menschen verbringt, durchdrungen von seiner eigenen Wichtigkeit. Diotimas Empfindsamkeit kann sie nicht in der Liebe für einen derart kühl-kontrollierten Mann ausleben und muss auch erkennen, dass ihre Sinnlichkeit in dieser Ehe keine Erfüllung findet. Das sublimiert sie, indem sie ihren Salon pflegt und sich in seinem Erfolg sonnt, während ihr Mann ihn nur als eine für ihn allerdings zweckdienliche Spielerei begreift. Herrlich ist am Anfang dieses Kapitels der Seitenhieb auf die verschwurbelte Orientierungssuche in der industriellen Welt der Jahrhundertwende:
Es mag sein, daß einstmals etwas Ursprüngliches in Diotima gewesen war, eine ahnungsvolle Empfindsamkeit, damals eingerollt in das dünngebürstete Kleid ihrer Korrektheit, was sie jetzt Seele nannte und in der gebatikten Metaphysik Maeterlincks wiederfand, in Novalis, vor allem aber in der namenlosen Welle von Dünnromantik und Gottessehnsucht, die das Maschinenzeitalter als Äußerung des geistigen und künstlerischen Protestes gegen sich selbst eine Weile lang ausgespritzt hat.
Das ist ja heute auch nicht viel anders mit der Sinnsuche in der viel zu komplex gewordenen Welt, nur dass man sich heute in den Scheinwelten der Medien und des Internets entäußert oder den dortigen Gurus folgt.Im Kapitel 26 kehren wir zurück zu Dr. Arnheim und Diotimas Gefesseltheit von ihm, auch hier wieder gekonnte Seitenhiebe auf menschenverachtende, koloniale Machtentfaltung in Gestalt des "Mohren", der seinen "Herrn" überall hin begleitet und von Diotima als preziöses Spielzeug betrachtet wird.
Und nun endlich hat Diotima ihre große "Idee" im folgenden Kapitel 27, die Graf Leinsdorf von ihr hinsichtlich der Parallelaktion erwartet: Nicht etwa irgendwas Inhaltliches, sondern sie schiebt die Leitung der Planungsgruppe pikanterweise dem preußischen Arnheim zu und Ulrich darf in untergeordneter Stellung auch mitmachen.
Mit welcher alles durchdringenden Ironie dies alles erzählt wird! Bisher habe ich in diesem Roman noch keine Person kennen gelernt, die Musil ernst nimmt, sie alle dienen ihm als Vexierspiegel für das hohle Selbstbewusstsein der Mächtigen einerseits und andererseits all die preziösen Wege, die sich die Menschen der gehobenen Gesellschaft suchen, um ihrer Existenz Sinnhaftigkeit zu verleihen.
Hier noch mal eine perfekt formulierte Stelle aus dem 26. Kapitel - bezogen auf Diotima und Arnheim:
Ihr von vielerlei Rücksichten krummgeschlossenes Selbstbewußtsein desertierte ihm als Schwestergeist entgegen (...)