Die nächsten drei Kapitel sind deutlich einfacher und kürzer noch dazu.
Kapitel 63 bringt Bonadea zurück zu Ulrich. Sie möchte ihn - nach einigen Abenteuern mit anderen Männern, die sie aber eher abgestoßen haben - zurückgewinnen, weil sie glaubt, dass er ihrer Sinnlichkeit ein wenig Halt verleihen könnte. Außerdem ist sie auf Diotima eifersüchtig, da Ulrich aufgrund seines Amtes mit dieser viel Umgang hat und sie sehr würdig und hoheitsvoll auf Bonadea wirkt, also so etwas wie ihr Gegenteil darstellt, da Bonadea sich für ihre Unbeherrschtheit schämt. Ulrich lehnt ab, sie in Diotimas Salon einzuführen, da Bonadea dazu keine gesellschaftliche oder soziale Funktion vorzuweisen habe. Bonadea schiebt darauf Moosbrugger vor, für den sie sich bei Diotima verwenden will. Ulrich macht auch hier wieder deutlich, dass er sich nicht für diesen einsetzen will. Während Bonadea mit verschiedenen Methoden versucht, Ulrich durch ihre weiblichen Reize zu verführen, bleibt Ulrich abweisend und doziert über seine Weltsicht und den Umgang mit Schwerverbrechern.
Die "hohe Frau" Diotima (interessant der Rückgriff auf Topoi der hohen Minne des Mittelalters) erhält in Kapitel 64 Besuch von dem Abgeordneten des Kriegsministeriums General Stumm von Bordwehr (diese sprechenden Namen ), der sie als Mensch und als Vertreter des Krieges abstößt. Darüber spricht sie im folgenden Kapitel 65 mit Arnheim, der ihr rät, bald die große Kulturrunde zur Festlegung der zentralen Idee für die Parallelaktion einzuladen, um dem Militärischen den Boden zu entziehen und sich außerdem negativ über Ulrich äußert, dessen distanzierte und mokante Art ihm missfällt. Außerdem verrät er Diotima, dass sein Großvater den heutigen Weltkonzern durch den Aufbau einer Müllabfuhr aufgebaut hat, was Diotima zunächst degoutant, dann aber doch wieder faszinierend - wie alles an Arnheim - findet. Diesem fällt auf, dass er sich gegenüber Diotima mehr öffnet als gegenüber anderen Menschen.
Beiträge von finsbury
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Heute schreibe ich nur über das Kapitel 62, das ich sehr schwierig finde. Das mag daran liegen, dass ich selten philosophische Primärtexte lese, vielleicht aber auch daran, dass das Dargestellte selbst ziemlich verquast, vielleicht auch von Musil zumindest teilweise ironisch gemeint ist.
Es geht weiter um Ulrichs Lebenseinstellung und knüpft an Moosbrugger und die ihn begutachtenden Ärzte an. Da ihnen die Beurteilung seiner Persönlichkeitsstörung zu schwierig erscheint, überlassen sie den Juristen, mit seiner Schuldfähigkeit fertig zu werden. Dies vergleicht der Autor mit der Angewohnheit der Menschen, in den Dingen, die sie unmittelbar selbst betreffen, zu urteilen, aber das Nachdenken über die größeren Zusammenhänge lieber den (selbst) ernannten Spezialisten - hier sind wohl Politiker, Philosophen, Kunstschaffende aller Art und Theologen gemeint - zu überlassen. Außerdem könne man zwei Menschentypen unterscheiden, die Exakten, die die Details möglichst genau nehmen und die Weltversteher, die immer alles in einen großen Zusammenhang bringen wollen. Zwischen diesen Extremen pendele die Kulturgeschichte hin und her (??).
Vielleicht ist ja damit gemeint, dass auf eine eher rational betonte Epoche eine eher emotional betonte folgt - wie man es über Aufklärung und Sturm und Drang bzw. Klassik und Romantik sagt. In Zeiten der Industrialisierung, also zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts, herrschte durch die naturwissenschaftlich-technische Wissensexplosion bedingt zunächst so eine rational betonte Richtung, die aber zu der im Roman erzählten Zeit umso heftiger in eine verquaste Sinnsuche umschlug:
[...] das Wissen fing an, unzeitgemäß zu werden, der unscharfe Typus Mensch, der die Gegenwart beherrscht, hatte sich durchzusetzen begonnen.Ulrich, dessen junge Erwachsenenzeit in diese Phase fällt, setzt dem zunächst ein "hypothetisches Leben", später den "Essayismus" entgegen. Das erstere bedeutet anscheinend, dass man als junger Erwachsener noch die Welt offen vor sich hat und sich selbst darin ausprobiert, ohne sich festzulegen. Mit dem zweiten ist - so wie ich das verstanden habe - gemeint, dass Ulrich bewusst auf eine Gesamtansicht der Welt, ein philosophisches System verzichtet und lieber Maßstäbe - insbesondere moralische - an einem konkreten Fall durchdenkt, da er Moral und alles andere, was sich nicht exakt berechnen lässt, für relativ hält. Er möchte keineswegs einen Mittelweg gehen, den Systeme in der Regel anstreben, um auf breiterer Basis anwendbar zu sein. Das führt zu einer Ablehnung des Wahrheitsbegriffes, wie ihn Religionen aber auch Verfassungen für sich beanspruchen.
Sein Leben jedoch wird dadurch vor allem in den letzten Jahren von einer Unbestimmtheit geleitet und die Flucht in die exakten Wissenschaften hat ihm auch nicht bei der Bildung einer selbstbestimmten Persönlichkeit geholfen. Er steckt in seiner selbst definierten Rolle des "Mannes ohne Eigenschaften" fest und dümpelt im Alltagsgeschäft, das für ihn nun seine Beteiligung an der Parallelaktion ist, ohne innere Beteiligung dahin.
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Die folgenden Kapitel fand ich sehr schwierig zu lesen und zu verstehen, insbesondere das letzte.
Wir kehren in Kapitel 59 zu Moosbrugger zurück, der in sein neues Gefängnis geführt worden ist. Dort muss er einige unnötige Repressalien, wie Desinfektionen usw. über sich ergehen lassen, von denen er weiß, dass diese nicht gegen seinen Willen durchgeführt werden dürfen, aber die im Gefängnis tätigen Vertreter unterschiedlicher Institutionen scheren sich wenig um seine Beschwerden. Nun sitzt er in seiner neuen Zelle und ist eigentlich gar nicht so erzürnt über die Übergriffe, denn er sieht das auch als Kümmern an: Im Gefängnis oder einer Anstalt muss man sich um ihn kümmern, ihn kleiden und nähren, in der Freiheit ist er den anderen und erst recht dem Staat egal. Allerdings ist er das Leben in Anstalten auch satt und möchte daher gar nicht vor der Todesstrafe gerettet werden. Im Folgenden denkt er darüber nach, wie es dazu gekommen ist, dass er gegenüber Frauen die Fassung verliert und gewalttätig wird. Er erkennt, dass ihn bestimmte Situationen "triggern" - wie man heute sagen würde - immer wenn er von Frauen im geschlechtlichen Bereich Ablehnung erfährt oder ihn an ihnen irgend etwas reizt, sodass er dann die normale Vorstellung von der gegenüberstehenden Person verliert und nur noch das sieht und angreifen möchte, was den Reiz ausgelöst hat. Er versteht gar nicht, warum er dafür jedes Mal eingesperrt wird und durchschaut die Maschinerie des Rechts nicht. Dazu kommt, dass ihm das Sprechen schwer fällt, die Worte kleben ihm im Hals und wollen nicht heraus, was auch dazu führt, dass er sich nicht anders als mit Gewalt zu helfen weiß. Er hört Stimmen, findet das aber nicht unangenehm, sondern meist ganz unterhaltsam. Er glaubt, dass er nicht selbst denkt, sondern in ihm gedacht wird und hält es auch für unnötig, Begrifflichkeiten allzu genau zu fassen, weil hinter ihnen sowieso immer weitere Dinge oder Begriffe stehen. Vor allem aber hat er Hunger, weil er für seinen großen Körper in der Anstalt viel zu wenig zu essen bekommt.
Kapitel 60 nun hebt das, was mit Moosbrugger im Rechtssystem geschieht, auf eine allgemeinere Ebene: Das Recht hält an dem Grundsatz fest, dass ein Sachverhalt immer nur zwei Seiten haben kann, eine strafbare und eine nicht strafbare. Wenn ein Mensch also von den Medizinern bzw. Psychologen für unzurechnungsfähig erkannt wird, ist er nicht strafbar und muss in Anstalten behandelt bzw. aufbewahrt werden. Sind die Mediziner andererseits nicht sicher, ob nicht doch ein Kern von Vernunft oder logischem Handeln in der zu beurteilenden Person vorhanden ist, so wird diese Person als strafmündig behandelt, egal wie eingeschränkt diese Vernunft eingesetzt werden kann. In dieser Mühle befindet sich Moosbrugger, den die Gutachter mal so, mal so beurteilen.Am schwierigsten finde ich Kapitel 61. Wenn ich es richtig verstehe, knüpft es daran an, dass sich Ulrich zwar für Moosbrugger interessiert, aber nicht wirklich ein Interesse daran hat, ihn zu retten. Daraus wird abgeleitet, dass die Moral des Menschen sehr lax ist, wenn die Sache/Person, für die man sich einsetzen sollte, nicht in unmittelbarer Beziehung zu einem steht. Hieraus entwickelt der Autor die Vorstellung, dass die Ideale, die unsere Moral lenken, ja nur Utopien sind und wir sie daher gar nicht erreichen wollen und können. Auch die Menschen, die schöpferisch im naturwissenschaftlich-technischen Bereich tätig sind und innerhalb desselben sehr durchstrukturiert und zielorientiert handeln, sind dazu im Bereich der Moral nicht in der Lage, ja würden es ablehnen, wenn man diese mit den gleichen exakten Maßstäben misst. Diese Diskrepanz nimmt auch Ulrich wahr, fühlt sich aber ziemlich allein mit dieser Einsicht.
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Die Parallelaktion steht in den folgenden drei Kapiteln im Vordergrund und bietet Musil jede Menge Möglichkeiten, seine feine Ironie aufblitzen zu lassen.
Kapitel 56 schildert, dass die unterschiedlichen Ausschüsse zur Planung der Parallelaktion eine lebhafte Tätigkeit entfalten, die jedoch bei näherem Hinsehen nur in der Ablage - der Asservatenverwaltung - jeglicher Anregungen und der Information der vorgesetzten Ausschüsse darüber besteht. Dazu werden jedes Mal Aktenzeichen angelegt, so dass der Eindruck einer allumfassenden umfangreichen Tätigkeit entsteht. Da niemand weiß, wie sich die einzelnen Vorschläge mit der Idee eines pazifistischen "Weltösterreich"jahres, wie es Diotima angedacht hatte, vertragen, werden sie von Stelle zu Stelle geschoben.
Kapitel 57 thematisiert genau diese Schwierigkeit nochmal, wie große Ideen gerade durch ihre Ausschließlichkeit / ihren Idealismus ganz automatisch eine ebensolche Gegenidee hervorrufen und außerdem nie die praktischen Auswirkungen bedenken. Diotima wird dies auch immer wieder durch die Reaktionen und Kommentare ihres pragmatisch orientierten Gatten bewusst gemacht, auch wenn dieser sie nun ernster zu nehmen scheint als vor der Idee der "Parallelaktion".Dazu eine wunderbare Stelle bezüglich des Vorschlags einer internationalen Friedensaktion:
Er [Sektionschef Tuzzi] gab sogar auf der Stelle den Ratschlag, dass man, wenn ernstlich irgendwann die Anregung einer internationalen Friedensaktion auftauchen sollte, sofort dafür Sorge tragen müsste, dass nicht politische Verwicklungen aus ihr entstünden. Man brauche eine so schöne Idee keinesfalls abzulehnen, erklärte er seiner Gattin, selbst dann nicht, wenn die Möglichkeit bestehen sollte, sie zu verwirklichen, aber es sei unbedingt nötig, sich von Anfang an alle Durchführungs- und Rückzugsmöglichkeiten offenzuhalten.In Kapitel 58 begegnet Ulrich in seiner Funktion als Kommissionssekretär der Parallelaktion seinem Chef Graf Leinsdorf und will diesem Schriftmappen mit gesammelten und gesichteten Vorschlägen, einmal rückwärts und einmal vorwärts gerichtet, überreichen. Dabei überkommt den Grafen plötzlich entgegen seiner sonstigen geistigen Beschäftigung eine grundlegende Einsicht, nämlich dass die Menschheit nicht mehr freiwillig zurückkönne und es für sie aber auch kein erreichbares Ziel gebe. Die Aufschieberitis wird auch an dieser Stelle fortgesetzt.
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Im Kapitel 53 erfahren wir Neues über Moosbrugger. Er wird in ein anderes Gefängnis überführt und in diesem Zusammenhang wird wieder eine neue Facette seiner Lebenseinstellung deutlich. Da sein Leben eigentlich nie wirklich lebenswert war, sondern eher in kurzen Unterbrechungen seiner Gefängnisaufenthalte bestand - was er für sich mit der jetzigen Überführung vergleicht - ist ihm eigentlich auch seine drohenden Hinrichtung egal - denn kann das Hängen schlimmere Schmerzen verursachen, als er sie schon erlitten hat? Bedeutsam ist für ihn nur seine Ruhmsucht. Er möchte auch als Bösewicht etwas darstellen und bei den Leuten große Gefühle erregen.
Das nächste Kapitel 54 bringt endlich die Begegnung Ulrichs mit seinen Jugendfreunden Walter und Clarisse, die durch seine Verhaftung im Kapitel 40 vereitelt wurde. Hier wird wieder der Unterschied zwischen Ulrichs Pragmatismus gegenüber der Wissens- und Meinungsexplosion seiner Zeit deutlich und Walters Leiden daran, dass ihm der Sinnzusammenhang im modernen Leben fehle. Er beschuldigt Ulrich der typisch österreichischen Staatsphilosophie des Fortwurstelns, während Clarisse in Ulrich einen Seelenverwandten entdeckt, vielleicht weil er mit positiver Energie und ohne Klagen den komplexen Zeitläuften entgegenzutreten scheint. Walter erscheint seinem Freund gegenüber zunehmend feindlich gesinnt.
Kapitel 55 bringt wieder Arnheim durch seinen Pagen Soliman ins Zentrum. Arnheim hatte Soliman als Kind aus einer italienischen Zirkustruppe frei gekauft und zunächst immer in seiner unmittelbaren Nähe behalten und ihn verwöhnt. Irgendwann war ihm dann aufgefallen, dass Soliman langsam erwachsen wurde und er sich nicht an diese bevorzugte Behandlung gewöhnen sollte, so dass er auf die Umstände und Bezahlung eines gewöhnlichen Dieners zurückgestuft wurde. Diese Demütigung kann Soliman nicht verwinden und rächt sich nun an seinem Herrn, indem er ihn bestiehlt und Rachel, der Zofe Diotimas, die sich viel mit ihm beschäftigt, schlimme, oft unwahre Dinge über Arnheim erzählt. Als Diener dagegen verhält sich Soliman weiter vorbildlich, so dass Arnheim von diesem Feind an seiner Seite gar nichts ahnt. Für Rachel hingegen sind diese Geschichten Solimans neben dem ganzen Parallelaktionsbetrieb in Diotimas Salon ein Abenteuer, das sie in vollen Zügen genießt. -
Danke, Krylow. Nein, ich fühle mich von keinem von euch im Stich gelassen. Ich weiß ja, dass man für dieses Mammutwerk viel Ruhe und einen freien Kopf braucht. Das habe ich, aber man hat das nicht oft im Leben. Ich schreibe weiter meine Zusammenfassungen und Anmerkungen zu den Kapiteln, und wenn ihr dann weiterlest, könnt ihr ja daran anknüpfen, wenn ihr wollt.
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Im Kapitel 50 ist Sektionschef Tuzzi weiter beunruhigt über Arnheims Einfluss auf die österreichische High Society im Allgemeinen und im Besonderen auf seine Gattin. Ihm fällt auf, dass Arnheim sich sehr oft in Diotimas Salon aufhält und dass er - außer durch die Augen seiner Frau - sehr wenig über diesen Preußen weiß, dessen Einfluss auf die Parallelaktion ihm weiter suspekt bleibt. Ein nächtlicher - ganz untypischer - Ausfall seiner Frau gegen ihn beunruhigt ihn nun so stark, dass er im übernächsten Kapitel aktiv wird.
Aber zunächst stellt das 51. Kapitel die Ehekrise im Hause Fischel dar, das ist der jüdische Bankier, der nicht über den Status eines Prokuristen mit dem Titel eines Direktors herausgekommen ist. Was natürlich auch an der zunehmend antisemitisch geprägten Stimmung der Jahrhundertwende liegt, die Musil in diesem Kapitel sehr gut seziert, wobei einen auch die Parallelen zur Gegenwart atemlos machen:
Der Lloyd-Bank-Direktor Fischel philosophierte gern, aber nur zehn Minuten täglich. Er liebte es, das menschliche Dasein als vernünftig begründet zu erkennen, glaubte an seine geistige Rentabilität, die er sich gemäß der wohlgegliederten Ordnung einer Großbank vorstellte, und nahm täglich mit Gefallen zur Kenntnis, was er von neuen Fortschritten in der Zeitung las. Dieser Glaube an die unerschütterlichen Richtlinien der Vernunft und des Fortschritts hatte es ihm lange Zeit ermöglicht, über die Ausstellungen seiner Frau mit einem Achselzucken oder einer schneidenden Antwort hinwegzugehn. Aber da es das Unglück gewollt hatte, dass sich im Verlauf dieser Ehe die Zeitstimmung von den alten, Leo Fischel günstigen Grundsätzen des Liberalismus, den großen Richtbildern der Freigeistigkeit, der Menschenwürde und des Freihandels abwandte, und Vernunft und Fortschritt in der abendländischen Welt durch Rassentheorien und Straßenschlagworte verdrängt wurden, so blieb auch er nicht unberührt davon. Er hatte diese Entwicklung anfangs schlechtweg geleugnet, genau so wie Graf Leinsdorf gewisse »unliebsame Erscheinungen öffentlicher Natur« zu leugnen pflegte; er wartete darauf, daß sie von selbst verschwinden würden, und dieses Warten ist der erste, kaum noch fühlbare Grad der Tortur des Ärgers, die das Leben über Menschen mit aufrechter Gesinnung verhängt. Der zweite Grad heißt gewöhnlich, und hieß darum auch bei Fischel so, das »Gift«. Das Gift ist das tropfenweise Auftreten neuer Anschauungen in Moral, Kunst, Politik, Familie, Zeitungen, Büchern und Verkehr, das bereits von einem ohnmächtigen Gefühl der Unwiderruflichkeit begleitet wird und von empörter Leugnung, die eine gewisse Anerkennung des Vorhandenseins nicht vermeiden kann. Direktor Fischel blieb aber auch der dritte und letzte Grad nicht erspart, wo die einzelnen Schauer und Strähnen des Neuen zu einem dauernden Regen zusammengeronnen sind, und mit der Zeit wird das zu einer der entsetzlichsten Martern, die ein Mensch erleben kann, der täglich nur zehn Minuten Zeit für Philosophie hat.
Das Kursivgedruckte zeigt die Parallelen zu heute. Der Rest ist einfach wieder schönste Musilsche Satire.
Fischels Ehefrau und Tochter lassen sich von diesem Zeitgeist zunehmend beeinflussen, sodass im Hause Fischel unterschiedliche Welten, die vernunft- und erfolgsorientierte von Fischel und die von den Vapeurs der Gegenwart (s.o.) geprägte seiner Mitbewohnerinnen aufeinanderprallen, was zu einer zunehmend feindlichen Stimmung untereinander führt.
Und nun, in Kapitel 52, schreitet Sektionschef Tuzzi in seinem eigenen Ministerium des Auswertigen zur Tat, indem er über Arnheim ein Dossier anlegen lässt, was bisher zu seinem eigenen und des Sektionschefs für Pressewesen Erstaunen nicht stattgefunden hat, aber man könne ja nicht auch noch die kulturellen Äußerungen überwachen, wie der letztere bemerkt, wenn man mit den politischen schon genug zu tun habe.
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Die nächsten drei Kapitel 47 bis 49 nehmen Arnheim in den Blickpunkt.
Kapitel 47 beschreibt die Anpassungsfähigkeit Arnheims an seine Umgebung: Er ist zwar in keiner Disziplin ein Spezialist, aber überall mehr als ein Dilettant, ein sachkundiger Laie, der mit allen und zu jedem Thema plaudern kann, und das auf solch einem Niveau, dass die beteiligten Gesprächspartner, die Fachleute auf ihrem Gebiet sind, zwar erkennen, dass hier nur ein Laie ist, der aber ein so hohes Niveau einhält, dass sie sich geschmeichelt und wertgeschätzt fühlen, mit ihm im Gespräch zu sein.
In dem nächsten Kapitel 48 wird das Ganze nochmal unterfüttert und seine gesellschaftliche Stellung beschrieben. Arnheim kommt aus begütertem Elternhaus, sein Vater ist wohl selbst Kaufmann oder Industrieller. Er als Junior wird von anderen Wirtschaftstreibenden gerne auch als "Kronprinz" bezeichnet, was wohl ursprünglich herablassend, inzwischen aber eher als Auszeichnung gemeint ist. Arnheim ist nicht nur gebildet und kommunikativ, sondern auch kreativ. Seine Veröffentlichungen werden gerne gelesen und zitiert. Wenn auch die Wirtschaftsvertreter von seinen kaufmännischen Fähigkeiten nicht wirklich überzeugt sind, bewundern und schätzen sie doch seine Beziehungen und sein diplomatisches Können und nutzen diese gerne. Arnheim ist auch selbst von sich überzeugt und strahlt dies dementsprechend aus. Seine ganzheitliche Ausstrahlung überspielt kleinere Schwächen, ja adelt diese.Hier drängt sich mir der Vergleich mit Ulrichs Jugendfreund Walter auf. Dieser ist ja auch auf vielen Gebieten der Kunst bewandert und talentiert, aber für nichts so sehr und ausschließlich, dass er dort wirklich Großes zu leisten vermag. Walter leidet darunter, während Arnheim gerade aus dieser tiefenlosen Universalität sein Geheimnis und seine Größe schöpft, also zwei unterschiedliche Spielarten des gleichen Menschentyps und wiederum zwei Menschen ohne Eigenschaften, da sie nirgendwo wirklich verankert sind.
Das Gespräch in Kapitel 49 zwischen Sektionschef Tuzzi, Arnheim und Diotima ist wieder ganz der Satire gewidmet. Während Tuzzi die Hohlheit der weltösterreichischen Idee seiner Gattin sehr wohl erkennt und feinsinnig darüber spottet, ist Diotima empört und fühlt sich durch Arnheims Ausführungen, die letzten Endes in keiner Weise weiterführen, zunächst verunsichert und dann bestätigt. Arnheim beschwört nämlich die Kulturlosigkeit der Gegenwart, aus der auch keine großen Ideen zu erwarten seien. Das entlastet sie davon, eine solche schnell zu finden. -
Dann wünsche ich dir, Zefira, dass sich die Lage in deiner Familie bald entspannt. Natürlich hast du jetzt nicht den Kopf für Musils Roman. Ich werde weiter fortsetzen wie bisher, vielleicht können ja dann zu einem späteren Zeitpunkt die Threads zu einer zukünftigen Leserunde genutzt werden.
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Stört es dich denn, Zefira, wenn ich meine Kapitelzusammenfassungen weiter poste?
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Ab morgen würde ich hier weitermachen, mit dem dritten Abschnitt. Ich weiß allerdings nicht, ob ihr euch dadurch unter Druck gesetzt fühlt, da ja nur sehr wenige andere Posts erscheinen. Ich werde auf jeden Fall weiterlesen. Wenn euch meine regelmäßigen Posts aber nerven, dann schreibt es hier. Ich kann das ja auch sein lassen, und wir canceln das Projekt. Das ist nicht weiter schlimm, immerhin habe ich euch den Roman wohl ein wenig aufgenötigt
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Vielen Dank auch hier für diese interessanten Infos über eine Autorin, die mir bisher unbekannt war. Deine Beiträge bereichern das Forum, sehr schön!
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Danke für diesen Hinweis sandhofer. Ich habe auch nicht aus Kenntnis der Primärtexte, sondern aus literaturgeschichtlichem Halbwissen geurteilt. Das rächt sich dann bei der Genauigkeit.
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Ich meinte das auch nur in Bezug auf die Naturnähe und deren Auswirkung auf die Psyche und Persönlichkeit.
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Vielen Dank für die interessante Buchvorstellung, Anne. Klingt so, als würde der Autor ein wenig in der Tradition von Thoreaus "Walden" stehen.
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Jetzt geht es wieder deutlich schneller: Der nächste Roman war sehr viel dünner und ließ sich gut weglesen:
Max Frisch: Homo FaberAber nun ist erstmal Zeit für eine Krimipause. Die letzten Monate war ich recht diszipliniert an meiner Liste.
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Dieser Thread wurde ja schon lange nicht mehr bedient. Ich möchte ihn mit einer Buchvorstellung aufwärmen.
Max Frisch: Homo Faber. Ein Bericht (1957)
Zum Inhalt:
Walter Faber ist Ingenieur und arbeitet für die UNESCO. Zur Überwachung einer Montage in Caracas bricht er von New York mit dem Flugzeug auf. Aufgrund eines Getriebeschadens muss die Maschine in der mexikanischen Wüste notlanden. Dabei lernt Faber den deutschen Industriellen Herbert Hencke, Bruder seines einstigen Jugendfreundes Joachim kennen und begleitet ihn nach dem Weiterflug in den mexikanisch-guatemaltekischen Dschungel, wo Joachim eine Tabakplantage für die deutsche Tabakindustrie angelegt hat. Nach einer mühevollen Anreise treffen sie Joachim jedoch nur noch tot an. Er hat sich aufgehängt. Herbert bleibt vor Ort zurück. Faber ist durch die Geschehnisse so in seinem naturwissenschaftlich-technisch geprägten Weltverständnis gestört, dass er – ohne sich zu hinterfragen – einige Übersprungshandlungen begeht. Zunächst reist er zu einer Konferenz nach Paris nicht – wie geplant – mit dem Flugzeug, sondern mit einem Schiff. Auf der fünftägigen Passage lernt er eine Zwanzigjährige kennen, die ihn entfernt an seine Jugendliebe Hanna Landsberg erinnert.Er freundet sich mit dem Mädchen, das er Sabeth nennt, an. Auch in Paris verbringt er Zeit mit ihr. Um sie vor einer Autostop-Tour nach Italien zu bewahren, sagt er die Teilnahme an der Konferenz ab, mietet sich ein Auto und macht mit ihr die Reise dorthin. Unterwegs werden die beiden auch intim. Langsam kommt in Gesprächen zutage, dass Sabeth tatsächlich die Tochter seiner Jugendliebe ist, die er damals schwanger zurückgelassen hatte, weil er einen Praktikumsplatz in Istanbul angenommen hatte. Sabeth aber hält sich für die Tochter von Joachim, der Hanna schwanger geheiratet hatte, und auch Faber will das glauben. Schließlich kommen die beiden nach Griechenland, denn dort ist Hanna in Athen zu Hause. Am Abend vor ihrer Trennung kommt es aber zu einem Unfall, in dessen Folge Sabeth zwei Tage später im Athener Krankenhaus stirbt. Hanna trifft, als sie zu ihrem Kind eilt, im Krankenhaus auch auf Faber, der ebenfalls behandelt werden muss. Sie nimmt ihn mit nach Hause und erfährt langsam alles, was vorgefallen ist, klärt auch nach mehrmaligem Leugnen auf, dass Sabeth Fabers Tochter ist. Als beide beim Besuch im Krankenhaus vom Tod ihrer Tochter erfahren, schlägt Hanna ihn, hält jedoch, genau wie er, nachdem er zu seiner Arbeit zurückgekehrt ist, den Kontakt aufrecht. Faber, der schon während der ganzen Romanhandlung an Magenschmerzen leidet, geht es immer schlechter, so dass er nicht mehr richtig arbeiten kann. Außerdem quälen ihn seine Erinnerungen an Sabeth und seinen verstorbenen Freund. Er kündigt bei der UNESCO und kommt nach Griechenland, um in Hannas Nähe zu sein. Bei einer Untersuchung im Krankenhaus wegen seiner Magenschmerzen behalten sie ihn gleich da. Zum Ende hin wird klar, dass ihm trotz der anstehenden OP selber bewusst ist, dass er Magenkrebs hat und verloren ist.
Gestaltung und Meinung:
Der Roman heißt nicht umsonst „Bericht“. Faber pflegt einen distanzierten, technisch orientierten Blick auf die Welt, Menschen interessieren ihn nur peripher, und im Notfall zieht er die Maschinen vor. Seine Geliebte Ivy ist ihm eigentlich nur lästig, und auch sein schickes New Yorker Penthouse entlockt ihm kein Wohlgefallen, sondern eher Missmut, weil es so teuer ist. Menschen gegenüber ist er nicht nur distanziert, sondern er äußert in seinem „Bericht“ viele chauvinistische (gegenüber Frauen) und sogar massiv rassistische Meinungen, wie zum Beispiel über eine Afroamerikanerin, die ihm auf dem Flughafen von Mexiko City helfen will, als ihm schlecht wird. Damit führt er seine (wohl von Frisch auch so gewollt) naturwissenschaftliche Sichtweise von selbst ad absurdum, denn er ist voller Ressentiments und urteilt primitiv über alles Menschliche, was ihm nicht sofort einsichtig ist. Sich selber kann er daher auch nicht recht verstehen, als er in diesen antiken Strudel von Inzest, Schuld und Tod hineingezogen wird. Das zeigt sich z.B. darin, dass seine Ausdruckskraft immer dann, wenn ihn die Dinge überwältigen, nachlässt und er in eine Art Telegrammstil verfällt. Positiv ihm gegenüber gestellt sind seine Tochter (Eli)sabeth mit ihrer natürlichen Naivität und Begeisterungsfähigkeit und Hanna, die den fürchterliche Schicksalsschlägen fast mit der Gelassenheit einer antiken Heldin begegnet. Fabers Erkrankung, an der er wohl sterben wird, kann man symbolisch vielleicht auch als das Unbehagen an sich selbst und seinem Leben verstehen, das ihn von innen auffrisst.
Mich hat das Buch nur teilweise angesprochen, weil ich die äußere Thematik nicht so interessant finde, deshalb habe ich den Roman auch erst mehrere Jahrzehnte, nachdem er in meine Regale einzog, gelesen. Als Dokument der Zerrissenheit des Menschen und auch einer noch sehr viel weniger skrupulösen Technik-Affinität, als sie heute vorherrscht, war die Lektüre aber interessant und lesenswert. Es gibt dennoch viele Titel von Frisch, die mich mehr begeistern.
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Und nun ist endlich auch der Bellow geschafft.
Weiter geht's mit Max Frisch: Homo Faber. Für die Fünfziger Jahre habe ich zwar schon ein Buch in der deutschsprachigen Abteilung, aber dieser Roman liegt schon fast sein meiner Jugend bei mir rum, jetzt muss er endlich mal dran glauben. Mich hatte das Thema nie wirklich angesprochen, aber jetzt, da ich angefangen habe, finde ich das Buch doch recht spannend. Allerdings bin gleich zu Anfang über ein fettes Stückchen Rassismus gestolpert, das ich dem Autor von "Andorra" niemals zugetraut hätte.
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Tja, 2009 hatte ich hier schon erwähnt, dass der Roman nicht oben auf meiner Prioritätenliste steht, aber nun habe ich ihn im Rahmen meines 20. Jahrhundert-Projektes endlich gelesen:
Saul Bellow: Die Abenteuer des Augie March (1953)
Zum Inhalt
Augie wächst in einem armen jüdischen und von anderen Einwanderungsfamilien geprägten Viertel von Chicago als mittlerer Sohn einer alleinerziehenden Mutter auf. Bei der Familie lebt die Oma Lausch als Untermieterin. Sie ist mit ihnen nicht verwandt, stammt aus dem jüdisch-armenischen Geldadel und sorgt durch ständiges Antreiben dafür, dass der älteste Sohn Simon und Augie eine gute Schulausbildung und hilfreiche Kontakte zu einflussreichen Familien aus dem kaufmännischen Milieu bekommen. Der jüngste Sohn Georgie ist geistig behindert, die Mutter erblindet mehr und mehr. Über den Vater / die Väter der drei Jungen erfährt der Leser nichts Konkretes. Trotz der Anstrengungen von Oma Lausch schließen die beiden Jungen die Schule zwar erfolgreich ab, erfahren dann aber einen sehr farbigen und abenteuerreichen (Aus)bildungsweg. Während Simon immer vom Ehrgeiz getrieben bleibt, gesellschaftliches Ansehen, Geld und Macht zu erhalten, ist Augie eine Art Spiegelmensch. Er weiß nicht recht, was er will, ist von freundlich-umgänglicher Art und sieht nett aus. Das führt dazu, dass er immer wieder von Menschen vereinnahmt wird, die ihn zu einem Teil ihrer Welt machen und sich in ihm spiegeln wollen. Bis zu einem gewissen Punkt lässt Augie das mit sich geschehen, um dann, oft unter persönlichen Krisen, die Beziehung zu lösen. Dabei spielen sich fast alle seine Kontakte in der jüdischen Gemeinde der USA und später Europas ab. Zunächst wird Augie Mädchen für alles bei der Familie Einhorn, die eine wichtige Stellung in der Halbwelt Chicagos spielt, mit Verbindungen zur Verwaltungsebene. Später soll er sogar von einer reichen Familie, die ihr Geld mit gehobenem Textilhandel verdient, adoptiert werden, aber da seilt er sich auch im letzten Moment ab. Seine erste große Liebe ist ein ebenfalls reiches Mädchen, mit der er nach Mexiko reist, weil sie dort mithilfe eines abzurichtenden Adlers Leguane jagen will. Als die USA in den Zweiten Weltkrieg eintreten, meldet er sich zur Handelsmarine und macht auch dort, wie überall in seinem Leben, Erfahrungen mit der Hybris von Machtmenschen und solchen, die es sein wollen. Am Ende wohnt er mit seiner Frau Stella, einer Filmschauspielerin, in Paris, und noch immer hat er kein selbstbestimmtes Leben aufbauen können.
Meine Meinung
Der Roman ist linear erzählt und ungemein farbig. Da das Personal gewaltig ist, hätte ich gerne ein Personenverzeichnis gehabt, was meine Kiepenheuer-Ausgabe aus der Jahrtausendwende leider nicht hergibt. Der Roman gilt als in der Tradition des Schelmenromans stehend, da Augie sich durch seine sympathische, oben geschilderte Art so durchschlägt und viele Vorteile für sich dabei herausholt. Er wird dabei aber nicht glücklich und ist auch nicht darauf aus, andere zu übervorteilen, wie es bei einem echten Schelmenroman eher der Fall ist. Es ist eine sehr maskulin-chauvinistische Welt, in der Augie sich bewegt, ohne selbst so zu sein. Derbe wird über die unterschiedlichen Einwanderungsgruppen und über Frauen geurteilt, wobei letztere gegenüber den Männern letzten Endes oft die Oberhand behalten, weil sie sich nicht von dem virilen Sprücheklopfen täuschen lassen. Alle Personen sind auf der Suche nach Selbstverwirklichung und sehen diese – typisch amerikanisch – oft in einem Gemenge von Geld anhäufen und Macht ausstrahlen. Dieses ständige Renommieren und Darstellen abstruser Ideen, sich als Macher, Weltenretter und/oder genial hinzustellen, ging mir zunehmend auf den Wecker, so dass ich am Ende froh war, den 700 Seiten-Wälzer durchzuhaben. Was mir bleibt, sind intensive Beschreibungen des Lebens besonders in Chicago, der flirrenden Hitze in Mexiko und Augie selbst, der mit offenen Augen durch diese Welt geht, aber immer letzten Endes auf Distanz bleibt.
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Es ist ja schon lange her, dass ich die Forsyte-Saga und die Folgebände gelesen habe. Sicherlich gibt es da sentimentale Stellen, aber auch messerscharfe Gesellschaftskritik und ganz einfach große Familien- und Gesellschaftspanoramen, und sowas liebe ich, vor allem, wenn es authentisch ist, d.h. von Autoren stammt, die selbst dieser Zeit und der geschilderten Schicht entstammen, dabei aber eine kritische Distanz bewahren.
Abgesehen davon ist die alte Serienverfilmung - ich glaube aus den Sechziger/ Anfang Siebziger Jahren aller drei Bände und noch in Schwarz/Weiß immer noch sehr sehenswert und für mich besser als alles Folgende an Verfilmungen. Kann man auch bestellen.