Musil - MoE 1, 47 - 69

  • finsbury

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  • Die nächsten drei Kapitel 47 bis 49 nehmen Arnheim in den Blickpunkt.
    Kapitel 47 beschreibt die Anpassungsfähigkeit Arnheims an seine Umgebung: Er ist zwar in keiner Disziplin ein Spezialist, aber überall mehr als ein Dilettant, ein sachkundiger Laie, der mit allen und zu jedem Thema plaudern kann, und das auf solch einem Niveau, dass die beteiligten Gesprächspartner, die Fachleute auf ihrem Gebiet sind, zwar erkennen, dass hier nur ein Laie ist, der aber ein so hohes Niveau einhält, dass sie sich geschmeichelt und wertgeschätzt fühlen, mit ihm im Gespräch zu sein.
    In dem nächsten Kapitel 48 wird das Ganze nochmal unterfüttert und seine gesellschaftliche Stellung beschrieben. Arnheim kommt aus begütertem Elternhaus, sein Vater ist wohl selbst Kaufmann oder Industrieller. Er als Junior wird von anderen Wirtschaftstreibenden gerne auch als "Kronprinz" bezeichnet, was wohl ursprünglich herablassend, inzwischen aber eher als Auszeichnung gemeint ist. Arnheim ist nicht nur gebildet und kommunikativ, sondern auch kreativ. Seine Veröffentlichungen werden gerne gelesen und zitiert. Wenn auch die Wirtschaftsvertreter von seinen kaufmännischen Fähigkeiten nicht wirklich überzeugt sind, bewundern und schätzen sie doch seine Beziehungen und sein diplomatisches Können und nutzen diese gerne. Arnheim ist auch selbst von sich überzeugt und strahlt dies dementsprechend aus. Seine ganzheitliche Ausstrahlung überspielt kleinere Schwächen, ja adelt diese.

    Hier drängt sich mir der Vergleich mit Ulrichs Jugendfreund Walter auf. Dieser ist ja auch auf vielen Gebieten der Kunst bewandert und talentiert, aber für nichts so sehr und ausschließlich, dass er dort wirklich Großes zu leisten vermag. Walter leidet darunter, während Arnheim gerade aus dieser tiefenlosen Universalität sein Geheimnis und seine Größe schöpft, also zwei unterschiedliche Spielarten des gleichen Menschentyps und wiederum zwei Menschen ohne Eigenschaften, da sie nirgendwo wirklich verankert sind.
    Das Gespräch in Kapitel 49 zwischen Sektionschef Tuzzi, Arnheim und Diotima ist wieder ganz der Satire gewidmet. Während Tuzzi die Hohlheit der weltösterreichischen Idee seiner Gattin sehr wohl erkennt und feinsinnig darüber spottet, ist Diotima empört und fühlt sich durch Arnheims Ausführungen, die letzten Endes in keiner Weise weiterführen, zunächst verunsichert und dann bestätigt. Arnheim beschwört nämlich die Kulturlosigkeit der Gegenwart, aus der auch keine großen Ideen zu erwarten seien. Das entlastet sie davon, eine solche schnell zu finden.

    Ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns. (Kafka)

  • Im Kapitel 50 ist Sektionschef Tuzzi weiter beunruhigt über Arnheims Einfluss auf die österreichische High Society im Allgemeinen und im Besonderen auf seine Gattin. Ihm fällt auf, dass Arnheim sich sehr oft in Diotimas Salon aufhält und dass er - außer durch die Augen seiner Frau - sehr wenig über diesen Preußen weiß, dessen Einfluss auf die Parallelaktion ihm weiter suspekt bleibt. Ein nächtlicher - ganz untypischer - Ausfall seiner Frau gegen ihn beunruhigt ihn nun so stark, dass er im übernächsten Kapitel aktiv wird.

    Aber zunächst stellt das 51. Kapitel die Ehekrise im Hause Fischel dar, das ist der jüdische Bankier, der nicht über den Status eines Prokuristen mit dem Titel eines Direktors herausgekommen ist. Was natürlich auch an der zunehmend antisemitisch geprägten Stimmung der Jahrhundertwende liegt, die Musil in diesem Kapitel sehr gut seziert, wobei einen auch die Parallelen zur Gegenwart atemlos machen:

    Der Lloyd-Bank-Direktor Fischel philosophierte gern, aber nur zehn Minuten täglich. Er liebte es, das menschliche Dasein als vernünftig begründet zu erkennen, glaubte an seine geistige Rentabilität, die er sich gemäß der wohlgegliederten Ordnung einer Großbank vorstellte, und nahm täglich mit Gefallen zur Kenntnis, was er von neuen Fortschritten in der Zeitung las. Dieser Glaube an die unerschütterlichen Richtlinien der Vernunft und des Fortschritts hatte es ihm lange Zeit ermöglicht, über die Ausstellungen seiner Frau mit einem Achselzucken oder einer schneidenden Antwort hinwegzugehn. Aber da es das Unglück gewollt hatte, dass sich im Verlauf dieser Ehe die Zeitstimmung von den alten, Leo Fischel günstigen Grundsätzen des Liberalismus, den großen Richtbildern der Freigeistigkeit, der Menschenwürde und des Freihandels abwandte, und Vernunft und Fortschritt in der abendländischen Welt durch Rassentheorien und Straßenschlagworte verdrängt wurden, so blieb auch er nicht unberührt davon. Er hatte diese Entwicklung anfangs schlechtweg geleugnet, genau so wie Graf Leinsdorf gewisse »unliebsame Erscheinungen öffentlicher Natur« zu leugnen pflegte; er wartete darauf, daß sie von selbst verschwinden würden, und dieses Warten ist der erste, kaum noch fühlbare Grad der Tortur des Ärgers, die das Leben über Menschen mit aufrechter Gesinnung verhängt. Der zweite Grad heißt gewöhnlich, und hieß darum auch bei Fischel so, das »Gift«. Das Gift ist das tropfenweise Auftreten neuer Anschauungen in Moral, Kunst, Politik, Familie, Zeitungen, Büchern und Verkehr, das bereits von einem ohnmächtigen Gefühl der Unwiderruflichkeit begleitet wird und von empörter Leugnung, die eine gewisse Anerkennung des Vorhandenseins nicht vermeiden kann. Direktor Fischel blieb aber auch der dritte und letzte Grad nicht erspart, wo die einzelnen Schauer und Strähnen des Neuen zu einem dauernden Regen zusammengeronnen sind, und mit der Zeit wird das zu einer der entsetzlichsten Martern, die ein Mensch erleben kann, der täglich nur zehn Minuten Zeit für Philosophie hat.

    Das Kursivgedruckte zeigt die Parallelen zu heute. Der Rest ist einfach wieder schönste Musilsche Satire.

    Fischels Ehefrau und Tochter lassen sich von diesem Zeitgeist zunehmend beeinflussen, sodass im Hause Fischel unterschiedliche Welten, die vernunft- und erfolgsorientierte von Fischel und die von den Vapeurs der Gegenwart (s.o.) geprägte seiner Mitbewohnerinnen aufeinanderprallen, was zu einer zunehmend feindlichen Stimmung untereinander führt.

    Und nun, in Kapitel 52, schreitet Sektionschef Tuzzi in seinem eigenen Ministerium des Auswertigen zur Tat, indem er über Arnheim ein Dossier anlegen lässt, was bisher zu seinem eigenen und des Sektionschefs für Pressewesen Erstaunen nicht stattgefunden hat, aber man könne ja nicht auch noch die kulturellen Äußerungen überwachen, wie der letztere bemerkt, wenn man mit den politischen schon genug zu tun habe.



    Ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns. (Kafka)

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  • Im Kapitel 53 erfahren wir Neues über Moosbrugger. Er wird in ein anderes Gefängnis überführt und in diesem Zusammenhang wird wieder eine neue Facette seiner Lebenseinstellung deutlich. Da sein Leben eigentlich nie wirklich lebenswert war, sondern eher in kurzen Unterbrechungen seiner Gefängnisaufenthalte bestand - was er für sich mit der jetzigen Überführung vergleicht - ist ihm eigentlich auch seine drohenden Hinrichtung egal - denn kann das Hängen schlimmere Schmerzen verursachen, als er sie schon erlitten hat? Bedeutsam ist für ihn nur seine Ruhmsucht. Er möchte auch als Bösewicht etwas darstellen und bei den Leuten große Gefühle erregen.
    Das nächste Kapitel 54 bringt endlich die Begegnung Ulrichs mit seinen Jugendfreunden Walter und Clarisse, die durch seine Verhaftung im Kapitel 40 vereitelt wurde. Hier wird wieder der Unterschied zwischen Ulrichs Pragmatismus gegenüber der Wissens- und Meinungsexplosion seiner Zeit deutlich und Walters Leiden daran, dass ihm der Sinnzusammenhang im modernen Leben fehle. Er beschuldigt Ulrich der typisch österreichischen Staatsphilosophie des Fortwurstelns, während Clarisse in Ulrich einen Seelenverwandten entdeckt, vielleicht weil er mit positiver Energie und ohne Klagen den komplexen Zeitläuften entgegenzutreten scheint. Walter erscheint seinem Freund gegenüber zunehmend feindlich gesinnt.
    Kapitel 55 bringt wieder Arnheim durch seinen Pagen Soliman ins Zentrum. Arnheim hatte Soliman als Kind aus einer italienischen Zirkustruppe frei gekauft und zunächst immer in seiner unmittelbaren Nähe behalten und ihn verwöhnt. Irgendwann war ihm dann aufgefallen, dass Soliman langsam erwachsen wurde und er sich nicht an diese bevorzugte Behandlung gewöhnen sollte, so dass er auf die Umstände und Bezahlung eines gewöhnlichen Dieners zurückgestuft wurde. Diese Demütigung kann Soliman nicht verwinden und rächt sich nun an seinem Herrn, indem er ihn bestiehlt und Rachel, der Zofe Diotimas, die sich viel mit ihm beschäftigt, schlimme, oft unwahre Dinge über Arnheim erzählt. Als Diener dagegen verhält sich Soliman weiter vorbildlich, so dass Arnheim von diesem Feind an seiner Seite gar nichts ahnt. Für Rachel hingegen sind diese Geschichten Solimans neben dem ganzen Parallelaktionsbetrieb in Diotimas Salon ein Abenteuer, das sie in vollen Zügen genießt.

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  • Die Parallelaktion steht in den folgenden drei Kapiteln im Vordergrund und bietet Musil jede Menge Möglichkeiten, seine feine Ironie aufblitzen zu lassen.


    Kapitel 56 schildert, dass die unterschiedlichen Ausschüsse zur Planung der Parallelaktion eine lebhafte Tätigkeit entfalten, die jedoch bei näherem Hinsehen nur in der Ablage - der Asservatenverwaltung - jeglicher Anregungen und der Information der vorgesetzten Ausschüsse darüber besteht. Dazu werden jedes Mal Aktenzeichen angelegt, so dass der Eindruck einer allumfassenden umfangreichen Tätigkeit entsteht. Da niemand weiß, wie sich die einzelnen Vorschläge mit der Idee eines pazifistischen "Weltösterreich"jahres, wie es Diotima angedacht hatte, vertragen, werden sie von Stelle zu Stelle geschoben.
    Kapitel 57 thematisiert genau diese Schwierigkeit nochmal, wie große Ideen gerade durch ihre Ausschließlichkeit / ihren Idealismus ganz automatisch eine ebensolche Gegenidee hervorrufen und außerdem nie die praktischen Auswirkungen bedenken. Diotima wird dies auch immer wieder durch die Reaktionen und Kommentare ihres pragmatisch orientierten Gatten bewusst gemacht, auch wenn dieser sie nun ernster zu nehmen scheint als vor der Idee der "Parallelaktion".

    Dazu eine wunderbare Stelle bezüglich des Vorschlags einer internationalen Friedensaktion:
    Er [Sektionschef Tuzzi] gab sogar auf der Stelle den Ratschlag, dass man, wenn ernstlich irgendwann die Anregung einer internationalen Friedensaktion auftauchen sollte, sofort dafür Sorge tragen müsste, dass nicht politische Verwicklungen aus ihr entstünden. Man brauche eine so schöne Idee keinesfalls abzulehnen, erklärte er seiner Gattin, selbst dann nicht, wenn die Möglichkeit bestehen sollte, sie zu verwirklichen, aber es sei unbedingt nötig, sich von Anfang an alle Durchführungs- und Rückzugsmöglichkeiten offenzuhalten.

    In Kapitel 58 begegnet Ulrich in seiner Funktion als Kommissionssekretär der Parallelaktion seinem Chef Graf Leinsdorf und will diesem Schriftmappen mit gesammelten und gesichteten Vorschlägen, einmal rückwärts und einmal vorwärts gerichtet, überreichen. Dabei überkommt den Grafen plötzlich entgegen seiner sonstigen geistigen Beschäftigung eine grundlegende Einsicht, nämlich dass die Menschheit nicht mehr freiwillig zurückkönne und es für sie aber auch kein erreichbares Ziel gebe. Die Aufschieberitis wird auch an dieser Stelle fortgesetzt.

    Ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns. (Kafka)

  • Die folgenden Kapitel fand ich sehr schwierig zu lesen und zu verstehen, insbesondere das letzte.
    Wir kehren in Kapitel 59 zu Moosbrugger zurück, der in sein neues Gefängnis geführt worden ist. Dort muss er einige unnötige Repressalien, wie Desinfektionen usw. über sich ergehen lassen, von denen er weiß, dass diese nicht gegen seinen Willen durchgeführt werden dürfen, aber die im Gefängnis tätigen Vertreter unterschiedlicher Institutionen scheren sich wenig um seine Beschwerden. Nun sitzt er in seiner neuen Zelle und ist eigentlich gar nicht so erzürnt über die Übergriffe, denn er sieht das auch als Kümmern an: Im Gefängnis oder einer Anstalt muss man sich um ihn kümmern, ihn kleiden und nähren, in der Freiheit ist er den anderen und erst recht dem Staat egal. Allerdings ist er das Leben in Anstalten auch satt und möchte daher gar nicht vor der Todesstrafe gerettet werden. Im Folgenden denkt er darüber nach, wie es dazu gekommen ist, dass er gegenüber Frauen die Fassung verliert und gewalttätig wird. Er erkennt, dass ihn bestimmte Situationen "triggern" - wie man heute sagen würde - immer wenn er von Frauen im geschlechtlichen Bereich Ablehnung erfährt oder ihn an ihnen irgend etwas reizt, sodass er dann die normale Vorstellung von der gegenüberstehenden Person verliert und nur noch das sieht und angreifen möchte, was den Reiz ausgelöst hat. Er versteht gar nicht, warum er dafür jedes Mal eingesperrt wird und durchschaut die Maschinerie des Rechts nicht. Dazu kommt, dass ihm das Sprechen schwer fällt, die Worte kleben ihm im Hals und wollen nicht heraus, was auch dazu führt, dass er sich nicht anders als mit Gewalt zu helfen weiß. Er hört Stimmen, findet das aber nicht unangenehm, sondern meist ganz unterhaltsam. Er glaubt, dass er nicht selbst denkt, sondern in ihm gedacht wird und hält es auch für unnötig, Begrifflichkeiten allzu genau zu fassen, weil hinter ihnen sowieso immer weitere Dinge oder Begriffe stehen. Vor allem aber hat er Hunger, weil er für seinen großen Körper in der Anstalt viel zu wenig zu essen bekommt.
    Kapitel 60 nun hebt das, was mit Moosbrugger im Rechtssystem geschieht, auf eine allgemeinere Ebene: Das Recht hält an dem Grundsatz fest, dass ein Sachverhalt immer nur zwei Seiten haben kann, eine strafbare und eine nicht strafbare. Wenn ein Mensch also von den Medizinern bzw. Psychologen für unzurechnungsfähig erkannt wird, ist er nicht strafbar und muss in Anstalten behandelt bzw. aufbewahrt werden. Sind die Mediziner andererseits nicht sicher, ob nicht doch ein Kern von Vernunft oder logischem Handeln in der zu beurteilenden Person vorhanden ist, so wird diese Person als strafmündig behandelt, egal wie eingeschränkt diese Vernunft eingesetzt werden kann. In dieser Mühle befindet sich Moosbrugger, den die Gutachter mal so, mal so beurteilen.

    Am schwierigsten finde ich Kapitel 61. Wenn ich es richtig verstehe, knüpft es daran an, dass sich Ulrich zwar für Moosbrugger interessiert, aber nicht wirklich ein Interesse daran hat, ihn zu retten. Daraus wird abgeleitet, dass die Moral des Menschen sehr lax ist, wenn die Sache/Person, für die man sich einsetzen sollte, nicht in unmittelbarer Beziehung zu einem steht. Hieraus entwickelt der Autor die Vorstellung, dass die Ideale, die unsere Moral lenken, ja nur Utopien sind und wir sie daher gar nicht erreichen wollen und können. Auch die Menschen, die schöpferisch im naturwissenschaftlich-technischen Bereich tätig sind und innerhalb desselben sehr durchstrukturiert und zielorientiert handeln, sind dazu im Bereich der Moral nicht in der Lage, ja würden es ablehnen, wenn man diese mit den gleichen exakten Maßstäben misst. Diese Diskrepanz nimmt auch Ulrich wahr, fühlt sich aber ziemlich allein mit dieser Einsicht.

    Ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns. (Kafka)

  • Heute schreibe ich nur über das Kapitel 62, das ich sehr schwierig finde. Das mag daran liegen, dass ich selten philosophische Primärtexte lese, vielleicht aber auch daran, dass das Dargestellte selbst ziemlich verquast, vielleicht auch von Musil zumindest teilweise ironisch gemeint ist.

    Es geht weiter um Ulrichs Lebenseinstellung und knüpft an Moosbrugger und die ihn begutachtenden Ärzte an. Da ihnen die Beurteilung seiner Persönlichkeitsstörung zu schwierig erscheint, überlassen sie den Juristen, mit seiner Schuldfähigkeit fertig zu werden. Dies vergleicht der Autor mit der Angewohnheit der Menschen, in den Dingen, die sie unmittelbar selbst betreffen, zu urteilen, aber das Nachdenken über die größeren Zusammenhänge lieber den (selbst) ernannten Spezialisten - hier sind wohl Politiker, Philosophen, Kunstschaffende aller Art und Theologen gemeint - zu überlassen. Außerdem könne man zwei Menschentypen unterscheiden, die Exakten, die die Details möglichst genau nehmen und die Weltversteher, die immer alles in einen großen Zusammenhang bringen wollen. Zwischen diesen Extremen pendele die Kulturgeschichte hin und her (??).
    Vielleicht ist ja damit gemeint, dass auf eine eher rational betonte Epoche eine eher emotional betonte folgt - wie man es über Aufklärung und Sturm und Drang bzw. Klassik und Romantik sagt. In Zeiten der Industrialisierung, also zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts, herrschte durch die naturwissenschaftlich-technische Wissensexplosion bedingt zunächst so eine rational betonte Richtung, die aber zu der im Roman erzählten Zeit umso heftiger in eine verquaste Sinnsuche umschlug:
    [...] das Wissen fing an, unzeitgemäß zu werden, der unscharfe Typus Mensch, der die Gegenwart beherrscht, hatte sich durchzusetzen begonnen.

    Ulrich, dessen junge Erwachsenenzeit in diese Phase fällt, setzt dem zunächst ein "hypothetisches Leben", später den "Essayismus" entgegen. Das erstere bedeutet anscheinend, dass man als junger Erwachsener noch die Welt offen vor sich hat und sich selbst darin ausprobiert, ohne sich festzulegen. Mit dem zweiten ist - so wie ich das verstanden habe - gemeint, dass Ulrich bewusst auf eine Gesamtansicht der Welt, ein philosophisches System verzichtet und lieber Maßstäbe - insbesondere moralische - an einem konkreten Fall durchdenkt, da er Moral und alles andere, was sich nicht exakt berechnen lässt, für relativ hält. Er möchte keineswegs einen Mittelweg gehen, den Systeme in der Regel anstreben, um auf breiterer Basis anwendbar zu sein. Das führt zu einer Ablehnung des Wahrheitsbegriffes, wie ihn Religionen aber auch Verfassungen für sich beanspruchen.

    Sein Leben jedoch wird dadurch vor allem in den letzten Jahren von einer Unbestimmtheit geleitet und die Flucht in die exakten Wissenschaften hat ihm auch nicht bei der Bildung einer selbstbestimmten Persönlichkeit geholfen. Er steckt in seiner selbst definierten Rolle des "Mannes ohne Eigenschaften" fest und dümpelt im Alltagsgeschäft, das für ihn nun seine Beteiligung an der Parallelaktion ist, ohne innere Beteiligung dahin.

    Ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns. (Kafka)