Hallo,
habe nun diesen Ordner ausgegraben, um über Tolstois letzten Roman "Auferstehung" zu schreiben. Da insgesamt nicht so sehr viel zu Tolstoi geschrieben wird, muss man vielleicht nicht zu jedem Werk einen Extra-Ordner öffnen.
In der "Auferstehung" geht es nicht um Christus, und eigentlich auch - bis jetzt, ich bin mit dem ersten Drittel der Lektüre fertig - nicht um Religion, sondern um die Wiederentdeckung ethischer Prinzipien, die die beiden Protagonisten des Romans, Fürst Nechljudow, aus dessen Perspektive bisher hauptsächlich geschrieben wird, und Katjuscha Maslowa, die von ihm "verführt" und danach zur Prostituierten wird, verdrängt haben.
Nechljudow, ein reicher Großgrundbesitzer in den Dreißigern, ist in seiner Jugend reformerischen und demokratischen Ideen zugeneigt und teilt das ihm damals zugefallene relativ kleine väterliche Erbe unter den dort lebenden Bauern auf. Während der Militärzeit jedoch verfällt er in den typischen Lebensstil der reichen Adligen und verliert seine Grundsätze, auch nachdem er das wesentlich beträchtlichere Erbe seiner Mutter angetreten hat. Als er eines Tages als Geschworener an einem Mordprozess teilnimmt, erkennt er in der fälschlich Angeklagten Maslowa das ehemalige Dienstmädchen seiner Tanten, Katjuscha, in das er als junger Mann sehr verliebt war und das er dann später, schon während seiner Militärzeit und unter dem Einfluss des genusssüchtigen Lebensstils seiner Klasse, mehr vergewaltigt als verführt hat. Reue überkommt ihn nun, als er erkennt, dass ihm Katjuscha nun als Prostituierte in dieser misslichen Lage wiederbegegnet. Aufgrund zahlreicher Unfähigkeiten der beteiligten Personen wird die Maslowa zur Zwangsarbeit in Sibirien verurteilt.
Nechljudow versucht das Urteil kassieren zu lassen und besucht die Verurteilte im Untersuchungsgefängnis. Er will sie aus ihrer Lage befreien und sogar heiraten. Obwohl also bereits zu seinen früheren Prinzipien zurückgekehrt, sieht ihn Tolstoi dennoch nicht als vollständig geläutert, denn er genießt zu sehr den Gutmenschen in sich.
Katja Maslowa wird bisher nur wenig aus eigener Sicht geschildert, aber es wird klar, dass sie sich mit ihrer Situation als Prostituierte abgefunden hat und die Triebgesteuertheit der Männer zu ihrem Vorteil ausnutzt, ohne dabei allerdings ins Kriminelle abzurutschen.
Die erste Begegnung zwischen beiden Protagonisten verläuft daher für Nechljudow enttäuschend, der das offene und liebenswerte Mädchen seiner Jugendzeit nicht mehr in ihr wiederentdecken kann.
Soweit bin ich in der Handlung bisher. Tolstoi würzt diese mit scharfen Angriffen auf die verlogene Justiz, die Sinnlosigkeit von Militarismus und den hedonistischen und skrupellosen Lebensstil der herrschenden Klasse.
Dabei bleibt der Roman gut lesbar; Im Gegensatz zum Beispiel zu Rolf Vollmann, der die späten Werke Tolstois ablehnt, weil er in diesen angeblich zu viel predigt, kann ich das für diesen Roman nicht bestätigen. Tolstoi legt den Finger genau auf die Wunden, die diese Gesellschaftsform scheitern ließen. Dass er dabei manchmal vielleicht etwas überzieht, finde ich nicht so schlimm.
Wunderbar gelungen sind die Szenen im Geschworenenzimmer und im Frauengefängnis, die Tolstoi zu breiten Schilderungen exemplarischer VertreterInnen städtischer Lebenskreise ausbaut.
Im Moment komme ich aus beruflichen Gründen langsam voran, freue mich aber an jeder Seite!
finsbury