Puppenschuhe
Von: Sigit Susanto
Meine Frau plante, dass wir Weihnachten mit ihren Eltern feiern. Ich hatte noch nie ein Weihnachtsfest erlebt. Vor einem Jahr lebte ich noch in Bali und arbeitete als Reiseführer. Ich begleitete oft Schweizer Touristen zu Hindu-Tempelfesten. Sie trugen Sarong und Kopftuch, genau wie Einheimische. Da ich selbst ein Muslim und gebürtiger Javaner bin, war die Berührung zwischen zwei Kulturen und Religionen nicht neu für mich.
Meine Frau und ich machten uns auf den Weg zu ihren Eltern. Sie trug einen eleganten Anzug, die Farbkombination war ziemlich kräftig. Ich hatte keine Ahnung, was man bei einem solchen Fest tragen sollte. Meine Frau zeigte mir ein weisses langärmliges Hemd mit dunklen Hosen. Der Pullover musste zu den Hosen, den Schuhen und der Jacke passen.
Einen Monat zuvor war ich schon beschäftigt ein Vogelhaus als Weihnachtsgeschenk zu basteln. Ich wusste, dass meine Schwiegermutter gern Handarbeiten sammelte, deswegen machte ich selber ein Vogelhaus aus Holz, Bambus und Stroh. Bis zur letzten Minute bastelte ich an meinem Vogelhaus, die Farbe war sogar noch nicht ganz trocken. Ich konnte es nicht richtig verpacken, da das Vogelhaus zu gross war. Während wir unterwegs waren, guckten viele Leute mein Vogelhaus an.
Draussen war es kalt und überall gab es viel Schnee. Die Geschäfte waren den ganzen Tag zu, aber die Schaufenster waren mit goldenen Engeln dekoriert. Die Hauptstrassen waren festlich beleuchtet.
Das Haus meiner Schwiegereltern sah sehr sauber aus. An der Haustüre hing ein rundlicher Blumenkranz. Neben der Wohnungstür sah ich einen kleinen Engel, der sich auf der obersten Stufe einer Kalenderleiter befand. Im Wohnzimmer stand in der Nähe vom Fenster ein geschmückter Tannenbaum. Rote Kerzen waren an den Zweigen befestigt und hundertjährige Kugeln hingen am Baum. Darunter waren Krippenfiguren aus Maisblättern aufgestellt. Ich half die Kerzen auf dem Weihnachtsbaum anzuzünden. Als die Lampe abgestellt wurde, bemerkte ich plötzlich, dass dieser Raum sehr romantisch war.
Das Esszimmer hatte eine schöne Aussicht mit Blick auf den verschneiten Pilatus. Am runden Tisch sassen wir nur zu Fünft. Meine Schwiegereltern, meine Schwägerin, meine Frau und ich. Ich sah, dass es am Tisch keine Löffel gab, nur ein paar Teller, Gabeln, Messer und Servietten. Ich war es nicht gewohnt ohne Löffel zu essen. In meinem Heimatland ass ich jeden Tag Reis mit dem Löffel oder nur mit den Händen. Als mir bewusst wurde, dass es keinen Reis gab, sondern gebratene Kartoffeln mit Huhn, fand ich es nicht schlimm, ohne Löffel zu essen. Ich wußte nicht genau, wie sich Schweizerfamilien an formellen Anlässen benehmen. Ich versuchte locker zu bleiben und imitierte gleichzeitig, wie die anderen assen.
"Der Kopf ist der König und die Hände sind Diener", sagte meine Schwiegermutter plötzlich. Sie zeigte mir, wie man in Europa ass.
"In der Strasse beugen die Leute beim Essen den Kopf nach unten, das ist nicht zivilisiert. Die Diener müssen den König bedienen, nicht der König die Diener", fuhr sie fort.
Ich war sprachlos und hatte den Eindruck, dass es in Europa sehr kompliziert war sich korrekt zu benehmen.
Während dem Essen, schweiften wir von einem Thema zum anderen. Mein Schwiegervater erzählte von seinen Weltreisen durch Iran bis Indien. Ich erzählte hingegen wie ich die Schweizer im Alltag erlebte. Ich war begeistert, dass dieses Volk so diszipliniert war. Der Abfall zum Beispiel wurde sortiert und zwischen Plastik, Papier und Grünabfuhr wurde sorgfältig getrennt. Die Flaschen wurden sogar nach Farbe sortiert.
Das Essen schmeckte gut, aber für mich war es zu viel. Anschliessend gab es noch ein Dessert. In meinem Bauch hatte es keinen Platz mehr. Wenn ich gewusst hätte, dass es mehrere Gänge gab, hätte ich am Anfang nicht so viel gegessen.
Sobald das Dessert kam, begann meine Frau von unseren Ferien in Java bei meiner Familie zu erzählen. Wir besuchten Verwandte von mir, die noch unter einem Dach mit Haustieren lebten. Als wir dort waren, fanden wir junge Ziegen in der Küche. Meine Frau war begeistert und nahm eine auf den Arm. Sie küsste die junge Ziege mehrmals. Mein Bruder sagte entsetzt: "Nachdem sie die junge Ziege küsst, küsst sie dich." Meine Verwandten amüsierten sich darüber sehr. Später legte meine Frau das Zicklein auf ein einfaches Bett, leider fiel es runter. Meine Frau versuchte es unter dem Bett hervor zu holen. Plötzlich kamen zehn junge Enten mit ihrer Mutter unter dem Bett hervor. Meine Frau war überglücklich. Sie trug ein paar junge Enten hin und her und genoss dieses Erlebnis sehr.
Unterdessen war das Dessert langsam fertig, aber meine Schwiegereltern hatten die Geschichte von meiner Frau nicht richtig verstanden. Mir ging durch den Kopf, dass die Welt, die ich in der Schweiz erlebte wirklich sehr unterschiedlich war von meiner gewohnten Umgebung in Indonesien und je weiter entfernt man voneinander lebt, um so weniger versteht man sich.
Nach dem Essen, wechselten wir den Platz und setzten uns vor den Christbaum. Ich sass auf dem Boden an die Knie meiner Frau gelehnt. Jede/r bekam ein Gesangbuch. Meine Schwägerin spielte die Dirigentin und wir sangen gemeinsam Weihnachtslieder auf Deutsch. Ich versuchte mitzusingen, obwohl ich die Lieder nicht kannte. In einem Lied sangen wir Halleluja und unser kleiner Chor beendete den Gesang mit einem mir bekannten Lied, nämlich Jingle Bell. Das Singen machte uns allen Spass.
Ein paar Minuten danach kam für mich eine grosse Überraschung, unzählige Geschenke wurden nämlich ausgetauscht und ausgepackt. Meine Schwiegereltern schenkten mir ein Thermometer-Glas von Galileo Galilei, vielleicht weil ich einmal bei einer anderen Gelegenheit über dieses Thermometer geredet hatte. Von meiner Schwägerin bekam ich eine riesige rote Schweizerfahne. Ich freute mich sehr über beide Geschenke. Für mich war es wie ein Traum, dass ich über Dinge redete und diese Wünsche später erfüllt wurden. Ich versuchte mich zu erinnern, wann ich über die Fahne gesprochen hatte. Bei klarem Wetter spazierten wir einmal am Ufer des Genfersees und ich begeisterte mich für eine rote Schweizerfahne, welche mit dem blauen Himmel im Hintergrund ziemlich imposant wirkte. Ich sagte damals, wenn ich eine solche Fahne hätte, würde ich sie in meinem Dorf in Java aufhängen. Meine Schwägerin hatte dies aufgeschnappt. Ich hatte diese Episode schon lange vergessen und mir wurde bewusst, dass die Schweiz ein Land ist in welchem Träume wahr werden. Bei uns in Indonesien hingegen bleibt ein Traum meistens ein Traum. Jede/r ist beschäftigt mit seinem eigenen täglichen Überlebenskampf. Ein Geschenk hat in armen Ländern wie Indonesien normalerweise einen anderen Werte als hier, man schenkt eher einen Gebrauchsgegenstand für den Alltag wie z.B. einen Sarong, ein Hemd, Sandalen, Reis, Zucker oder Kaffe. In der Schweiz, wo die Menschen genug zu essen haben, ist ein Geschenk ein Andenken oder ein Dekorationsgegenstand.
Schlussendlich schenkte ich mein Vogelhaus meiner Schwiegermutter. Sie bedankte sich und sagte, es sei ein richtige Vogelpalast und viel zu schade für den Garten, er werde einen Ehrenplatz in der Wohnung erhalten. Auf der Rückseite des Vogelhauses hatte ich "Toilette" angeschrieben. "Braucht ein Vogel eine Toilette?" fragte meine Schwägerin.
Ich wurde von den vielen neuen Eindrücken langsam schläfrig. Zusätzlich hatten wir Rotwein getrunken, welcher für mich ungewohnt war und meinen Kopf schwer machte. Ich begab mich ca. um Mitternacht ins Bett.
Am nächsten Morgen ging die ganze Familie zu Fuss zum Friedhof. Meine Schwägerin brachte ein "Mailänderli" mit und legte es auf das Grab ihres verstorbenen Grossvaters (es war früher sein "Lieblingsguezli"). In diesem Moment gingen meine Gedanken zurück zu meiner Mutter nach Java, welche einmal pro Monat eine Tasse Kaffe ins Zimmer meines verstorbenen Vaters hingestellt hatte. In Indonesien glaubt man daran, dass die Geister der Toten oft ihre Familie besuchen.
Gegen Mittag rief mich meine Schwiegermutter vom zweiten Stock. Ich ging schnell zu ihr. Sie betrachtete ein paar alte Puppen und zog ihnen nacheinander die Puppenschuhe aus. Schlussendlich waren fünf Puppen und Marionette aus China, Prag und Deutschland barfuss.
"Wie viele Puppen hast du?" fragte ich.
Ihre beiden Augen waren ein wenig geschlossen und ihre linke Hand lag auf ihrem Po, dann antwortete sie: "Ich habe achtzig Puppen."
Ich schüttelte verwundert meinen Kopf.
"Kannst du mir in Bali ein paar Puppenschuhe bestellen?" fragte meine Schwiegermutter. Ich verstand fast kein Wort, doch bevor ich noch etwas fragen konnte, fuhr sie weiter: "Ich werde sehr gut bezahlen, aber die Qualität muss unbedingt gut sein."
Acht Monate später gingen meine Frau und ich nach Bali. Die Bestellung meiner Schwiegermutter hatte für mich erste Priorität. Schon am ersten Tag suchte ich Lederjackengeschäfte in Kuta auf. Leider lehnten alle ab und empfahlen mir zu einem Schuhmacher zu gehen. Ich befolgte ihren Ratschlag und ging weiter zu einem Schuhmacher mit dem Namen "Mr.Bali". Ein junger Mann mit Tätowierung auf beiden Armen sass vor dem Geschäft und fragte: "Wie viele tausend Exemplare bestellen Sie?"
"Ich bestelle nicht tausend, sondern nur 18 Paare", antwortete ich.
"Das ist nicht möglich, ich führe nur grosse Bestellungen aus. Letztes Jahr schickte ich z.B. 2000 kleine Schuhe für Schlusselanhänger nach Frankreich."
"Tut mir leid, ich bin kein Kaufmann, das ist die Bestellung von meiner Schwiegermutter. Die Schuhe ihrer Puppen sind defekt", sagte ich entmutigt.
Ich war frustriert von meiner bisher erfolglosen Suche und fuhr weiter mit dem Motorrad durch kleine und schmutzige Gassen. Neben einem alten Tempel sah ich plötzlich ein Schuhmacherschild "Tukang Sepatu". Der Besitzer war ein älterer Mann, der nur kurze Hosen trug und sympathisch lachte. Er war bereit meine Bestellung auszuführen. Ich hatte ein Paar Puppenschuhe aus der Schweiz als Muster mitgebracht. Er begutachtete dieses Muster genau und sagte dann knapp: "Ein Paar kostet 25.000 Rupien." Ich kalkulierte, das waren ca. SFr. 4.-. Ich fragte mich, wieso Puppenschuhe teurer waren als Schuhe für indonesische Kinder. Zuerst wollte ich eigentlich den Preis herunterhandeln wie es bei uns üblich ist. Aber dann sah ich die ärmliche Umgebung. Der Mann war barfuss und sein ganzer Körper war schmutzig. Eine hochschwangere Frau stand hinter ihm, vermutlich war es seine Frau. Er arbeitete in einem düsteren Raum mit einem Dutzend junger Leute. Trotz ihrer unangenehmen Arbeitsbedingungen konnten sie noch lachen. Dieses Elend verbot es mir zu handeln.
Als meine Frau und ich wieder in die Schweiz zurückkehrten, brachten wir die neuen Puppenschuhe mit. Eines Tages luden uns meine Schwiegereltern zum Mittagessen ein. Ich sah, dass mehrere Puppen neue Schuhe trugen. Ich bildete mir ein, dass sie mir zuwinkten und sich bedankten.
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