Beiträge von Hermeneutiker

    Ich verlinke hier einen Artikel auf akademia.edu, der etwas zu lang für dieses Forum ist und der einen Briefwechsel Fontanes mit seinem Schriftstellerkollegen Spielhagen über den gemeinsamen Stoff der 'Effi Briest' bespricht. Nicht sllein ist bereits der Ton dieses Austauschs eminent esoterisch, erst recht aber sind es die notwendigen Schlussfolgerungen. Sollten schon lange bekannt sein, sozusagen ein alter Hut. Vielleicht habe nur i c h bislang davon nichts gehört. Ist übrigens ein empirischer Beleg für Schillers von ihm selbst ohnedies schon hervorragend gut begründete ästhetische Theorie.

    https://www.academia.edu/12207…odor_Fontanes_Effi_Briest

    Zum Bahnwärter (sowie dessen Zusammenhang mit Goethes Erlkönig und Büchners Woyzeck-Fragment) habe ich einen Artikel auf RUBIKON veröffentlicht: Der blinde Fleck. Eine kurze Literaturgeschichte des sexuellen Missbrauchs. Ich hänge diesen Artikel hier als Datei an.

    Professorin Sändig (Potsdam) bemerkt zu meiner Analyse:


    "Ich habe Ihre Arbeit mit Interesse gelesen und möchte dazu Folgendes sagen: Das Rätselhafte und Interessante des Etranger liegt eben der Vieldeutigkeit dieser knappen, klaren Erzählung; viele Deutungsmöglichkeiten bieten sich an und sind durchexerziert worden. Dabei wurde auch das Motiv der Sonne (wie könnte es anders sein) schon angeführt, auch das Inzesthafte. Ich meinerseits habe mich an eine – unvollständige wie jede andere auch – Erklärung aus dem kolonialen Kontext heraus gehalten: das Leben eines „arabe“ ist halt so wenig wert, dass dieses Opfer in der Verhandlung fast keine Rolle spielt. Die eindeutige, alles erklärende Deutung gibt es meiner Meinung nach nicht. Das eben macht den Reiz dieses Camus-Werkes aus. Schön, dass es auch Sie dazu angeregt hat."


    Meine Antwort:


    Schön, dass schon "durchexerziert" worden ist, nur hat sich das wohl noch nicht überall herumgesprochen und Prof. Sändig verrät auch nicht, von wem. Selbstverständlich ist jedes bedeutsamere Werk irgendwie vieldeutig, tatsächlich stellen die von mir markierten Motive (vier Schläge an das Tor des Unheils, nicht fünf usw.) aber so etwas wie einen roten Faden dar, an dem man nicht vorbeikommt. Letztendlich wirkt diese akademische Reaktion auf mich wie ein Abwiegeln, ist scheinbar eh beliebig, was in einem Text genau drinsteht. Nur "Wissenschaft" sollte man das nicht nennen.


    Ergänzung:


    Die Langfassung meines Textes (auf Französisch bei BoD und in Lichtungen 110, Graz) war ursprünglich wirklich als Satire angelegt. Dort spricht der Detektiv, den Camus sozusagen ausgelassen hat. Der Fremde kann ja tatsächlich als Kriminalfall gelesen werden: Wir haben einen Mord, die Mordwaffe und den Taeter, nur eben kein Motiv.


    In einem Krimi kann an dem Unterschied zwischen vier oder fünf Schüssen u.U. ein ganzer Fall festgemacht werden. In diesem Genre regiert die kriminalistische Logik, der Held der intellektuellen Arbeit ist der Detektiv, die höhere Instanz ist die Gerechtigkeit bzw. die innere Logik eines Falles.


    Ich habe mir also vorgestellt, ein fiktiver Detektiv liest vor seinem Kamin bei einer Tasse Tee Camus Etranger. Als es um die Tatumstände geht, den tödlichen ersten Schuss, das Zögern und die vier weiteren, anscheinend völlig überflüssigen Schüsse stutzt er. Er wittert ein Geheimnis. Auch Camus fiktiver Untersuchungsrichter reagiert entsprechend. Er spielt diesen - wörtlich - "dunklen Punkt" (und zwar den einzigen seiner Meinung nach!) so hoch, wie es überhaupt nur geht, bis zur absoluten Sinnfrage. Nur ... der Leser weiß mehr, vor allem dass der Täter kurz nach der Tat von den "viere kurzen Schlägen an das Tor des Unheils" spricht. Vier oder fünf Schüsse: das könnte vielleicht nebensächlich sein, obwohl das bei einem Text dieser Qualität nicht sehr wahrscheinlich ist. Aber es geht eben nicht nur um vier oder fünf Schüsse, sondern um schicksalhafte Schläge an ein schicksalhaftes Tor. Und zwar vier, nicht fünf. In dem Unterschied liegt das ganze Drama. Es sind die letzten Worte des ersten Abschnitts, die Metapher vom "Tor des Unheils" hat eine (zunächst unterschwellige) Reichweite, die die ganze Klasse dieses durchdringenden Textes veranschaulicht.


    Je länger der Detektiv liest, umso mehr verdichtet sich das Bild. Insbesondere auch durch solche Aussagen Meursaults wie: "Alle gesunden Menschen wünschen sich mehr oder weniger den Tod derer, die sie lieben." Selbstverständlich stellt sich hier die dringende Frage, was der Täter mit "gesund" und "lieben" meint. Unter welcher Voraussetzung könnte vergleichsweise "gesund" sein, jemanden, der einen liebt, lieber zu töten, als diese Liebe zuzulassen? Wie sähe solch eine fatale Liebe wohl aus? Letztendlich läuft das alles in besagter Metapher vom "Tor des Unheils" zusammen. Zu ergänzen ist der - wörtlich - "dunkle Rausch".


    Mein Detektiv ist wie gesagt nicht der Ansicht, dass das Auslegungssache ist, sondern, sozusagen, berufsspezifische Logik. Freilich sollen damit weitere Bedeutungsebenen nicht ausgeschlossen werden. Um Gottes Willen, nein. Unter er verlangt auch nicht, dass man ihm zuhört. Er will auch keine Analysen von Harmonielehre, Kompositionstechniken, Kontrapunkt und Sonatenhauptsatzform vorgesetzt bekommen, wenn er Musik genießt. Trotzdem hält er sie nicht für Blödsinn.

    Schillers "Briefe", zunächst als sogenannte "Augustenburger Briefe" an den Erbprinzen Friedrich Christian von Augustenburg als Dank für eine dreijährige finanzielle Unterstützung gerichtet und nach deren Verlust durch einen Schlossbrand stark überarbeitet in den Horen veröffentlicht, wollen "das Schöne und die Kunst" theoretisch untersuchen. Ursprünglich beabsichtigte Schiller dort weitermachen, wo Kant resigniert hatte: das Schöne aus dem Begriff der (praktischen) Vernunft abzuleiten. In den dann von ihm veröffentlichten "Briefen" lässt Schiller Kants Begrifflichkeit dann hinter sich und entwickelt seine eigene Form. Schiller ist in erster Linie Dramatiker. D.h. seine Kreativität entfaltet hauptsächlich dramaturgisch und dialogisch. Man sollte daher darauf achten, dass er seine Ausführungen inszeniert und dabei eine bühnenmäßige Dialektik einsetzt. Meines Erachtens sind die spektakulären Gedankengänge Schillers noch kaum erschlossen. Diese Ausführungen sind ein Versuch, einiges davon vorzustellen.


    Zu Brief 1
    Auch wenn Schiller sich auf Kant beruft, so legt er Wert darauf, als selbstständiger Denker wahrgenommen zu werden, so wie er auch die intellektuelle Selbstständigkeit seines Adressaten respektiert und schätzt. Denn das Verhältnis des Dichters zu dem Philosophen ist durchaus ambivalent. Die Philosophie dient als Hilfswissenschaft, um die Schönheit theoretisch zu beleuchten, tatsächlich aber zerstört sie dabei ihren Gegenstand. Anders ausgedrückt entzieht sich das Ästhetische als der Erscheinung und dem Sinnlichen verhaftetes Phänomen der eindeutigen begrifflichen Fixierung. Interessant ist die Frage, warum Schiller trotzdem diese theoretische Anstrengung unternimmt. Eins aber ist klar: Wenn jemand dazu berufen ist, sich hier zu Wort zu melden, dann der Künstler, d.h. Schiller, eher als der Philosoph, Kant.


    [Wer einigermaßen mit Panajotis Kondylis' Die Aufklärung im Rahmen des neuzeitlichen Rationalismus vertaut ist (vgl. http://blog.litteratur.ch/WordPress/?p=7162), der registriert, dass Schiller gegen Kant im 1. Brief eine genuin europäisch-aufklärerische Position hinsichtlich der Aufwertung der Natur und eines mystischen ("geheimnisvollen") "Bundes der Elemente" im Bereich der Schönheit vertritt, während für Kant die menschliche Natur einen durchaus negativen, vernunftunzugänglichen Status (ganz im Sinne des traditionellen, voraufklärerischen Dualismus) einnimmt. Diplomatisch ausgedrückt interpretiert Schiller Kant um, faktisch zieht er ihm den Boden unter den Füßen weg, auch wenn er mit Kants ethischen Prämissen übereinstimmt. Grob ausgedrückt inszeniert Schiller einen dramatischen Dialog zwischen Kants (bzw. auch dem klassischen platonischen usw.) Dualismus (Vernunft bzw. Verstand vs. Sinnlichkeit) und dem optimistischen Monismus der Aufklärung (Rehabilitierung der Sinnlichkeit), um Kunst und Künstler und sich selbst in dieser Auseinandersetzung zu verorten.]

    Büchners Woyzeck und Camus‘ Fremder folgen merkwürdigerweise einem ähnlichen Schema und ihre nachhaltige Rätselhaftigkeit ist vielleicht rätselhafter ist als die in ihnen abgehandelten Morde selbst. Im Fremden erschießt die Hauptfigur Meursault einen ihm unbekannten Algerier in der Nachmittagshitze eines nordafrikanischen Mittelmeerstrandes, während Büchners Woyzeck eine Geliebte mit dem Messer massakriert, die sich nicht mehr hat zuschulden kommen lassen als einen Seitensprung, wobei ihre Beziehung zum Täter noch nicht einmal klar definiert ist und Büchners Moralvorstellungen ansonsten alles andere als zimperlich sind.


    Beide Morde werfen also gravierende ethische Fragen auf, die bis heute ungeklärt sind, so dass sich die Interpretation damit äußerst schwer tut. Da andererseits die Verweigerung von Sinn gewissermaßen zum Wesen der Moderne gehört, hat sich der Kulturbetrieb mit der scheinbaren Unlösbarkeit beider Fälle arrangiert und im einen Fall das Absurde, im anderen einen nachvollziehbaren, wenn nicht berechtigten Ausraster aus sozialer Deprivation dafür verantwortlich gemacht. Und man hat sich in diesen Erklärungsansätzen behaglich eingerichtet, allerdings mit problematischen Konsequenzen, die denjenigen, die sich Institutionen auf einem nachgewiesenen Holzweg gegenübersehen, nicht unähnlich sind: Man sträubt sich mit Händen und Füßen gegen jede auch noch so begründete Richtungsänderung, weil selbige jahre- bzw. jahrzehntelange Irrtümer zwangsläufig und peinlichst offensichtlich machen würde.


    Vor fast 10 Jahren habe ich spaßeshalber einen Detektiv auf Camus' Fall Meursault angesetzt, der sehr schnell das Motiv für die Schüsse auf den armen, unschuldigen Algerier herausfand. Der Essay wurde in der in Graz erscheinenden Literaturzeitschrift Lichtungen (110) publiziert, freilich ohne nennenswerte Aufmerksamkeit hervorzurufen. Interessanterweise war die Voraussetzung für diesen Ermittlungserfolg eine brisante Hypothese in Bezug auf das Mordmotiv im Fall Woyzeck.


    Warum weder die Literaturwissenschaft noch der Kulturbetrieb mit Theatern, Literaturkritikern usw. eine fast simpel zu nennende detektivische Untersuchung einer fiktiven Mordgeschichte nicht hinbekommt, gehört zu den Fragen, die zu stellen wohl kaum zu vermeiden sein wird.


    Wir sind im Handumdrehen bei dem springenden Punkt. Die Geschichte teilt sich ganz ausdrücklich in zwei Abschnitte. Erstens: die Tat mit ihrer Vorgeschichte. Zweitens: Verhaftung, Untersuchung und Prozess. Dabei scheint merkwürdig, dass der Prozess sich überaus intensiv mit der Beerdigung der kurz vor dem Mord im Altersheim verstorbenen Mutter des Täters und seiner Beziehung zu ihr befasst. Als Zeugen werden unter anderem der Direktor und Pförtner des Altersheims sowie ein alter Mann aufgerufen, der mit der Mutter im Heim war. Der Angeklagte wird gefragt, warum er seine Mutter ins Heim gab. Lang und breit werden die Beerdigung und das Verhalten des Täters danach erörtert. Offensichtlich will die Anklage den Charakter des Täters anschwärzen und das Verfahren scheint so üblich und plausibel, dass es uns auf eine falsche Fährte lockt. Meursault habe nicht nur bei der Beerdigung seiner Mutter mehr oder weniger unbeteiligt, ja gefühllos gewirkt (und er tut das übrigens auch beim Erzählen), sondern sich auch kurz danach mit einer Freundin am Strand vergnügt. Meursault habe den Algerier umgebracht, heißt es, weil er seine moralische Schuld der Mutter gegenüber kaschieren wolle. Denn der Mord ereignet sich so offensichtlich zufällig und grundlos, dass das Gericht nicht daran vorbeikommt, sozusagen im Wasser Linien zu ziehen und Haare zu spalten. Irgendwie tut einem der Franzose direkt leid. Diesen Prozess hat er nicht verdient. Dabei vergisst man leicht, dass er den Algerier auf dem Gewissen hat. Wir haben Mitgefühl mit dem Mörder.


    Während das Publikum, einschließlich der Profis, sich über die Implikationen der Geschichte, das Existenzielle, Absurde usw., den Kopf zerbricht, nimmt mein Detektiv die Details unter die Lupe: Meursault gibt fünf Schüsse auf sein Opfer ab. Anscheinend ist dieses bereits nach dem ersten Schuss tot. Trotzdem schießt Meursault noch vier Mal. Warum diese vier Schüsse, fragt der Untersuchungsrichter? Mit dieser Frage trifft er den Nagel auf den Kopf, und der Text lässt keinen Zweifel an ihrer Bedeutung. Freilich kommt der Richter anschließend auf Gott und die Sinnfrage zu sprechen und lenkt damit vom Thema ab. Nur den Detektiv führt er nicht an der Nase herum. Die Pause nach dem ersten Schuss elektrisiert ihn, sein Instinkt sagt ihm: Hier liegt der Schlüssel.


    Kurz darauf hat er die Lösung. Ihm fällt auf, dass der Täter offenbar registriert, dass sein Opfer nach dem ersten Schuss leblos ist. Meursault stellt das aus der Distanz fest. Damit haben wir das entscheidende Indiz, das der Detektiv nun unter die Lupe nimmt. Denn normalerweise würden wir nach dem ersten Schuss zwei Reaktionen erwarten, nur nicht die von Meursault. Entweder nämlich handelt der Täter im Affekt, warum auch immer, dann würden die weiteren Schüsse unmittelbar folgen. Oder aber er zögert: Dann schaut er sich das wehrlose Opfer aus der Nähe an, um dessen Zustand genau beurteilen zu können. Meursault registriert den Tod des Opfers, zögert und gibt dann vier weitere Schüsse ab. Diese Handlungsweise ist so ungewöhnlich und auffallend, dass der Untersuchungsrichter geradezu über sie stolpert. Anders ausgedrückt, legt Camus hier eine Spur. Meursaults vier Schüsse gelten genau genommen der Leiche. Genauer gesagt, einer Leiche. Das ist weniger absurd, als es auf den ersten Blick aussieht. Denn als der Detektiv das Rätsel der vier Schüsse nach dem Zögern gelöst hat, wird ihm auch klar, warum der erste Schuss fallen muss: Ganz einfach, um für diese Leiche zu sorgen, auf die Meursault dann vier Mal schießen kann. „Vier kurze Schläge an das Tor des Unheils“, heißt es in dem Text. Vier! Der erste spielt in diesem Zusammenhang keine Rolle! Das Motiv liegt in dem Wunsch, auf eine Leiche zu ballern.


    Von einer Leiche war aber schon im ersten Teil der Geschichte die Rede: Meursaults Mutter, er nennt sie durchgehend „Mama“. Ist der Leser erst einmal so weit gekommen, bestätigt der Text diese Hypothese umgehend. Hitze, Sand usw., die laut Meursault entscheidenden Tatumstände, werden mit der Beerdigung in einen direkten Zusammenhang gestellt. Meursault schießt auf seine Mutter. Tat, Prozess und der scheinbar absurde implizite Vorwurf (Muttermord) hängen logisch zusammen.


    Nun bleibt nur noch die – allerdings entscheidende – Frage: Warum dieser partiell symbolische Muttermord, der immerhin ein unschuldiges Opfer erfordert? In der Zelle findet der Täter einen Zeitungsausschnitt (ein geradezu klassisches Indiz!), der den Plot eines anderen Camus-Dramas (Das Missverständnis) enthält: Eine Mutter bringt (unwissentlich) ihren Sohn um. Das heißt, sie bringt aus Habgier jemanden um, der sich dann als ihr Sohn herausstellt.


    Solch eine Binnengeschichte wird nicht zufällig, nicht ohne Grund erzählt. Vor allem nicht, wenn sie so konstruiert daherkommt. Sie ist vielmehr ein Schritt in Richtung Erkenntnis. In der Abgeschiedenheit und Stille der Zelle meldet sich sozusagen Meursaults Erinnerung. Da gibt es eine Mutter, die ihren Sohn vernichtet, weil sie ihn nicht als solchen erkennt und als Fremden behandelt. Vor Gericht sagt Meursault: „Alle gesunden Menschen wünschen mehr oder weniger den Tod derer, die sie liebten.“
    Er wünscht also tatsächlich den Tod seiner Mutter. Freilich klingt diese Aussage auf den ersten Blick etwas merkwürdig. Was meint Meursault damit?


    Jetzt muss der Detektiv kombinieren. Meursault redet in diesem Punkt etwas um den heißen Brei herum, was freilich verständlich ist. Aber er hat ein Thema, das sich wie besessen durch die ganze Geschichte zieht. Er liebt Sonne und Meer, aber er fühlt sich von der Sonne bzw. ihrer Hitze vergewaltigt. Meer heißt auf Französisch la mer . Mutter la mère. Beide klingen absolut identisch. Der Mord findet am Meer statt und die Geschichte beginnt mit dem Tod der mère, bei dem auch eine infernalische Hitze eine Rolle spielt. Typisch für die Geschichte ist, dass Meursault in der Verhandlung einen Knaller loslässt, den aber keiner zur Kenntnis nimmt, weder das Gericht noch das Publikum. Meursault sagt: „Schuld an allem hätte die Sonne.“ Er wird sogar noch deutlicher: "


    „Die Hitze legte sich mit ihrem ganzen Gewicht auf mich und stemmte sich mir entgegen. Und jedes Mal, wenn ich ihren heißen Atem auf dem Gesicht fühlte, biss ich die Zähne aufeinander, ballte die Fäuste (…) und spannte mich, um über die Sonne und den dunklen Rausch, den sie über mich ergoss, zu triumphieren.“


    Meursaults Aussage klingt tatsächlich wie das Erlebnis einer Vergewaltigung. Durch die Sonne. Warum schießt Meursault dann aber auf die Mutter und wünscht sich ihren Tod? Wenn sie ihn geliebt hat, wie die Sonne, und wenn Meursault sie so zurückgeliebt hat, dann müsste die Aussage so verstanden werden:


    „Mutter legte sich mit ihrem ganzen Gewicht auf mich und stemmte sich mir entgegen. Und jedes Mal, wenn ich ihren heißen Atem auf dem Gesicht fühlte, biss ich die Zähne aufeinander, ballte die Fäuste (…) und spannte mich, um über die Mutter und den dunklen Rausch, den sie über mich ergoss, zu triumphieren.“


    Der dunkle Rausch ist der Beweis, dass man hier tatsächlich Mutter oder, wie Meursault sagt, Mama lesen sollte, denn auf sie ist er gemünzt. In Nordafrika ist die meteorologische Hitze eine Trivialität, das weiß auch Camus. Seine Erzählung beschreibt nicht nur einen psychischen Ausnahmezustand präzise, sondern bringt auch das Kunststück fertig, die Sprachlosigkeit zu gestalten, die mit dem Syndrom des sexuellen Missbrauchs durch einen Elternteil unausweichlich verbunden ist.


    Diese detektivische Untersuchung ist noch keine Interpretation, sondern nur deren Voraussetzung. Hat diese Geschichte eine autobiografische Ursache? Was erzählt sie denjenigen, die unter keinem ausgeprägten Mutterkomplex leiden? Eignet Sonne, Hitze, Meer, diesen Motoren eines merkwürdig unterkühlten wie unkontrollierbaren Affektes, eine umfassende symbolische Bedeutung? Dafür sprechen nicht zuletzt die glasklare Sprache dieser Erzählung und ihre durchschlagende Wirkung.

    Wahrscheinlich werden Axel Hackes Tage mit dem "alten Herrn" die Spiegel-Bestsellerliste hinaufklimmen. Spectatoribus quod spectatores decet. Dabei ist das schmale Büchlein nicht nur philosophisch strunzdumm, etwas differenzierter ausgedrückt fehlt ihm jeglicher Einblick in das, was bereits früher über Gott und die Welt nachgedacht wurde, es ist vor allem auch grottenschlecht erzählt. Das fängt schon mit dem des Öfteren eingestreuten Eigenlob an. Das dazu noch völlig deplatziert ist. Auch ein „Großmeister der Kolumne“ schwitzt sich nicht zwangsläufig literararische Qualität aus den Rippen, insbesondere wenn ihm zu einer Geschichte nichts einfällt. Laut Selbstauskunft hat Axel Hacke das ganze seinen Kindern am Bett erzählt. Dort hätte es auch bleiben sollen.
    Ausführlicher: "Einschlafgeschichten. Nicht alles, was Axel Hacke seinen Kindern am Bett erzählt, ist es wert, weitererzählt zu werden." Nachzulesen auf: http://literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_id=22609

    Die Erbsendiät ist im Woyzeck nicht mehr als ein Nebenmotiv, entgegen dem, was die Büchner-Rezeption daraus macht. Beweis: Auf der ersten Entwurfsstufe gibt es sie noch nicht, also auch keinen Doktor (und keinen Hauptmann). Woyzecks Symptome sind indes im Wesentlichen bereits voll ausgestaltet (Stimme aus dem Boden), der vorsätzliche Mord an der weiblichen Hauptfigur (Margreth Woyzeck!) auch. Woher Woyzecks Wahnsinn stammt? Kann man auf Youtube

    oder Vimeo
    anschauen. Und gerne auch kommentieren. :klatschen:

    Ich kenne diese Ausgabe leider nicht bzw. konnte sie noch nicht benutzen. Von Ariane Martin, der Herausgeberin, ist mir indes der Büchner-Kommentar bei Reclam (UB 17670, aus 2007) bekannt, es ist das Übliche. Hinsichtlich des Woyzeck-Fragments taugt, wenn man es genau will, überhaupt nur eine Faksimile-Edition mit Übertragung. Dedners konventionelle Studienausgabe der kleinen "Gelben" ist gar nicht einmal so übel, mit den erwähnten Einschränkungen, die für alle Übertragungen, mit Ausnahme der von De Angelis gelten. Will man das, was Büchner verfasste, in seinen Grundgedanken verstehen, kommt man um meine Entschlüsselungen nicht herum; dass das so ist, ist indes weniger mein Verdienst, sondern einer defizitären und bornierten Büchner-Forschung zu verdanken. (Vgl. Webseite)

    Ja, in der Tat habe ich das Buch "Georg Büchner. Dichter, Spötter, Rätselsteller" im Passagen Verlag, Wien geschrieben, nachdem meine Funde und die von mir gezogenen Schlussfolgerungen seitens der Büchner-Forschung, und zwar unisono, zurückgewiesen wurden. Ich habe die Korrespondenz auf der genannten Website dokumentiert.
    Ich benutze sowohl Poschmanns Ausgabe im Deutschen Klassiker Verlag, die einige Woyzeck-Passagen nur im Kommentarteil wiedergibt, als auch den "Woyzeck" von Dedner bei Reclam (Studien Ausgabe), Büchners "Danton", "Lenz" und "Leonce und Lena" sind überall editorisch gesehen unproblematisch. Die Kommentare kann man partiell vergessen, und zwar ausgerechnet dort, wo es wichtig wird. Trauen kann man im Falle des Woyzeck-Fragments nur De Angelis bei SAUR, aber wenn man mit offenen Augen liest imf Detektiv spielt, dann sieht man auch bei den zu kritisierenden Editionen. worauf Büchner hinaus will. Ein Beispiel: der Narr spricht im Maries Gebetsszene in seiner Märchensprache von "Blutwurst" und "Leberwurst". was das bedeutet, sollte man aus dem Kontext erschließen können. Die Büchner-Forschung (vgl. Poschmanns wie auch Dedners Kommentare) kapituliert hier. Das ist schon kurios und nur noch als massives Brett vor dem Kopf zu beschreiben.

    Anders als bei den Neuerscheinungen zum Kleistjahr 2011 findet man bislang in den Buchhandlungen vergeblich irgend etwas Populäres zu Georg Büchner. Biografien über Georg Büchner in den Publikumsverlagen? Fehlanzeige. Der 175. Todestag war am 19. Februar diesen Jahres, der 200. Geburtstag datiert am 17. Oktober 2013, dann ist es etwas spät, um damit auf den Markt zu kommen. Zudem gibt es außer Schullektüre und wissenschaftlicher Spezialliteratur - die allerdings in den letzten Jahren einige Neuerscheinungen verzeichnete - nichts annähernd Neues. Diese Sterilität des Kulturbetriebs, der ansonsten keine Gelegenheit auslässt, sich zu artikulieren, dürfte einen Grund haben. Unsere Perspektive auf Georg Büchner wird dogmatisch durch dessen Stilisierung als Sozialrevolutionär, durch Sozialstatistiken und die entsprechenden politisch-sozialen Diskurse sowie die historischen Vorlagen seiner Figuren geprägt, allenthalben wird die Parole "Friede den Hütten! Krieg den Palästen!" nachgeplappert, obwohl Büchners literarische Werke damitnicht im Mindesten auf den Begriff zu bringen sind. Kein Friede in der Hütte, kein Krieg im Palast. Möglicherweise wird sogar der >Hessische Landbote< damit nur unzureichend wahrgenommen. Die nachträgliche Bearbeitung des Woyzeck-Fragments ist zwar unabdingbar, will man den >Woyzeck< lesen oder aufführen, führt aber dazu, dass man nicht Büchner, sondern sich selbst interpretiert. Die Büchner-Rezeption scheint in einer Sackgasse. Worin aber gründet sich Büchners obszöner Zynismus, sein maßloser Hass? Danach wird nicht wirklich gefragt. Die Antwort könnte am Bild des Dichter-Revolutionärs kratzen, dagegen dem Dichter und dem Menschen Georg Büchner zugute kommen.
    Mehr Informationen: http://georg-buechner.net

    Nabokov zitiert in der Reinszenierung des Schöpfungsmythos durch den Geschwisterinzest in "Ada oder Das Verlangen" die von mir genannte Passage aus Melvilles "Pierre oder Die Doppeldeutigkeiten" Letzteres nebenbei bemerkt ein ziemlich furchtbares Geschwalle. Man sieht schon die Anspielung im Titel, wobei schon der "Pierre" stark parodierend vorgeht, alles zusammen quasi ein monumentaler Intertextualitäts-Inzest + Ironie. (Vgl. Ada-online aus Auckland) Erstaunlich, dass wir in Bezug auf Büchner und Camus entschlüsselungsmäßig so extrem hinterherhinken. (Vgl. meine Links zu Vorstellung: "Wyozeck" bzw. Rezension: "Der Fremde".)
    Mittlerweile wird mir klar, dass es sich bei den letzteren Werken (ansatzweise auch im "Hamlet" und "Don Carlos" im Gegensatz zu der patriarchalischen Idealisierung des (Geschwister)Izests um die Dramatisierung (des Mutter-Sohn-Inzests) mit abschließendem Ritualmord handelt. Vermutlich wäre auch Hauptmanns "Bahnwärter Thiel" hier einzuordnen.

    Dank an Gronauer (und auch die anderen Rückmeldungen),
    Melvilles "Pierre" enthält eine auktoriale (positive, mythische) Deutung des Inzestmotivs (XXV.V):
    "Der alte Titan war der im Inzest gezeugte Sohn von Coelus und Terra, der im Inzest gezeugte Sohn von Himmel und Erde. Und der Titan nahm seine Mutter Terra zum Weibe und so beging auch er ein zweites Mal Inzest. Ein Sproß dieser Verbindung war Enceladus. So war Enceladus gleichzeitig Sohn und Enkel eines Inzestes: und ganau so war der leiblichen Verschmelzung von Himmlischem und Irdischem in Pierre ein neuer, unbestimmter, zum Himmel strebender, aber noch nicht ganz von allem Irdischen befreiter Gemütszustand entsprungen, der wiederum in seinem irdischen Makel es mit seiner irdischen Mutter hielt und den gegenwärtgen, einen doppelten Inzest entstammenden Enceladus in ihm zeugte, so daß Pierres gegenwärtiger Gemütszustand - sein unbesonnen himmelstürmender Gemütszustand - dennoch nach einer Seite der Enkelsohn des Himmels war... Deshalb: wer den Himmel stürmt, bietet den besten Beweis, daß er von dorten kam!"
    ...Möglicherweise verwechselt die (patriarchalische) Idealisierung des Inzests das "Stürmen" des Himmels mit dem Verschlungen-Werden von der Großen Mutter (Terra)...

    Aktuell wären hier selbstverständlich auch "Die Wohlgesinnten" von Jonathan Littell" (mit der Schwester gezeugte Kinder + Muttermord) einzubeziehen. Heutzutage kann man die Codes entbehren, wobei möglicherweise die ästhetische Qualität durch Mehrdeutigkeit, d.h. Entrückung ins Unbewusste durch Symbole usw. gewinnt.

    Der Mond wird im Allgemeinen als Symbol für den matriarchalischen Geist angesehen und steht im Märchen überhaupt für das Mütterliche. Im Gegensatz dazu codiert in den von mir genannten Werken die Sonne die mütterliche Triebhaftigkeit.
    Mit Kanaldeckeln usw. kenne ich mich nicht aus, das überlasse ich scheichsbeutel.

    Danke für die produktiven Rückmeldungen und Anregungen. Ich möchte meine Anfrage aber noch einmal in Richtung auf eher harmlose Symbole erweitern, die durch den Kontext möglicherweise brisant modifiziert werden. Wie lest ihr das folgende Beispiel aus dem "Fremden"?


    "Ich... fühlte, wie mir die Stirn unter der Sonne anschwoll. Die Hitze legte sich mit ihrem ganzen Gewicht auf mich und stemmte sich mir entgegen. Und jedesmal wenn ich ihren heißen Atem auf dem Gesicht fühlte, biß ich die Zähne aufeinander... und spannte mich, um über die Sonne und den dunklen Rausch, den sie über mich ergoß, zu triumphieren."


    Kurz danach dann dieser Satz: "Es war dieselbe Sonne wie an dem Tag, an dem ich Mama beerdigte."


    Und dass in einem Text, in dem es fast nur um die Mama und ihre merkwürdige Beerdigung, sowie um die Hitze geht, dazu der (offene) Zusammenhang von Gewalt (Zuhälter, Schüsse) und Sex (Bestrafung beim Beischlaf) geht. Und all das zusammengequirlt. Ist meine Interpretation überzogen, die Kombination von Mama und Sonne sowie die erotische Implizität der Bilder absichtslose Poesie (die dann immerhin noch interpretationsrelevant wäre)? Warum wird diese Perspektive bislang überall übersehen?

    Danke für die Antwort und den Hinweis auf die mythische Ebene.
    Und - in der Tat: man muss aufpassen. Ich denke ein Kriterium ist, ob sich die Perspektive auf das Werk wie auch auf die eigene Person (das bekannte "Erkenne dich selbst") sich verengt, wie in dem >psychologischen Phänomen der Konzentration auf eine Farbe<, also ob man ausschließlich etwas hinein projiziert, (was immerhin auch wichtig wäre zu registrieren) oder ob sich der Blickwinkel erweitert. Wenn ich von einem Text zwischen den Zeilen ausgehe und die Symbole durchgängig und stimmig dafür sprechen, dann müsste eigentlich etwas dazu kommen. Wie in diesem Falle ja auch das Handwerk des Autors, seine Rhetorik als komplexer anzusehen wäre, also gewinnen würde. Ebenso wenn sich das Motiv für den Ritualmord usw. verdichtet. Oder einem Sachen auffallen, die man vorher überlesen hat (auch wenn man den stimmungsmäßigen Eindruck mitnimmt). Um nicht missverstanden zu werden: Meine "verdeckte Textebene(n)" sind dazu zu addieren, sie sollen keineswegs die gängige Interpretation und wörtliche Lesart bekämpfen.

    Beim dem "Fremden" von Camus sowie Büchners "Woyzeck" gibt es eine verdeckte Textebene, die das Thema Inzest beinhaltet. Beide benutzen erstaunlicherweise exakt den gleichen Code: "Sonne".
    Sonne = Mutter + Inzest.
    Die Übereinstimmung zwischen Camus und Büchner in diesem Punkt ist so offensichtlich, dass ich frage, ob der gleiche Code oder auch andre in weiteren Werken der Weltliteratur zu beobachten sind. Oder Abwandlungen. Beispielsweise spielt die Sonne und eine entsprechende Meteorologie in Max Frischs "Homo Faber" eine gewisse Rolle. Auch der "Bahnwärter Thiel" enthält um den Komplex der Misshandlung des Kindes durch die Mutter eigenartige erotische Anspielungen, die in Richtung Missbrauch deuten könnten.
    Arthur Schnitzlers "Frau Beate und ihr Sohn" bringt das Thema Inzest offen, auch hier spielt "die Sonne" fleißig mit.
    Alle genannten Werken mit verdeckter Inzestebene laufen auf eine Gewalttat hinaus, die Anzeichen eines Ritualmordes beinhalten,
    eines Blutopfers, dessen Hintergrund nie wirklich thematisiert wird. Besagte Texte suggerieren also eine Legitimität, die indes nicht reflektiert, geschweige denn problematisiert wird. D.h. der Bruch des Inzesttabus bleibt unbewusst.


    Wer kann über eigene Beobachtungen, Vermutungen, Assoziationen usw. berichten, über Motive, Symbole usw. in der Weltliteratur oder auch in nicht "kanonischen" Werken, die in den genannten Bereich gehören?


    Die Literaturwissenschaft hält sich in besagtem Punkt bislang vornehm zurück.


    Es ist bekannt, dass die Inzest-Thematik in der Literatur der Aufklärungszeit eine überragende Rolle spielt, Theodor Fontane teilt in "Vor dem Sturm" die Gattung Drama schlichtweg in Komödie sowie "Inzest und Gattenmord" ein. Und die häufigen Schlagzeilen (Fall Fritzl usw.) kennt jeder - unwahrscheinlich, dass früher sowas seltener vorgekommen sein soll (eher das Gegenteil) und dass die Autoren das nicht bearbeitet haben sollten. Zudem ist bekannt, dass gerade in patriarchalischen Familienverhältnissen die Mütter talentierter Schriftsteller zu ihren Kindern - oder umgekehrt - in einer tendenziell inzestuösen Beziehung standen (Proust, Stendhal), was nicht heißt, dass jedes mal Tabugrenzen überschritten wurden, aber die Sensibilität für die Problematik gegeben war.



    Rezension: "Der Fremde"
    http://literatur-community.de/…-albert-camus-der-fremde/?


    Vorstellung: "Woyzeck"
    http://literatur-community.de/klassiker/1717-georg-büchner-woyzeck/?


    Mit Grüßen und Dank für das Interesse und gegebenfalls Hinweise